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Rammstein: Machtmissbrauch, Gewalt – und die Chancen der Lindemann-Debatte


Der Fall Rammstein
Erzieht endlich eure Söhne

  • Susanne Litzka
MeinungVon Susanne Litzka

11.06.2023Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Till Lindemann: Der Rammstein-Frontsänger scheint sich einen Spaß aus den Missbrauchsvorwürfen zu machen.Vergrößern des Bildes
Till Lindemann: Der Rammstein-Frontsänger steht in der Kritik. (Quelle: IMAGO/Gonzales Photo/Sebastian Dammark)

Die Diskussion über Rammstein kratzt nur an der Oberfläche. Denn es geht um ein altes Thema: das Verlangen alter Männer nach jungen Frauen. Welche Chance dennoch in der Debatte liegt.

Es gibt kaum etwas Dreckigeres als die Kombination aus Macht, Gewalt und Sex. Dreck schwimmt bekanntlich oben – weshalb die mediale Berichterstattung derzeit darum kreist, was mit den geplanten Konzerten der Rockgruppe Rammstein geschehen soll. Der Hintergrund: Frontsänger Till Lindemann soll seine Machtposition ausgenutzt haben, um junge Frauen für sexuelle Handlungen zu benutzen. Dutzende Frauen berichteten in den vergangenen Wochen von ihren Erlebnissen. Lindemann lässt über seinen Anwalt die Vorwürfe zurückweisen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Was bei all dem momentanen Aufruhr jedoch erstaunt, ist, dass das Erstaunen so groß ist. Denn neu ist das Thema nicht, da muss man sich gar nicht speziell an der Person Lindemann abarbeiten. Im Prinzip wirft die Debatte über mutmaßliche sexuelle Übergriffe im Umfeld der Rammstein-Konzerte ein Schlaglicht auf ein uraltes gesellschaftliches Problem. Und darin liegt auch die Chance.

Es geht um das seit Jahrtausenden zementierte Bild von willen- und machtlosen jungen Frauen und mächtigen alten Männern, die von ihnen Besitz ergreifen möchten. Wie tief dieses Bild in unserem kollektiven Bewusstsein verankert ist, zeigt schon ein klitzekleiner Blick in die Literatur- und Kulturgeschichte.

Seit 2.000 Jahren die gleichen Themen

Nehmen wir den römischen Dichter Ovid, der in der Gedichtsammlung "Amores" bereits etwa 16 v. Chr. über eine Vergewaltigung schrieb. Bis heute werden seine Verse meist ohne entsprechende Einordnung im Unterricht behandelt: "Leg meine Hände in Fesseln, sie haben Ketten verdient … War's nicht genügend, sie anzuschreien, das furchtsame Mädchen, und ihr mit heftigem Wort – doch nicht zu heftig – zu drohn? Oder ihr schimpflich das Kleid herab bis zur Mitte zu reißen? Hier ja hätte sie doch glücklich der Gürtel geschützt. Nein, ich vollbracht' es."

Oder Scheherezade aus "Tausendundeine Nacht", die um das Jahr 1150 erst mit dem König Schehrijâr schlafen muss und sich dann, um sich ihrer Ermordung zu entziehen, nächtelang Geschichten ausdenkt, die ihn erfreuen sollen.

Oder der größte deutsche Dichter Goethe, der 1808 den alternden Faust das junge, naive Gretchen täuschen lässt. Schon er setzt K.-o.-Tropfen ein, dummerweise nicht richtig dosiert – in diesem Fall ist es dann allerdings die Mutter, die dran glauben muss. Aber was soll’s – der alte Mann bekommt das junge Mädchen, das sich schlussendlich umbringt.

Diese tief sitzenden Bilder wirken bis heute im Verhältnis zwischen Männern und Frauen nach. Da können noch so viele Frauen Führungspositionen einnehmen, Regierungen vorsitzen, Konzerne leiten. Im Prinzip schlagen wir uns noch immer mit den gleichen Themen herum wie vor 50 oder 2.000 Jahren.

Spätestens seit die Skandale um den Hollywoodproduzenten Harvey Weinstein den Hashtag #MeToo ins Leben riefen, müsste allen klar sein: Fast überall lassen sich Bereiche finden, in denen es um Macht und Strukturen geht, die Männer ausnutzen, in denen sie Druck ausüben und Frauen wie ein Stück Fleisch ansehen, das sie konsumieren können.

Das Signal: Schutz bekommst du nur, wenn du dich kümmerst

Eigentlich sind die Machtstrukturen vielen bewusst, die wiederkehrenden Diskussionen zeugen davon. Doch spätestens, wenn ein Fall mal wieder akut aufploppt, weil es sich um prominente Täter handelt, scheint die Ultima Ratio zu sein, dass Frauen sich selbst um ihren Schutz kümmern müssen. Sie sollten möglichst keine zu kurzen Kleider tragen, auf keine Aftershowpartys gehen … Die Verantwortung wird auf sie abgeschoben, anstatt sich um Grundsätzliches zu kümmern.

Das führt so weit, dass meine 20-jährige Nachbarin, wenn sie abends in einen Club zum Tanzen geht, ihre Getränke stets mit Freundinnen teilt, sodass immer eine von ihnen das Glas in der Hand halten kann. Abstellen kommt nicht infrage. Zu groß ist die Sorge, dass in einem unbeobachteten Moment etwas damit passieren könnte. GHB oder GBL (auch bekannt als "Liquid Ecstasy"), Benzodiazepine oder Ketamin. Irgendwas könnte darin landen, irgendjemand ihre Betäubung dann ausnutzen.

"Erzieht eure Söhne"

Eine Drogeriekette wiederum verkauft seit Jahren Armbänder, die zumindest GHB in Getränken identifizieren kann. Im Prinzip eine kluge Idee. Doch leider identifiziert es nicht alle Substanzen, die einen Menschen ausknocken können. Und gleichzeitig auch hier wieder das Signal: Schutz bekommst du nur, wenn du selbst aktiv wirst. Das kann nicht die Lösung sein. Denn so verändern sich keine Strukturen.

2021 wurde die Britin Sarah Everard auf ihrem Heimweg von einem Polizisten ermordet. Im Anschluss geisterte ein Slogan durch die sozialen Medien: "Protect your daughters – educate your sons" (Schützt eure Töchter – erzieht eure Söhne). Der erste Teil des Spruchs allerdings durchgestrichen. Die Botschaft dahinter: Kümmert euch darum, dass sich eure Söhne endlich so verhalten, dass eure Töchter nicht mehr geschützt werden müssen.

Auf lange Sicht hilft nur eines: Denkmuster und Rollenbilder zu hinterfragen. Und dann zwar auch die Töchter zu schützen, aber in erster Linie die Söhne zu erziehen. Darin liegt die Chance jeder neuen aktuellen Debatte über sexuelle Übergriffe: Das Bewusstsein muss sich ändern, damit der Dreck endlich weniger wird.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen
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