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Contergan: "Man dachte, das Problem mit uns erledigt sich von allein"


Contergan-Opfer klagt an
"Man dachte, das Problem mit uns erledigt sich von allein"


Aktualisiert am 28.06.2019Lesedauer: 7 Min.
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Contergan-Opfer Friederike Winter: Die 58-Jährige kämpft um die Anerkennung von Schäden, die man nicht mit den Augen erkennen kann. (Quelle: t-online.de)

Mehr als 60 Jahre nach dem Conterganskandal kämpfen Opfer wie Friederike Winter noch immer um Entschädigung. Ihr Gegner vor Gericht: die Stiftung, die ihr helfen soll.

Sie ist eine Kämpfernatur, das sieht man ihr an. Und am 28. Mai 2019 ist ihr großer Tag. Dann wird vor dem Verwaltungsgericht Köln der Fall mit dem Aktenzeichen 7 K 503416 verhandelt, Friederike Winter gegen die Conterganstiftung für behinderte Menschen. Es geht um viel: In dem mächtigen Rotklinkerbau wird über die Gesundheit von Winter verhandelt. Und es geht um Gerechtigkeit, darum, dass Instanzen und Institutionen das wiedergutmachen, was ihr und vielen anderen angetan wurde.

Die Verhandlung beginnt um 13 Uhr: Das Gericht muss entscheiden, ob fehlende Arterien und Nervenschäden eine Folge von Contergan sind. "Ich habe mich schon als Kind gefragt, warum ich am Handgelenk keinen Puls habe wie andere Leute, weder links noch rechts", sagt Winter. Sie klagt gegen die Conterganstiftung. Diese sollte die Opfer entschädigen und "hatte von Anfang an den Auftrag, weitere Schäden von uns abzuwenden und zu forschen", sagt Winter beim Besuch bei t-online.de. Doch das Gegenteil ist der Fall: Mehr als 60 Jahre später muss sie vor Gericht ziehen, damit die Stiftung die unsichtbaren Schäden anerkennt. "Ich finde es schlimm, dass die Stiftung, die eigentlich auf unserer Seite sein sollte, es eben nicht ist", sagt sie.

Innere Schäden, die von Außen nicht zu sehen sind

Friederike Winter kämpft heute um die Anerkennung von Schäden, die man nicht mit den Augen erkennen kann. Weil Arterien in ihrem Körper ganz fehlen und andere Adern und Nerven schwer geschädigt sind. Eine Folge von Contergan, sagt Winter, wie so vieles an ihrem Körper: die schwer bewegliche rechte Hand, der wegoperierte Stummeldaumen, die geschädigten Schultern, die zu kleine Niere. Auch der Rücken und die Knie sind nicht gesund.

"Ich habe in den vergangenen Jahren viele Contergan-Geschädigte vertreten, die Schäden an der Leber, an den Nervenbahnen oder am Gleichgewichtsorgan hatten", sagt ihre Rechtsanwältin Karin Buder. "Es liegen bei diesen Menschen also auch innere Schäden vor, die man von außen nicht oder nur mit aufwändiger Diagnostik erkennen kann."

Frei und ohne Rezept überall zu kaufen

Contergan – der Name steht für den größten Medizinskandal Deutschlands: Millionen Menschen nahmen bis Ende der 50er Jahre das Mittel zur Beruhigung und als Schlafmittel ein. Auch schwangere Frauen schluckten Arzneimittel mit dem Wirkstoff Thalidomid, die jeder frei und ohne Rezept kaufen konnte. "Damals wurde das Medikament auch von Gynäkologen ausgegeben", sagt Buder, "es wurde besonders gegen Übelkeit und bei Schlafproblemen während der Schwangerschaft gepriesen."

Stummelbeine und Hände wie Flossen

Die Folgen: Ab 1958 wurden immer mehr Kinder mit Fehlbildungen geboren. Vielen fehlten die Arme oder Beine, andere waren verstümmelt und verkrüppelt. Bei den Missbildungen namens "Phokomelie" fehlten ganze Knochen, Hände wuchsen wie Flossen an den Schultern, Beinstummel an den Hüften. Dazu kamen oft verwachsene Ohren sowie Nerven- und Organschäden. Dass Contergan verantwortlich sein könnte für die Fehlbildungen, wurde erst nach und nach bekannt und von der verantwortlichen Herstellerfirma Grünenthal jahrelang geleugnet. Erst 1961 nahm das Unternehmen das Medikament vom Markt.

Bis 1962 wurden weltweit etwa 10.000 teils schwer geschädigte Babys geboren. Etwa 40 Prozent starben kurz nach der Geburt, die Zahl der Totgeburten ist nicht bekannt. In Deutschland wurden etwa 5.000 Säuglinge mit schweren Behinderungen geboren, nur 3.000 überlebten. Das Arzneimittelgesetz wurde verschärft – seit dem Contergan-Skandal ist es sehr viel schwieriger geworden, ein neues Medikament auf den Markt zu bringen.

Niemals ausreichend entschädigt

Heute leben in Deutschland rund 2.400 Contergan-Geschädigte, manche unter ihnen kämpfen immer noch darum, dass ihre Krankheiten als Folge von Thalidomid anerkannt werden. Denn zur Lebensgeschichte vieler Betroffener gehört, dass sie sich nicht ausreichend entschädigt fühlen. Dazu kommt: Das Geld für die Contergan-Rente ist längst aufgebraucht. "Man dachte, das Problem mit uns erledigt sich von allein", sagt Winter. "Es sind auch leider viele von uns bereits verstorben."

"Meine Mutter hatte Contergansaft", erzählt Winter. Sie habe es von Februar bis Ende September 1960 genommen, täglich ein Teelöffel mit 50 Milligramm Contergan. "Die Schwester meines Vaters war damals Justizassessorin bei der Regierung in Bad Godesberg", erzählt Winter. "Sie hatte früh mitbekommen, dass mit dem Mittel Contergan etwas nicht stimmt und wusste, dass meine Mutter das Mittel einnimmt. Sie hat meinen Vater gewarnt, und gesagt, er solle alle Beweise sichern."

Sogar Säuglinge bekamen Contergan

Dies tut Winter bis heute. Seien es alte Fotos, der Beipackzettel des Mittels, Gutachten, Aufsätze oder Briefwechsel: Sie bewahrt alles auf. Sichtet, sammelt, sortiert. "Contergan ist in besonderem Maße als Sedativum und als Hypnotikum zur Ruhigstellung ängstlicher, nervöser und unruhiger Kinder geeignet", zitiert sie von der Packungsbeilage des Saftes, den ihre Mutter geschluckt hatte. "Die Verträglichkeit ist auch bei kleinen Kindern und Säuglingen ausgezeichnet."

Friederike Winter ist im Dezember 1960 als eines von vielen geschädigten Babys dieser Zeit geboren worden. "Wir haben als Kinder oft Gymnastik gemacht, und ich kann mich daran erinnern, dass dabei auch viele waren, die keine Arme hatten", sagt sie. "Damals wurden auch die ersten Prothesen hergestellt und Bretter, die aussahen wie Skateboards, darauf haben sich die Kinder dann fortbewegt."

Ständig mit dem Stummeldaumen hängengeblieben

Als Winter sieben Jahre alt war, wurde der Stummeldaumen der rechten Hand entfernt, der auf dem Zeigefinger gewachsen war. „Darüber war ich froh, denn immer, wenn ich jemandem die Hand gab, begann das Getuschel: 'Was hat denn das Kind?', 'Ach je …'. Das gefiel mir überhaupt nicht. Außerdem hat mich der Daumen auch gestört, weil ich öfter irgendwo hängen geblieben bin."

Anders als viele andere sogenannte Contergan-Kinder kam Winter auf eine normale Grundschule. "Meine Mutter hat sich sehr viel Mühe gegeben", sagt sie. "Wir haben zum Beispiel eine besondere Methode gefunden, wie ich häkeln oder stricken kann, obwohl der rechte Daumen fehlt. Ich habe auch Flöte spielen gelernt. Das könnte ich heute nicht mehr, weil ich nicht mehr die Kraft in den Fingern habe."

Starke Schmerzen und soziale Isolation

Dass die Beschwerden im Alter zunehmen, ist bekannt: Ein Projekt der Universität Heidelberg untersuchte das Leben Betroffener zwischen 2010 und 2012 und stellte fest, dass sie vor allem unter starken Schmerzen und sozialer Isolation litten. Auch Probleme, die durch innere Organe verursacht werden, vermuteten die Wissenschaftler damals. Die Ergebnisse der Heidelberger Studie waren so eindeutig, dass die Gesetze geändert und die Renten der Contergan-Opfer teils um bis zu 500 Prozent erhöht wurden.

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Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, begleitet viele Contergan-Opfer bis heute. Vor allem der Prozess der Opfer gegen den Hersteller Grünenthal ist dafür die Ursache: Er endete 1970 mit der Einstellung des Verfahrens wegen geringfügiger Schuld der Angeklagten. Ein Vergleich scheiterte, weil nicht alle Geschädigten zustimmten. Doch Grünenthal zahlte schließlich 100 Millionen Deutsche Mark in die 1972 gegründete Conterganstiftung, die heute eine Einrichtung des Bundes ist.

Stiftung wird ihren Aufgaben nicht gerecht

Winters Anwältin Karin Buder ist eine ruhige Frau, blond und hochgewachsen, mit sicherem Auftreten. So schnell bringt sie nichts aus der Ruhe – es sei denn, es geht um Contergan und die Stiftung. Deren gesetzliche Aufgabe sei es, zu weiteren Schädigungen zu forschen, aufzuklären und Behinderungen bei den Betroffenen zu verhindern, sagt sie. Winter habe etwa sieben Jahre lang recherchiert: "Es kann grundsätzlich nicht sein, dass die Beweislast und die medizinische Recherche bei den Thalidomid-Geschädigten liegen."

Dem Vorbild ihres Vaters folgend, hat Winter für den Prozess eine Menge Beweise für ihr unsichtbares Leiden zusammengetragen. Um zu erfahren, warum sie an den Handgelenken keinen Puls fühlt, machte sie 2013 eine Angiographie. Dabei wurde festgestellt, dass mehrere Nerven und Arterien in ihren Armen fehlen, unter anderem die Arteria radialis, die den Unterarm mit Blut versorgt.

Winter kennt ihre Beschwerden genau: "Die Feinmotorik funktioniert schon länger nicht mehr. Deswegen habe ich auch eine teilweise Berufsunfähigkeitsrente bezogen seit 2008. Das hat sich mit der Zeit im Berufsleben verschlimmert", sagt sie. "Ich musste viele Spritzen aufziehen. Sehr viel Feinmotorik." Das habe sich verschlechtert, sie hätte ein Kribbeln in den Händen oder auch ein Schwächegefühl. Oft hätten die Hände auch weh getan.

Stiftung reagierte nicht, immer wieder

"Nach meinem Befund der fehlenden Arterien habe ich bereits 2013 an die Stiftung geschrieben und gefordert, dass die anderen Geschädigten gewarnt werden", sagt Winter. "Es ist ja sehr gefährlich, wenn Gefäße fehlen oder schlecht ausgebildet sind. Das Schreiben wurde an den Vorstand der Stiftung weitergeleitet. Es passierte nichts." Der Grund sei klar, vermutet Winter: "Die Conterganstiftung und das zuständige Familienministerium Angst haben, dass es dann eine Lawine von Revisionsanträgen auf Entschädigung geben wird."

Winter ließ nicht locker, sammelte weiter Beweise, die nun dem Gericht vorliegen. Da ist zum einen der Befund selbst. Dazu kommen Vorträge von Spezialisten, Auszüge aus Lehrbüchern der Medizin und Studien. Es sind viele, und sie sind stichhaltig. Winter und ihre Anwältin haben keine Zweifel: Die Schäden an Nerven und Gefäße sind entstanden durch das Thalidomid.

Gewinnt Winter, so kommen auf die Stiftung viele Klagen und möglicherweise hohe Ausgaben zu. Außerdem kann das Urteil ein Präzedenzfall für Contergan-Geschädigte in aller Welt sein. Um dies zu verhindern, könnte die Gegenseite argumentieren, dass erst eine Studie durchgeführt werden müsse – das vermutet Anwältin Buder. Geplant ist so etwas schon länger, kam aber bisher nicht zustande. 1,4 Millionen Euro würde so eine Studie kosten, hatte die Stiftung 2017 wissen lassen: Mindestens 450 Betroffene seien nötig, um wissenschaftliche Ergebnisse zu bekommen, parallel dazu müsse eine Gruppe ohne Contergan-Schäden untersucht werden – was zynisch klingt in Anbetracht von nur 2.400 Überlebenden.

Friederike Winter sagt, sie wünsche sich Gerechtigkeit für die Überlebenden weltweit: "Ich setze auf Wahrheitsfindung durch das Gericht die Erkenntnisse der heutigen Wissenschaft."

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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