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Contergan: Hoffnung aus dem Giftschrank


Hoffnung aus dem Giftschrank

Von Juliane Wellisch

Aktualisiert am 27.05.2018Lesedauer: 4 Min.
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Medizin-Skandal: Contergan-geschädigte Kinder spielen mit einer Betreuerin in einem Sandkasten.Vergrößern des Bildes
Medizin-Skandal: Contergan-geschädigte Kinder spielen mit einer Betreuerin in einem Sandkasten. (undatierte Aufnahme aus den sechziger Jahren) (Quelle: Wolfgang Hub/picture alliance)

Im Dezember 1956 kam in Deutschland ein Kind mit Fehlbildungen an den Ohren auf die Welt. Der Vater des Kindes, ein Mitarbeiter des Pharmaunternehmens Grünenthal, hatte seiner Frau während der Schwangerschaft ein Muster eines Beruhigungsmittels gegeben, das zehn Monate später auf den Markt kommen sollte. Der Name des Präparats: Contergan.

Zwischen dem ersten Contergan-Fall und der versuchten Aufarbeitung des Medizin-Skandals lagen elfeinhalb Jahre. Vor 50 Jahren, am 27. Mai 1968, fand der erste Verhandlungstag im Contergan-Prozess statt. Neun Mitarbeiter des Pharma-Unternehmens Grünenthal mussten sich darin den Vorwürfen der Körperverletzung, der fahrlässigen Tötung und des Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz stellen. Als Nebenkläger traten die Eltern von 312 Kindern auf, die durch das Medikament teils schwerste Schädigungen erlitten hatten. Im selben Jahr versuchten auch in Großbritannien Angehörige eine Entschädigung von dem dortigen Vertreiber des Medikaments "Distillers Company" zu erwirken.

Schätzungen gehen von etwa 10.000 Kindern aus, die mit Missbildungen auf die Welt gekommen sind, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft Contergan, Distaval, Talimol oder ein anderes Präparat mit Thalidomid eingenommen haben.

Beruhigungspille mit gravierenden Folgen

Abhängig davon, wann die Schwangeren das Medikament schluckten, betrafen die Missbildungen unterschiedliche Körperteile. Zwischen dem 34. und 37. Tag nach der letzten Regelblutung waren beispielsweise die Ohren des Kindes betroffen, zwischen dem 38. und 45. Tag die Arme und zwischen dem 41. und 47. Tag die Beine. Nicht wenige Säuglinge wiesen gleich mehrere Fehlbildungen auf.

Die Dunkelziffer der Betroffenen dürfte noch höher liegen, da es durch das Medikament, das oft bei Schlafstörungen oder Morgenübelkeit verschrieben wurde, auch zu Fehlgeburten kam, beziehungsweise längst nicht alle Säuglinge, die schon kurz nach der Geburt verstarben, dokumentiert wurden.

Falsche Versprechungen und ignorierte Warnungen

Zwischen der Markteinführung 1957 und der Rücknahme des Präparats vom Markt 1961 lagen vier Jahre, in denen Thalidomid als besonders sicheres Beruhigungsmittel angepriesen wurde. Tatsächlich wurde Distaval in Großbritannien unter dem Slogan "Das Leben dieses Kindes hängt von der Sicherheit von Distaval ab" beworben – mit dem Bild eines kleinen Mädchens, das eine geöffnete Pillenpackung in den Händen hält.

Thalidomid barg im Gegensatz zu anderen Beruhigungsmitteln nicht die Gefahr von tödlichen Vergiftungen. Darüber hinaus wirkte das Medikament auch gegen Morgenübelkeit, weshalb es besonders bei schwangeren Frauen eingesetzt wurde. Sie erhielten es entweder von ihrem Arzt oder rezeptfrei in der Apotheke.

Dass es überhaupt zu so vielen Fällen von Schädigungen kam, lag unter anderem daran, dass Grünenthal das Medikament weiter vertrieb, obwohl bereits 1961 zahlreiche Warnungen über einen Zusammenhang zwischen Thalidomid und Fehlbildungen vorlagen. Daher kam es 1968 schließlich zum Prozess gegen den verantwortlichen Laborleiter Heinrich Mückter und weitere Mitarbeiter von Grünenthal. Das Verfahren wurde 1970 eingestellt und die Nebenkläger einigten sich mit Grünenthal unter Klageverzicht in einem Vergleich auf eine Entschädigung in Höhe von 100 Millionen Deutsche Mark, die das Unternehmen in die heutige Conterganstiftung einzahlte.

Längst nicht in allen Ländern wurde Thalidomid zugelassen. In den USA und der DDR sorgte die unzureichende Dokumentation der toxikologischen Tests dafür, dass das Medikament nicht auf den Markt kam. In Österreich und der Schweiz war der Wirkstoff unter dem Handelsnamen Softenon nur auf Rezept erhältlich. Dadurch kam es in diesen Ländern zu weitaus weniger Fällen geschädigter Kinder.

Contergan nach dem Skandal

Nachdem Contergan vom Markt genommen worden war, entdeckte ein israelischer Hautarzt 1964, dass Thalidomid wirksam gegen Lepra-Geschwüre ist. Auch beim multiplen Myelom, einer Form des Blutkrebs, dem Myelodysplastischen Syndrom, ebenfalls eine Erkrankung des blutbildenden Systems und Morbus Crohn, hat der Wirkstoff Erfolge in der Behandlung gezeigt.

Insbesondere bei den verschiedenen Erkrankungen des Knochenmarks stellt der Wirkstoff für ältere Patienten, die beispielsweise keine Chemotherapie vertragen, häufig die letzte Hoffnung dar. Ohne Nebenwirkungen kommt jedoch auch das gefährliche "Wundermittel" nicht aus. Dazu gehören insbesondere Müdigkeit, Gleichgewichtsstörungen und – meist bei längerem Gebrauch – Schädigungen der Nerven, sogenannten Neuropathien.

Die Gefahr ist nicht verschwunden

Thalidomid ist heute einer der am stärksten regulierten Wirkstoffe, die Mediziner zur Behandlung von Krankheiten zur Verfügung haben. Er ist in Deutschland nur unter strengen Auflagen einsetzbar, um mögliche Schädigungen von ungeborenem Leben möglichst auszuschließen. Angesichts der vernichtenden Auswirkungen auf die Entwicklung von Embryos sind die umfassenden Vorschriften zum Einsatz und der Abgabe des Medikaments verständlich.

Dennoch zeigt der Fall Brasilien, dass Regularien keinen hundertprozentigen Schutz bieten – insbesondere wenn sie nicht ausreichend umgesetzt werden. In dem südamerikanischen Land wird Thalidomid vor allem gegen Lepra eingesetzt. Teilweise werden die Pillen von Patienten an Dritte weitergegeben, wodurch sich nicht mehr kontrollieren lässt, ob beispielsweise schwangere Frauen das Medikament einnehmen.

Hinzu kommt: Zwar gibt es Warnhinweise auf der Verpackung. Jedoch ist die Analphabetenquote in den armen Bevölkerungsschichten noch immer hoch. Eine Zeit lang wurde daher auf den Pillenpackungen mit einem Piktogramm einer schwangeren Frau mit durchgestrichenem Bauch vor der fruchtschädigenden Wirkung des Medikaments gewarnt. Zahlreiche Frauen deuteten dieses Bild aber falsch und hielten das Präparat für ein Verhütungsmittel oder die Pille danach. In der Folge kam und kommt es in Brasilien immer wieder zu Fällen geschädigter Kinder. Die WHO lehnt den Einsatz von Thalidomid bei Lepra daher auch ab – denn es gibt andere Medikamente, die Betroffenen helfen.

Was hat sich durch den Contergan-Skandal geändert?

Der Skandal um Contergan führte in vielen Ländern zu einem strengeren Zulassungsprozess von neuen Medikamenten. Das erst 1961 eingeführte Arzneimittelgesetz wurde 1964 zuerst geringfügig angepasst und neue Wirkstoffe einer dreijährigen Verschreibungspflicht unterworfen. Eine umfassende Aufarbeitung des Skandals erfolgte jedoch erst später und es dauerte bis 1976, dass ein bundeseinheitliches Verfahren zur Kontrolle von Medikamenten beschlossen wurde. Dieses umfasst weitreichende Testverfahren und Versuchsreihen, um die Wirksamkeit des Medikaments und dessen Ungefährlichkeit nachzuweisen.

Nachdem die Änderungen in Kraft traten, bestand für bereits erhältliche Präparate eine Übergangsfrist bis 2005, um entsprechende Nachweise zu erbringen. Viele Medikamente verschwanden vom Markt, weil der Aufwand sich für die Pharmaunternehmen nicht rechnete. Für andere Wirkstoffe konnte entweder keine Wirksamkeit nachgewiesen werden – oder es war kein Beweis möglich, dass sie ungefährlich waren.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
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