Partnerwahl und Familienleben: So beeinflussen uns noch heute die Neandertaler
Wir leben in Zeiten des Internet of Everything, tragen atmungsaktive Kunsttextilkleidung und kΓΆnnen in Sekundenschnelle mit dem anderen Ende der Welt Kontakt aufnehmen. Unser Verhalten allerdings steckt noch in den Fellschuhen. Tief in uns schlummern archaische UrurgroΓeltern und beeinflussen uns gerade bei Partnerwahl und Kinderaufzucht ganz entscheidend.
Wir haben die Evolution ΓΌberholt
Betrachtet man die Gattung "Homo" als 24-Stunden-Tag, dann hat der Mensch 23 Stunden davon als JΓ€ger und Sammler verbracht. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass noch heute zwei bis vier Prozent Neandertaler in unseren Genen stecken. Dieses evolutionΓ€re GepΓ€ck zeigt sich zum einen in FΓ€higkeiten wie dem Ohrenwackeln, zum anderen aber auch in zahlreichen Verhaltensweissen: Der Mann am Grill, der Singsang bei der Kommunikation mit einem Baby, aber auch unsere Reaktion auf Stress β all das sind Γberbleibsel unserer Vorfahren.
Kleine Jungs haben es besonders schwer
Die Anthropologen Lionel Tiger und Robin Fox beschΓ€ftigten sich ausfΓΌhrlich mit dem "SteinzeitjΓ€ger im SpΓ€tkapitalismus" und halten uns fΓΌr "eingekerkerte, domestizierte, vergiftete, vermasste und verwirrte JΓ€ger". Wer sich jemals darΓΌber gewundert hat, warum es MΓ€dchen im Grundschulalter leichter fΓ€llt, stillzusitzen, der muss sich nur mal das Urzeitszenario vor Augen fΓΌhren. Da wird schnell klar, warum kleine NachwuchsjΓ€ger einen solchen Bewegungsdrang haben. Sie nehmen alles um sich herum exakt wahr; so waren sie frΓΌher die Lebensversicherung fΓΌr die Horde. Heute gelten sie als hyperaktiv und werden therapiert.
Das Mama-Memory
Die Liste der Verhaltensweisen, die wir mit den Urmenschgenen in uns erklΓ€ren kΓΆnnen, ist lang: Ein offener Kamin lΓΆst GefΓΌhle von Behaglichkeit aus. Kleine Kinder spucken Bitteres aus, weil es Gefahr bedeutet. MΓ€nner orientieren sich an Richtung und Bewegung. Frauen dagegen sind in der Lage, weit verstreute, aber unbewegliche Dinge in einem Suchgebiet wiederzufinden β nicht umsonst wissen MΓΌtter meistens, in welcher Ecke die Turnschuhe ihres Sohnes liegen.
Und auch die Tatsache, dass kleine Kinder Angst vor Fremden oder dunklen Kellern haben, aber mit Vorliebe ihre Fingerchen in Steckdosen stecken und keinerlei Respekt vor groΓen StraΓen zeigen, erklΓ€rt sich vor dem Hintergrund der besagten Timeline: Moderne Gefahren existieren einfach noch nicht lang genug fΓΌr eine genetische Anpassung.
Die Angst vor dem Kuckuckskind
Die englische Anthropologin Alice Roberts geht davon aus, dass unser Flirtverhalten von den Jagderfahrungen unserer Vorfahren geprΓ€gt wird. Frauen bevorzugen groΓe MΓ€nner mit einem sozialen Stand, der ΓΌber ihrem eigenen ist β ein nachgewiesenes Verhalten, das wir gerne leugnen. Und MΓ€nner betrachten unbewusst die Proportionen einer Frau. Zum einen, weil sie ihre Gene weitergeben wollen und sich die Frau dafΓΌr eignen muss. Und zum anderen, weil sie sichergehen wollen, dass da nicht schon ein Kuckuckskind von einem anderen unterwegs ist.
Hat eine Frau also einen flachen Bauch und eine etwas breitere HΓΌfte, dann stehen die Chancen auf Reproduktion gut. Zudem sollte sie einen makellosen Ruf haben β heute wie damals. Denn nur so ist gewΓ€hrleistet, dass sie sich auch angemessen um die Aufzucht kΓΌmmert.
Kann er uns versorgen?
WΓ€hrend sich der Mann vor einem Kuckuckskind fΓΌrchten muss, kann die Frau sicher sein, dass die HΓ€lfte des kindlichen Genpools von ihr ist. FΓΌr die Frau ist es hingegen viel wichtiger, einen Mann zu finden, der sich anstΓ€ndig um sie und ihren Nachwuchs kΓΌmmert. "FΓΌr sie ist es entscheidend, wΓ€hlerisch zu sein, denn die Wahl eines falschen Partners vermindert aus evolutionΓ€rer Sicht nicht nur die Γberlebenschancen ihrer Nachkommen und damit die Weitergabe ihrer Gene, sondern sie geht auch das persΓΆnliche Risiko ein, einen nicht unerheblichen Zeitraum ihres Lebens mit einer nutzlosen Schwangerschaft und Kinderaufzucht zu vergeuden", so der Wissenschaftsautor JΓΌrgen Brater in seinem Buch "Wir sind alle Neandertaler".
Neandertaler waren soziale Wesen
Der Neandertaler war kein affenartiger Banause, sondern ein soziales Wesen. Damals wie heute gibt es einen Unterschied zwischen einer Kindheit in harter Umgebung und einer harten Kindheit. Die Neandertaler lebten in kleinen Gruppen zusammen, emotional zusammengeschweiΓt und kΓΌmmerten sich gut um ihre Kinde.
Die, wenn sie groΓ genug, also geschlechtsreif geworden sind, sich eigene Gruppen aufbauen mussten. Mit denen sind sie ausgezogen, um andere Gegenden zu erobern, auch mal ein Risiko einzugehen und sich einen Partner zu suchen. Im Prinzip genau das Gleiche, was unsere Jugendlichen auch machen. Kein Wunder also, dass ein Sonntagsausflug mit der Familie, ein wΓ€rmender Schal oder gar ein Fahrradhelm nicht Platz Nummer eins auf ihrer Interessensliste einnehmen.
Wissen um den Neandertaler in uns erleichtert Umgang mit Babys
Gerade bei der Partnerwahl, der Schwangerschaft und wenn ein Kind noch sehr klein ist, kΓΆnnen wir nicht aus unserem βFellβ. Da steckt das stammesgeschichtliche Verhalten tief in uns. Unter dieser Voraussetzung erklΓ€rt sich auch, warum eine Geburt in RΓΌckenlage auf einer Liege nicht unserer Natur entspricht, wieso Neugeborene in den ersten Lebensstunden nicht unbedingt Nahrung brauchen und wieso die Muttermilch versiegt, wenn die frischgebackene Mama in Stress gerΓ€t.
Auch hier greifen uralte Verhaltensmuster: Denn wenn der HΓΆhlenbΓ€r oder der SΓ€belzahntiger im Anmarsch sind, kann man keine laufenden BrΓΌste gebrauchen, dann geht es erst einmal darum, den Nachwuchs in Sicherheit zu bringen. Beruhigt sich alles, flieΓt auch die Milch wieder.
Leider hilft selbst das Wissen um diesen Mechanismus vielen Frauen heute nicht. Denn unser Stress ist kein SΓ€belzahntiger, der sich irgendwann wieder schleicht. Ist man sich der Ursache aber bewusst, sorgt man mΓΆglichst fΓΌr Ruhe rund um Mutter und SΓ€ugling.
Babygeschrei: erfolgreiche Γberlebensstrategie
Das beste Beispiel fΓΌr unsere Urgene ist das Schlafverhalten von Babys. Lange Zeit dachte man, sie mΓΌssten doch ganz wunderbar schlafen, wenn sie allein in einem verdunkelten Zimmer sind und alles ruhig ist. Und hat sich gewundert, warum das nur so selten funktioniert. Ganz einfach: Babys wollen nicht alleine sein. Sie wollen hΓΆren und spΓΌren, dass da Menschen um sie herum sind, denn nur dann sind sie auch in Sicherheit.
Alles andere wΓΌrde bedeuten, alleine irgendwo zurΓΌckgelassen zu sein. Und was das heiΓt, wenn der SΓ€belzahntiger um die Ecke kommt, ist klar. Also wird aus LeibeskrΓ€ften geschrien und dem kann sich niemand entziehen. Das ist eine Tonlage, die sofort das BedΓΌrfnis auslΓΆst, das verwaiste Kind zu suchen und zu retten. Und sei es mitten in einer Einkaufspassage.
Wir sind nicht Sklave unserer Gene
Die Unterschiede im Verhalten der MΓ€nnchen und Weibchen unserer Spezies entsprechen uralten Mustern und Rollen. Bestes Beispiel: die Kommunikation. Immer wieder interpretieren Frauen das Schweigen ihres Mannes oder auch Sohnes als Zeichen von mangelndem Vertrauen "β¦und ΓΌbersehen dabei, dass der ein Mammut verfolgende SteinzeitjΓ€ger nicht bei jeder Schwierigkeit zurΓΌck ins Lager eilen konnte, um der Ehegattin seinen Kummer zu offenbaren und sie um seelischen Beistand zu bitten", so Brater.
Dem Neandertaler in uns ist es vΓΆllig gleichgΓΌltig, ob sich die Rollen an sich gewandelt haben. Je mehr wir uns aber darΓΌber im Klaren sind, was der Urmensch in uns auslΓΆst, desto eher verstehen wir unser Verhalten β und kΓΆnnen dieses auch bewusst verΓ€ndern.