Das grenzt an Wahnsinn
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Endlich steht die Entscheidung, doch es ist die falsche: Die EU-Kommission will Erdgas- und Atomprojekte als nachhaltig einstufen. Das ist das genaue Gegenteil von Umweltschutz.
Der dickste BΓΆller Europas wurde am Freitag in BrΓΌssel gezΓΌndet. Mit der irrsinnigen Hoffnung, niemand wΓΌrde den Knall hΓΆren. Doch die Explosion, die die EU-Kommission da mitten in der Nacht ausgelΓΆst hat, hallt nach. Denn Gas und Atomkraft sind hochgefΓ€hrlich; ihre geplante Einstufung als nachhaltig grenzt an Wahnsinn.
Zwei Stunden vor Mitternacht am Silvesterabend landete der Vorschlag der BrΓΌsseler BehΓΆrde im E-Mail-Postfach der Bundesregierung: Kernkraft und Erdgas sollen demnΓ€chst als grΓΌn gelten. Nach langem Hin und Her sollen sie Bestandteile der sogenannten EU-Taxonomie werden β und machen das Γkosiegel fΓΌr die Finanzbranche dann zum Etikettenschwindel. Ein Investmentboom in Atomkraft- und Gasunternehmen steht bevor.
Was ist die EU-Taxonomie? Die sogenannte EU-Taxonomie legt fest, welche AktivitΓ€ten und Projekte als grΓΌn gelten dΓΌrfen. Banken, Versicherungen, Pensionsfonds und Anleger sollen so besser abschΓ€tzen kΓΆnnen, welche Investitionen tatsΓ€chlich nachhaltig sind. Dadurch will die EU-Kommission nicht nur klare Rahmenbedingungen schaffen, sondern auch immer mehr Geld in klimaneutrale Vorhaben lenken. Die geplante Eingliederung von Erdgas und Atomkraft in die Taxonomie ist sehr umstritten.
Wer nach der jahrzehntelang verschleppten Energiewende nun von heute auf morgen aus der Kohle raus muss, braucht zwar Stopfmaterial fΓΌr die LΓΌcken in der Energieversorgung; Atomenergie und Erdgas kΓΆnnen genau das sein. Nachhaltig sind sie deswegen noch lΓ€ngst nicht. Im Gegenteil.
Kernkraft: Vorne sauber, hinten pfui
Sicher, Atomstrom ist sauber. Zumindest insofern, als er ohne klimaschΓ€dliches CO2 produziert werden kann. Die strahlenden MΓΌllberge, die er hinterlΓ€sst, sind es aber ganz und gar nicht. Das ist die wahre Crux der Kernenergie.
Es steht auΓer Frage, dass die ReaktorunfΓ€lle in Fukushima und Tschernobyl tragisch waren, das menschliche Leid unermesslich. Aber es waren EinzelfΓ€lle: Reaktoren in Erdbebengebieten, gravierende Baufehler, mangelhafte Sicherheitskonzepte. Hochgiftige Abfallstoffe sind allerdings die Regel. Sie entstehen auch in den modernsten und sichersten Meilern.
Allein mit dem deutschen AtommΓΌll mΓΌssen sich noch 30.000 Generationen nach uns beschΓ€ftigen. Ein sicheres Endlager in der Bundesrepublik ist weiterhin nicht gefunden. Dasselbe gilt fΓΌr die Atomnation Frankreich.
Ganz davon abgesehen, dass Atomstrom von allen Energieformen die teuerste ist; schon ohne die Folgekosten rund um die MΓΌllfrage einzupreisen. Dass die EU-Kommission die Kernkraft in diesem Wissen nun mit einer Nachhaltigkeitskennzeichnung adeln will, ist skandalΓΆs.
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Erdgas ist alles andere als grΓΌn
Das grΓΌne Licht der Kommission fΓΌr Erdgas ist sogar noch ungeheuerlicher. Denn sein Hauptbestandteil Methan ist rund 25-mal klimaschΓ€dlicher als das bekanntere Kohlenstoffdioxid (CO2). Schon in kleinen Mengen hat es einen groΓen Treibhauseffekt und tritt entlang der gesamten Lieferkette aus. Erdgas entweicht bei der FΓΆrderung und schlΓΌpft aus leckenden Pipelines.
Unter viel GetΓΆse schob die EU vor gerade einmal zwei Monaten ein internationales Versprechen bei der Weltklimakonferenz an, mit dem man die Methanemissionen drΓΌcken wolle. Und zu Hause? Soll jetzt ausgerechnet der Sektor als vermeintlich nachhaltig aufgewertet werden, in dem sich Methan am leichtesten einsparen lieΓe. In der Landwirtschaft und im Abfallmanagement ist das viel schwieriger. Und es kommt noch dicker.
Europa bindet sich fΓΌr Jahrzehnte
Der Ehrenplatz fΓΌr Erdgas in der Taxonomie dΓΌrfte uns fΓΌr Jahrzehnte an den fossilen Brennstoff fesseln. Selbst wenn Gas nur als Γbergangstechnologie fΓΌr einen bestimmten Zeitraum definiert werden sollte, droht die EU-Kommission Anreize zu schaffen, um langfristig daran festzuhalten.
Wird bald, dank grΓΌnem Siegel, drastisch in Gasprojekte und -infrastruktur investiert, muss sich das fΓΌr Investoren und Betreiber rentieren. Es dauert, bis sich neue Anlagen, Umbauten und Probebohrungen bezahlt machen. Dann geht es ΓΌberhaupt erst mit den Gewinnen los.
Wenn in 20, 30 Jahren genug Windkraft, Solarstrom und Wasserstoff vorhanden sind und der Gashahn zugedreht werden soll, dΓΌrfte es daher Γ€hnlich laufen wie jΓΌngst bei der Kohle: Konzerne, die ihr GeschΓ€ft bis aufs Letzte verteidigen, Klimakrise hin oder her. Die EU-Kommission nimmt das offensichtlich in Kauf.
Leere Worte, keine Konsequenz
Das geplante grΓΌne Upgrade fΓΌr Atom und Gas ist nicht nur unsinnig. Es ist kontraproduktive Augenwischerei. Ein wenig so, als verkΓΌnde man eine Abnehmkur und erklΓ€rte Kirschtorte und Schweinshaxe zu DiΓ€trezepten.
Mit Blick auf die immer dramatischeren Folgen der Klimakrise hΓΆrt man aus der Kommission zwar die richtigen Worte. Vize-PrΓ€sident Frans Timmermans mahnte zuletzt bei der Weltklimakonferenz an, man mΓΌsse sich mit dem Klimaschutz beeilen, um das Γberleben der Menschheit zu sichern.
Wie viel solche BeschwΓΆrungen bei Tageslicht und nach intensiver Lobbyarbeit von BranchenverbΓ€nden und Regierungen noch wert sind, zeigt der Plan fΓΌr die neuen "nachhaltigen" Energien in der Taxonomie.
Korrektur: In einer frΓΌheren Version des Textes hieΓ es, nirgends in Europa sei bis dato ein sicheres Endlager fΓΌr hochradioaktive AbfΓ€lle gefunden worden. Dies wurde gestrichen, da im finnischen Onkalo aktuell eine solche EndlagerstΓ€tte entsteht, die in einigen Jahren in Betrieb gehen soll.