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EU-Streit eskaliert: Kommt es zum Polexit?


Kommt es zum Polexit?

Von Nils Kögler

Aktualisiert am 29.10.2021Lesedauer: 5 Min.
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Mateusz Morawiecki: Seine polnische Regierung liegt im Streit mit der Europäischen Union.Vergrößern des Bildes
Mateusz Morawiecki: Seine polnische Regierung liegt im Streit mit der Europäischen Union. (Quelle: Olivier Hoslet/dpa-bilder)

Der Konflikt zwischen der EU und Polen vertieft sich. Der EuGH will ein tägliches Zwangsgeld von einer Million Euro – Polen hat angekündigt "keinen Zloty zu zahlen". Worum geht es in dem Konflikt?

Der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau schwelt schon seit Jahren. Im Kern geht es um den Umbau des Justizsystems durch die nationalkonservative PiS-Regierung ("Recht und Gerechtigkeit"). Aus Sicht der EU untergräbt Polen mit den Reformen die Unabhängigkeit der Justiz und übt politischen Druck auf Richter aus.

Die Regierung von Premier Mateusz Morawiecki zeigte sich bislang von der Kritik aus Brüssel unbeeindruckt. Deshalb griffen die europäischen Richter nun zu einem empfindlichen Mittel: Polen soll eine Million Euro Strafe zahlen – und zwar für jeden Tag, den das Land sich weigert, die umstrittene Justizreform zurückzunehmen.

Die Reaktion aus Polen ließ nicht lange auf sich warten. Justizminister Zbigniew Ziobro sagte am Donnerstag, das Land werde "nicht auch nur einen einzigen Zloty zahlen". Das gelte auch für die Strafzahlungen, die im September gegen Polen verhängt wurden. Die Regierung hatte entgegen einer einstweiligen Anordnung den Braunkohleabbau in Turow an der Grenze zu Tschechien nicht gestoppt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte Polen deswegen ein tägliches Zwangsgeld von 500.000 Euro verordnet.

Doch warum kämpft Polen mit Klauen und Zähnen für eine Justizreform, die offensichtlich demokratische Standards verletzt? Was bedeutet die aktuelle Eskalation und kommt es zum Polexit, dem Austritt Polens aus der EU? t-online hat mit zwei Experten gesprochen und beantwortet die wichtigsten Fragen.

Was ist der Auslöser des Konflikts?

Stein des Anstoßes ist vor allem die 2018 geschaffene Disziplinarkammer, die Aufsicht über alle Richter hat, auch der am Obersten Gericht. Der Europäische Gerichtshof hat bereits in mehreren Urteilen die polnischen Justizgesetze als EU-Verstöße geahndet. "Das Problem ist, dass kein EU-Land beim Abbau einer unabhängigen Justiz so weit gegangen ist wie Polen", erklärt Piotr Buras von der Denkfabrik European Council of Foreign Relations (ECFR) in Warschau.

Eigentlich hatte die polnische Regierungspartei PiS angekündigt, das umstrittene Disziplinsystem aufzulösen. Doch die Kammer arbeitete weiter: Ende September hob sie die Immunität eines Richters auf, was zuvor durch eine Anordnung des EuGH explizit verboten worden war. Die EU-Kommission hatte daher beim Obersten Gericht Sanktionen gegen Polen beantragt.

Warum baut die polnische Regierung die Justiz um?

"Es geht um Macht", sagt der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund. Warschau wolle verhindern, dass unabhängige Richter die eigenen Projekte und Gesetze verhinderten. Daher stilisiere die PiS-Regierung den Umbau der Justiz zu einer ideologischen Auseinandersetzung hoch. So begründe man die Reformen etwa damit, angeblich alte kommunistische Kader aus den Reihen der Richter entfernen zu wollen. "Tatsächlich sind die Richter, die suspendiert und sanktioniert werden, noch sehr jung. Einige waren zu Zeiten der Sowjetunion noch nicht einmal geboren."

Es sind vorgeschobene Gründe, um die Justiz unter politische Kontrolle zu bringen, sagt Freund: "Die PiS will, dass die Richter auf die Regierung hören und deren Gesetze brav umsetzen, anstatt sie infrage zu stellen."

Piotr Buras vom ECFR schlägt in eine ähnliche Kerbe. Der Vorsitzende der PiS-Partei, Jarosław Kaczyński, beteuere schon seit 16 Jahren, den "Justiz-Impossibilismus" überwinden zu wollen, erklärt er. "Das ist ein Kunstwort, mit dem Kaczyński den Gerichten vorwirft, sie würden die Regierung an ihrer Arbeit und der Umsetzung ihrer Agenda hindern", erläutert Buras.

Warum eskaliert der Streit jetzt?

Das habe innenpolitische Gründe, meint Freund. "Man versucht den Kampf mit der EU in der Kommunikation mit den Bürgern für sich zu nutzen", sagt er. Der Politikwissenschaftler Buras erklärt sich die Eskalation durch das neuerliche Durchgreifen der EU. Den Konflikt um die Unabhängigkeit der Justiz in Polen gebe es schon lange. Die EU-Kommission habe bislang sehr viel Geduld gezeigt und alles getan, um den Streit durch Dialog beizulegen.

"Das hat die polnische Regierung über die Jahre ermutigt, bestimmte Entscheidungen aus Brüssel zu ignorieren, und sie ist davon ausgegangen, dass es auch dieses Mal klappen würde", sagt er. Die Situation habe sich aber geändert. Fundamentale Bedeutung schreibt er dem Urteil des EuGH vom Juli zu. Darin hatte das Gericht bestimmt, dass das umstrittene Disziplinarsystem in Polen geändert werden müsse.

"Das hat die Lage für die polnische Regierung massiv verkompliziert", sagt Buras. Ein Gerichtsurteil lasse keinen Spielraum mehr. Die EU könne nicht davon absehen, dass ein solches Urteil auch umgesetzt werden muss. Da dies bislang nicht geschehen sei, habe die EU nun die Strafe über eine Million Euro pro Tag festgesetzt. "Das sind Folgen, mit denen die polnische Regierung nicht gerechnet hat", sagt er.

Inwiefern bedroht der Streit die Integrität der EU?

"Der Europäische Gerichtshof hat deutlich gemacht, dass die Vorkommnisse in Polen die Rechtsordnung der EU gefährden", erklärt Freund. Wenn bestimmte Aspekte des EU-Vertrages, wie die Unabhängigkeit der Justiz, in Polen nicht mehr gelten würden, dann höre die Europäische Union im rechtlichen Sinne dort auf zu existieren.

"Die EU besteht immer aus einer Einigung auf gemeinsame Regeln. Das funktioniert aber nur, wenn sich auch alle an diese Regeln halten." Um Streit über die Auslegung der Regeln zu klären, gebe es den Europäischen Gerichtshof als die Instanz, die am Ende entscheidet. "Und wenn sich daran nicht gehalten wird, dann brechen auch alle Grundrechte für uns Europäer zusammen", sagt Freund.

Der Politologe Buras sieht vor allem die Gefahr, dass auch andere EU-Länder anfangen könnten, europäisches Recht zu brechen. "Wie kann man erwarten, dass andere Länder die Urteile des EuGH akzeptieren, wenn ein großes Mitgliedsland sich weigert, ein Grundsatzurteil anzuerkennen und umzusetzen?", fragt sich Buras.

Wie steht die polnische Bevölkerung zu dem Streit?

"Die Unterstützung für die Europäische Union ist so groß wie nie", sagt der Europaabgeordnete Freund. Mehr als 80 Prozent der polnischen Bevölkerung wollten in der EU bleiben. Es gebe nur einen harten Kern von PiS-Unterstützern, die den Konflikt mit der EU zumindest nicht schädlich finden würden. Jedoch habe der Streit um Polens Justiz über lange Zeit nur kleine Kreise in der Bevölkerung wirklich beschäftigt, so Freund.

Viele Polen profitierten von der EU-Mitgliedschaft, speziell von der Freizügigkeit. Insbesondere diejenigen, die in anderen EU-Ländern arbeiten. "Ich glaube aber, dass vielen in Polen nicht klar ist, dass die aktuelle Auseinandersetzung die polnische Mitgliedschaft und die damit verbundene Freiheit gefährdet", meint Freund.

Kommt es zum Polexit, einem polnischen EU-Austritt?

Beide Experten sind sich einig: Die Antwort heißt Nein. Weder die polnische Regierung noch die EU wolle einen Polexit. Der EU-Abgeordnete Freund verweist auf eine paradoxe Situation: Wenn die polnische Regierung EU-Recht außer Kraft setze, könne sie künftig auch nicht mehr mit Finanzmitteln aus Brüssel rechnen.

"Aber wenn das EU-Recht nicht mehr gilt und auch kein Geld mehr fließt, dann ist der Unterschied zu einem Austritt de facto nicht mehr allzu groß", sagt er. Das sei für beide Seiten keine akzeptable Lösung. Deshalb habe die polnische Regierung nur zwei Möglichkeiten, so Freund: Entweder sie leite die von der EU geforderte Justizreform ein oder sie müsse sich ehrlich machen und der (überaus EU-freundlichen) polnischen Bevölkerung erklären, dass sie den Polexit vorbereite.

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Letztlich versuche die polnische Regierung, die Grenzen des Machbaren in der EU zu testen und die Spielregeln zu verändern, glaubt Buras vom ECFR. "Wo genau das endet, ist schwer zu sagen." Am Ende müsse eine der beiden Parteien nachgeben. "Geben jedoch die europäischen Institutionen nach, würde das ihre Autorität massiv schwächen und die EU in eine schwere Krise treiben", so Buras.

Auf der anderen Seite könne die polnische Regierung nur um den Preis ihrer politischen Zukunft nachgeben. Würde die Regierung entscheiden, die Urteile des EuGH doch zu implementieren, würden Teile der Regierung wohl zurücktreten und es würde zu Neuwahlen kommen. Da der EuGH sein Urteil aber schon gesprochen und Strafen erhoben habe, gebe es auch keinen Kompromiss. "Am Ende wird also eine Seite sehr große Zugeständnisse machen müssen." Eine Beilegung des Streits ohne Gesichtsverlust sei nicht mehr möglich, sagt Buras.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Piotr Buras
  • Interview mit Daniel Freund
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