"Kompakte Ernte" Wie Russland seine Bevölkerung mit Worten täuscht

Die russische Landwirtschaft ist von strukturellen Problemen geprägt. Anstatt nach Lösungen zu suchen, erfindet die Regierung lieber neue Worte, um die Missstände schönzureden.
Russische Behörden und regierungsnahe Medien verwenden neuerdings den Ausdruck "kompakte Ernte", um unterdurchschnittliche Getreideerträge zu beschreiben. Das berichtet das russische Exil-Medium "Meduza". Die Formulierung sorgt demnach für Diskussionen im Land – auch weil sie als Versuch gewertet wird, wirtschaftliche Probleme sprachlich zu beschönigen.
Geprägt wurde der Begriff Mitte Juli 2025 von Dmitri Rylko, dem Leiter des Instituts für Agrarmarktstudien (IKAR). In einem Interview mit der Fachzeitschrift "Pole.rf" bezeichnete Rylko damit die bevorstehende Getreideernte 2025, deren Umfang zwar unter dem Rekordwert von 2023 liegt, nach Einschätzung seines Instituts jedoch stabil bleiben dürfte.
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Vor allem im Süden Russlands, etwa in der Region Rostow und in der Region Krasnodar, hat eine anhaltende Dürre die Erträge erheblich geschmälert – laut Analysten um rund 25 Prozent im Vergleich zu 2024. Andere Regionen sollen die Ausfälle teilweise kompensieren.
Kritik an Moskaus Formulierungen
Die Formulierung "kompakte Ernte" stößt bei Landwirten und in sozialen Medien auf Kritik. Ein Landwirt aus der Region Rostow sagte gegenüber der Zeitung "Nowyje Iswestija", das beschönigende Wording lenke von strukturellen Problemen im russischen Agrarsektor ab. "Das ist eine vorhersehbare Aktion der Regierung", sagte der Mann im Interview. "Moskau versucht, die Konsequenzen des schlechten Managements mit sprachlichen Neuregelungen abzufedern."
Es ist nicht das erste Mal, dass Moskau versucht, Probleme im Land durch die Verwendung neuer Begriffe abzuwenden. Seit dem Start des Angriffskriegs gegen die Ukraine bezeichnet Russland etwa wirtschaftliche Rückgänge als "negatives Wachstum", von ukrainischen Drohnen verursachte Explosionen werden in der Regel als "lauter Knall" beschrieben.
Online-Kommentatoren flüchten sich in Sarkasmus
Auch Nutzer in den sozialen Medien beschweren sich über die Wortneuschöpfungen Moskaus. "Es wird also nichts zu essen geben, aber wir sollen die Füße stillhalten?", fragt ein Nutzer im Kommentarbereich unter dem Interview mit "Pole.rf". Ein anderer Nutzer flüchtet sich in Reaktion auf die "kompakte Ernte" in Sarkasmus: "Cool", schreibt er. "Dann werde ich wohl einen dazu passenden kompakten Kühlschrank kaufen".
Trotz der Ernteverluste bleibt die Versorgungslage wohl vorerst gesichert. Russland kann voraussichtlich den Inlandsbedarf decken und weiterhin Getreide exportieren. Anders als Öl, Gas oder Metalle unterliegen russische Getreideexporte bislang keinen internationalen Sanktionen und bringen dem Land weiterhin Deviseneinnahmen.
- meduza.io: "The Kremlin’s grain spin Russia’s ‘compact harvest’ is the latest entry in its expanding euphemism playbook" (Englisch)
- newizv.ru: "'Аграрный рынок стоит'. Как 'компактный урожай' скажется на фермерах, бюджете и ценах" (Russisch)
- поле.рф: hДмитрий Рылько: Компактный урожай определил зерновой сезон 2024/2025 в России (Russisch)