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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kampf gegen Bedeutungslosigkeit Die Lage im Osten ist ernst

Felix Banaszak reist nach Ludwigslust – in eine Region, in der seine Partei politisch kaum Fuß fasst. Für den Grünen-Chef ist es eine schwierige – und riskante – Mission im Osten.
Wer den Bahnhof in Ludwigslust verlässt, kann direkt im "Berlin Grill & Pizzeria" einkehren. Tatsächlich ist die Hauptstadt nicht nur kulinarisch nah, sondern auch nur eine kurze ICE-Fahrt entfernt. Ludwigslust liegt ungefähr auf der Mitte der ICE-Strecke Berlin-Hamburg im Westen Mecklenburg-Vorpommerns. Rund 12.000 Menschen leben hier, viele von ihnen pendeln in die beiden nicht weit entfernten Großstädte. Der Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak hat es an diesem Sommermorgen andersherum gemacht: Er hat die gute Stunde Fahrt mit dem ICE von Berlin nach Ludwiglust auf sich genommen.
Auch wenn Ludwigslust nur einen Katzensprung von Berlin und Hamburg entfernt ist, liegen zwischen der alten Residenzstadt mit barockem Schloss und den beiden weltoffenen Metropolen politisch doch Welten. Bei der Bundestagswahl errang der AfD-Politiker Leif-Erik Holm das Direktmandat in dem Wahlkreis, in dem Ludwigslust liegt. Bei der Kreistagswahl haben die Grünen vergangenes Jahr drei Sitze gewonnen, die CDU 20, die AfD 19. Es ist für den Grünen-Chef Banaszak in Ludwigslust kein Heimspiel.
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Der 35-Jährige ist im Rahmen seiner Sommerreise nach Ludwiglust gekommen. Mit heller Jeans und dunklem Hemd gekleidet, lässt er sich vom Geschäftsführer der örtlichen Verkehrsgesellschaft, Stefan Lösel, den Bahnhof zeigen – aktuell eine riesige Baustelle. Denn der ICE, mit dem Banaszak nach Ludwigslust gekommen ist, war für neun Monate einer der letzten, der hierhergefahren ist – die Bahnstrecke wird saniert. Seit Freitagabend ist hier Feierabend. Für Ludwigslust ist die Sperrung eine Herausforderung. Freundlich formuliert. Was das mit dem Grundvertrauen ins System mache, so lange abgeschnitten zu sein, will Banaszak wissen und lässt sich geduldig den Rufbus erklären.
Tour durch Ostdeutschland
Seit rund acht Monaten steht Banaszak gemeinsam mit Franziska Brantner an der Spitze der Grünen. Seine traditionelle Sommerreise führt den gebürtigen Duisburger vor allem in den Osten Deutschlands. Hier sind die Grünen traditionell schwach. Doch besonders schmerzhaft dürfte für die Partei gewesen sein, dass sie vergangenes Jahr in Thüringen und Brandenburg aus den Landtagen geflogen ist. Kommendes Jahr wird wieder im Osten gewählt, in Sachsen-Anhalt und hier, in Mecklenburg-Vorpommern. In den Umfragen sieht es bisher nicht gut aus.
Für die Grünen geht es aber längst nicht mehr nur darum, die Wählerinnen und Wähler im Osten für sich zu begeistern. Sie müssen auch die Menschen bei der Stange halten, die sich dort für die Partei vor Ort engagieren. Denn ohne sie ist an einen Wahlerfolg nicht zu denken. Doch in Zeiten, in denen der Einsatz für Grünen im Osten gemeinhin als Mutprobe gilt, ist das eine Mammutaufgabe. Und die Partei muss beweisen, dass es ihr ernst ist.
"Fast wie 1933"
Denn wie katastrophal die Lage ist, zeigte gerade erst ein Hilferuf zweier grüner Kommunalpolitiker aus dem thüringischen Gotha. Sie schrieben einen Brief an die Parteispitze, berichteten von Übergriffen und Anfeindungen – von Morddrohungen beim Wahlkampf auf offener Straße. Im Gespräch mit t-online findet einer der beiden, Matthias Kaiser, drastische Worte: "Das sind ja Situationen, die einen ja fast an die Zeit vor 1933 erinnern, wenn man einfach mit einer Selbstverständlichkeit angefeindet wird."
Dass die Lage im Osten ernst ist, hat offenbar auch die Parteispitze erkannt. Im September soll es in Lutherstadt Wittenberg einen Ost-Kongress geben, um Mitglieder aus dem Osten und dem Westen miteinander zu vernetzen. Vor einigen Wochen kündigten die Grünen eine Art Ost-Offensive an: Ein neuer Beirat, in dem auch externe Mitglieder sitzen sollen, soll weitere Ideen und Anregungen entwickeln. Banaszak selbst will bald ein Büro in Brandenburg an der Havel eröffnen, um auch außerhalb Berlins und seines Wahlkreises im Duisburger Norden ansprechbar zu sein.
Schnack mit Banaszak
Er sei auf seiner Sommerreise im Osten unterwegs, "um zu erspüren, was im Argen liegt", sagt er im Büro der Grünen in Ludwigslust. Rund ein Dutzend Parteimitglieder und Sympathisanten haben sich hier zum "Schnack mit Felix Banaszak" versammelt. Es gibt Kaffee, belegte Brötchen und Bio-Limonade. Die Gruppe versammelt sich in dem kleinen Raum mit großem Fenster um einen großen Tisch herum. Hier können Fragen an den Parteichef aus dem nahen und doch so fernen Berlin gestellt werden. An Felix, wie sie ihn hier einfach nennen.
Der gibt sich zugänglich und nahbar. Er sei ein "Kind des Ruhrgebiets", gibt er freiheraus zu. Diese Reise hier, die mache er auch als "Lernreise". Man müsse hier jetzt in einer "extrem angespannten Lage wieder ein Fundament bauen", so Banaszak, der offenbar nicht zu hohe Erwartungen schüren will und das erste Mal in Ludwigslust ist. "Unsere Strategie als Bundesgrüne ist es, im Osten wieder mehr Fuß zu fassen. So muss man es demütig und nüchtern sagen, weil es nicht darum geht: Wir schreiben jetzt ein Papier und dann haben wir demnächst hier 25 Prozent."
In dem Gespräch im Büro der Grünen geht es auch um die großen politischen Themen, um das Sondervermögen oder den EU-Zolldeal mit den USA. Doch immer wieder kommen die besonderen Probleme der Grünen im Osten zur Sprache. Da wird berichtet von Anfeindungen, von Entfremdung auch innerhalb von Familien wegen der politischen Differenzen. Vom Osterfeuer oder der Weihnachtsfeier, wo die Hälfte der Gäste wohl AfD gewählt hat. "Das sind Menschen wie du und ich", sagt ein älterer Mann.
Nur Durchhalteparolen?
Die Angst vor der AfD ist hier allgegenwärtig. Die Sorge davor, dass eine Partei, die der Bundesverfassungsschutz als extremistischen Verdachtsfall eingestuft hat, nach den Wahlen im kommenden Jahr an einer Regierung in Mecklenburg-Vorpommern beteiligt sein könnte. Immer wieder fällt die Frage nach einem AfD-Parteiverbotsverfahren. Es ist ein Vorhaben, das die Grünen unterstützen. Für einen entsprechenden Antrag fehlt aber bisher die politische Mehrheit.
Einigkeit herrscht hier aber im kleinen Kreis in Ludwigslust: Man wolle sich weiter engagieren, nicht klein beigeben, "Stellung beziehen". Auch wenn Ressourcen oft knapp seien und die Zeit fehle. Banaszak kann erleichtert sein, geradezu einschwörend sagt er: "Demokratie gibt es nicht ohne Demokratinnen und Demokraten." Mehr als eine Durchhalteparole?
Kommunalpolitiker Kaiser aus Thüringen kann mit aufbauenden Worten wenig anfangen. "Also, Bedauern und Solidaritätsbegründungen, die haben wir genügend. Da brauchen wir auch die von Herrn Banaszak beispielsweise nicht. Sondern, was wir brauchen, sind einfach Taten", klagt Kaiser. Er hat Banaszak nach seinem Hilferuf auch getroffen, als dieser in Thüringen unterwegs war. Was ihm helfen würde, seien Ressourcen, um eine Kreisgeschäftsführerin einzustellen, die sich um die Mitglieder kümmere, die schaut, dass die Geschäftsstelle besetzt sei, sagt er.
"Ich sag' mal so, bei jeder Rolle Klopapier geht irgendeiner ehrenamtlich los und kauft die", schildert er den Alltag in der Kreisgeschäftsstelle in Gotha. Er sitzt für die Grünen im Kreistag und macht sich keine Illusionen. Kommunalpolitik, das sei kein Politikfeld, in dem es Reichtümer zu verteilen gebe. "Aber das ist was ganz Konkretes, was Handfestes, wo man einfach versucht, im Ringen miteinander die beste Lösung zu finden, gute Dinge für die Leute vor Ort zu organisieren."
Eine westdeutsche Partei
Damit Grüne wie Kaiser nicht irgendwann aufgeben, müssen Grüne wie Banaszak mindestens eine Perspektive aufzeigen, wie sich die Situation im Osten konkret verbessern kann. Denn Kaiser wirkt desillusioniert. Er findet, die Grünen müssten sich entscheiden, ob sie jetzt wirklich etwas ändern oder den Osten vielleicht sogar einfach aufgeben. "Es ist zwar aus meiner Sicht falsch, aber nachvollziehbar, wenn man sagt: Passt auf, wir konzentrieren uns auf Bereiche, die unserem Zweck, gute Wahlergebnisse zu erzielen und eine möglichst starke Bundestagsfraktion zu haben, dienen."
Gelingt der Partei im Osten keine Wende, droht ihr dort nicht nur Bedeutungsverlust. Die Region kann auch zu einer strategischen Last für die Grünen werden, wenn Anfeindungen weiter zunehmen und bei Wahlen keine Erfolge erzielt werden. Welchen Stellenwert der Osten aktuell in der Partei hat, die mit Bündnis 90 die Wiedervereinigung im Namen trägt, lässt sich schon an wenigen Zahlen aufzeigen. Im sechsköpfigen Vorstand der Partei ist mit Heiko Knopf aktuell nur ein Ostdeutscher vertreten. Im Bundestag zeigt sich das Ungleichgewicht noch stärker. Im zwölfköpfigen Fraktionsvorstand gibt es nur ein Mitglied aus dem Osten, Claudia Müller.
Die Grünen sind eine westdeutsch geprägte Partei. Die Zeit nach der Wiedervereinigung im Osten war geprägt von Massenarbeitslosigkeit und Existenzangst. Da konnten die Grünen nur schwer anknüpfen mit ihren ideellen Wertvorstellungen, die weit über rein materielle Interessen hinausgehen. Hier können Sie mehr zum Ost-Problem der Grünen nachlesen.
Banaszaks Ost-Büro als Vorbild
Kaiser aus Thüringen findet die Idee von Banaszaks Büro in Brandenburg an der Havel gut. Aber er würde sich wünschen, dass weitere Bundestagsabgeordnete dem Beispiel folgen – und ihrerseits auch Büros im Osten aufmachen. Bei Vorhaben wie dem Ost-Kongress ist er hingegen skeptisch, dass sie wirklich etwas verändern. "Das sind so Formate, die sind erst mal sehr plakativ, das hört sich gut an, da wird viel geredet. Das hilft uns nur alles wenig bis nichts", sagt er. Diese Meinung teilen allerdings nicht alle.
Gabriele Raasch gehört dem Kreisvorstand Ludwigslust-Parchim der Grünen an, auch sie ist zum "Schnack mit Banaszak" gekommen. Beim gemeinsamen Austausch mit dem Spitzenpolitiker ist sie es, die das Gespräch direkt auf das Thema Osten lenkt – von Banaszak wissen will, wie es weitergeht. Später sagt sie, dass Projekte wie der Ost-Kongress helfen würden, die Motivation wieder zu steigern. Insgesamt wirkt sie viel optimistischer als ihr Kollege aus Thüringen.
Das mag auch daran liegen, dass sie die Situation hier im Norden als "noch nicht ganz so heftig" empfindet. Ein Blick in die Geschichte von Ludwigslust zeigt außerdem, dass die Stadt einst eine grüne Präsenz hatte. Der frühere Bürgermeister (1990-2009) Hans-Jürgen Zimmermann war auch Mitglied der Grünen. Doch auch Raasch, die in Schwerin lebt, erlebt Anfeindungen als Grüne – besonders im Wahlkampf. An Ständen würde herumgepöbelt. Da werde auch schon mal der Tisch gekippt, sodass alles herunterfalle, erzählt sie.
Banaszak scheint sich im Klaren darüber zu sein, dass auf die Grünen ein hartes Stück Arbeit zukommt. Die Partei hat nicht nur im Osten mit schlechten Umfragen zu kämpfen, sondern nach ihrer Regierungsbeteiligung in der Ampelkoalition bundesweit. Gelingt bundesweit kein Aufschwung, ist an Erfolge im Osten schon gar nicht zu denken. Banaszak gibt in Ludwigslust offen zu, dass er nicht sicher sei, dass es nach den Wahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern im kommenden Jahr noch eine Landtagsfraktion geben werde. Er wisse nicht, ob es einen "schnellen Erfolg" geben werde. "Da wird noch Zusatzarbeit nötig sein."
Der Parteichef gibt zwar lange Antworten, nach einer Frage zum Sondervermögen redet er ganze zehn Minuten lang. Doch es wirkt nicht wie der phrasenhafte Berliner Politiksprech. Der Westdeutsche, der einst Chef der Grünen Jugend war und in Berlin Kultur- und Sozialanthropologie studiert hat, scheint sich – vorerst? – eine Authentizität bewahrt zu haben, die sich von der oft abgehobenen Hauptstadtmentalität unterscheidet. Manchmal steht er fast ein bisschen hilflos herum – wohin jetzt setzen, wie geht's jetzt weiter?
Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern, die mit den Grünen nichts am Hut haben, steht in Ludwigslust für Banaszak nicht auf dem Programm. Hier und da ein Passant, der am Bahnhof oder auf dem Weg ins Grünen-Büro neugierig schaut. Die meisten von ihnen scheinen sich nicht sicher zu sein, ob er es wirklich ist oder woher man den kennt. Kommt doch mal jemand auf ihn zu, lächelt Banaszak freundlich und versucht, fast ein bisschen verschüchtert, dennoch so aufgeschlossen wie möglich rüberzukommen.
Der Westen ganz nah – und doch so fern
Für den 35-Jährigen geht die Reise nach seinem Stopp in Ludwigslust weiter nach Dömitz, gut 40 Minuten Autofahrt entfernt. Die kleine Festungsstadt an der Elbe ist ein symbolträchtiger Ort für die deutsche Wiedervereinigung. Dömitz liegt direkt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Die Elbebrücke Dömitz wurde nach der Wiedervereinigung wieder instand gesetzt und verbindet Ost und West.
Banaszak lässt sich das Örtchen mit seiner malerischen Altstadt zeigen. Ein Schild wirbt hier für "Original DDR Softeis und Kettwurst". Bei der Führung dabei ist auch Philipp Lübbert, eines der drei grünen Kreistagsmitglieder in Ludwigslust-Parchim. "Wir müssen wehrhaft sein gegen Rechtsextremismus", sagt er an Banaszak gerichtet. Dafür brauche es aber auch das Rüstzeug.
Als es heftig zu regnen beginnt, spannt der Grünen-Chef einen riesigen Regenbogenschirm auf. Den habe ihm seine Ko-Parteichefin Katharina Brantner in Heidelberg geschenkt. Irgendwann kommt die Sonne wieder hervor, dann ist doch noch genügend Zeit, die paar Schritte zur Elbe zu laufen.
Wer mit dem Auto über den Fluss fährt, landet im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg. Nur ein paar Minuten Fahrt sind das. Dass hier gewählt wurde, ist zwar schon ein bisschen her, 2021 war das. Im Kreistag hat die AfD hier aber nur zwei Sitze errungen, die CDU elf, die SPD sieben, die Grünen immerhin sechs. Doch Banaszak steht auf der anderen Seite der Elbe, im Landkreis Ludwigslust-Parchim. Im Osten.
Für Banaszak ist seine Tour durch Ostdeutschland auch ein Risiko. Denn spätestens bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr wird sich zeigen, ob die Ost-Offensive der Parteispitze, der Banszak gerade ein Gesicht gibt, Früchte trägt. Die Ergebnisse werden nicht nur die Zukunft der Grünen im Osten bestimmen. Sie werden auch Gradmesser für den Erfolg von Banaszak in seiner Rolle als Parteivorsitzender sein.
- Begleitung von Banaszak in Ludwigslust und Dömitz
- Telefoninterview mit Matthias Kaiser
- Eigene Recherchen
- Ergebnisse der Bundestagwahl bei bundeswahlleiterin.de