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"Ostschild" in Polen: Was, wenn Russland die Nato angreift?


So rüstet Polen seine Grenzen auf
"Idee aus dem 2. Weltkrieg, aber sie funktioniert noch"


Aktualisiert am 02.08.2025 - 10:31 UhrLesedauer: 7 Min.
Polnischer Kampfingenieur Michał Bednarko vor dem "Ostschild" (Fotomontage): Die Anlage soll Polen im Falle eines Angriffs Zeit verschaffen.Vergrößern des Bildes
Der polnische Kampfingenieur Michał Bednarko vor dem "Ostschild" (Fotomontage): Die Anlage soll Polen im Falle einer russischen Offensive Zeit verschaffen. (Quelle: Malte Bollmeier/Montage: Axel Krüger)
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Panzersperren, Minenfelder, Bunkertunnel: Aus Angst vor einem russischen Angriff befestigt Polen seine Grenzen. Aber könnte der "Ostschild" einen russischen Einmarsch wirklich verhindern?

Ein Reh tapst zwischen hüfthohen Betonbrocken herum. Es trippelt durch die erste Reihe der grauen Ungetüme, danach durch eine zweite und schließlich eine dritte. Ein letztes Mal blickt es sich um und schnuppert, ob Gefahr droht. Dann hüpft es in die Blumenwiese hinter den Felsen und verschwindet.

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In Kriegszeiten wäre das Reh jetzt wohl tot. Denn die grauen Brocken sind keine Felsen, sondern Panzersperren, und unter den Blumen würden vermutlich Landminen lauern. Das Tier wäre in die Luft gesprengt worden, denn es ist durch den "Ostschild" nahe der russischen Exklave Kaliningrad gelaufen.

Als "Ostschild" bezeichnet die polnische Regierung die Anlage, mit der sie Polens Grenzen zu Kaliningrad und zu Belarus verteidigen will, für den Fall, dass Russland angreift. 2024 hat der Bau begonnen, bis 2028 soll er fertig sein. Kosten: 2,3 Milliarden Euro. Wo es möglich ist, will die polnische Armee zum Schutz der 650-Kilometer-Grenze Wälder, Seen, Flüsse und Sümpfe nutzen. Aber die Grenzgebiete bestehen zu guten Teilen aus Feldern und Wiesen, über die russische Panzer leicht hereinfahren könnten.

Für diese taktischen Schwachstellen hat Polens Armee eine mehrstufige Abwehr entwickelt: Stacheldraht und Minenfelder, Panzergräben und Panzersperren, Bunker und Schützengräben sowie Sensoren und Störsender gegen Drohnenattacken. Landminen sind zwar eigentlich laut dem Ottawa-Abkommen verboten, Tusk will aber demnächst daraus aussteigen, damit die Armee sie im "Ostschild" verwenden kann. Ein Abschnitt des neuen Bollwerks ist bereits großteils fertiggestellt und befindet sich in der Nähe des Dorfes Momajny in der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Wie die Anlage aussieht, erfahren Sie hier im Video.

Video | Video: So sieht der "Ostschild" aus
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Quelle: t-online

Das Land "könnte aufhören zu existieren"

Aus Angst vor einem russischen Angriff hat Polen schon im Juli 2023 Truppen an seine Ostgrenze zu Belarus verlegt. Russlands Präsident Wladimir Putin drohte daraufhin, jeder Angriff auf Belarus werde als Aggression gegen Russland aufgefasst und seine Armee werde mit allen verfügbaren Mitteln reagieren. Auch russische Intellektuelle meldeten sich zu Wort, wie der Politikwissenschaftler Andrej Sidorow. Im Oktober 2024 sagte er im Staatsfernsehen, Polen könnte "aufhören zu existieren", falls es gegen Belarus und Russland vorgehe.

Wenn es nach Polens Ministerpräsident Donald Tusk ginge, wären Europa und Polen schon 2027 abwehrbereit, also ein Jahr, bevor der "Ostschild" laut Plan fertig werden soll. Tusks Regierung werde in den kommenden zwei Jahren alles tun, um die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, kündigte er vergangene Woche bei einer Bürgerversammlung an. Er berief sich dabei auf den neuen Nato-Oberbefehlshaber Alexus Grynkewich, demzufolge Russland und China bis 2027 so weit erstarken könnten, dass sie eine Konfrontation mit der Nato und den USA suchen.

Kampfingenieur: "Das ist eine Idee aus dem Zweiten Weltkrieg"

Was abwehrbereit konkret heißt, erläutert Kampfingenieur Michał Bednarko auf der Blumenwiese nahe Kaliningrad. Zusammen mit einigen weiteren Soldaten stellt er den "Ostschild" vor. Bednarko, hochgewachsen, in Flecktarnuniform und auf dem Kopf ein Barett, stapft über den lehmigen Acker an piependen Baggern vorbei, besteigt einen Erdhaufen und duckt sich dann in einen Tunnel, der in einen halb fertigen Schützengraben mündet.

Rund zwei Wochen dauere der Bau von Graben, Panzerbucht und Bunkern, sagt Bednarko. "Hier würden die Soldaten mit ihrem Gewehr, Maschinengewehr oder einer Panzerfaust sitzen und die Grenze verteidigen." Das Wort "sitzen" ist entscheidend, denn die mit Beton verschalten Gräben reichen nur bis zur Brust; wer aufrecht steht, würde im Gefecht einen Kopfschuss riskieren.

Trotzdem sei das effektiv: "Schützengräben und Bunker sind eine Idee aus dem Zweiten Weltkrieg, aber sie funktionieren noch heute und stoppen den Feind. Sowohl die Ukrainer als auch die Russen nutzen diese altmodische Methode." Im Unterschied zu damals hätten die Soldaten heute bessere Technik. So bringen sie etwa eine Kamera am Gewehr an, um nicht selbst aus dem Graben schauen zu müssen. Dann halten sie die Waffe über den Kopf und drücken ab.

Wenn die Frontkämpfer Bescheid geben, schießen die Kanonen los

Im Ernstfall müssten die Soldaten Tag und Nacht in den Gräben hocken, die Vorräte reichen bis zu zwei Wochen. Eine Tür gegen den Wind hat der Bunker nicht, geschweige denn Heizung, Dusche und Toilette. Von hier aus blicken die Kämpfer über das Minenfeld und die Sperren bis zu einem dichten Wald, hinter dem Kaliningrad liegt. Die Grenze darf nur von fern gefilmt oder fotografiert werden, Anweisung des polnischen Geheimdienstes. Warum das verboten ist, wissen die Soldaten aber nicht.


Anführungszeichen

Falls die feindliche Artillerie genau in den Schützengraben trifft, hilft dir auch der Bunker nicht mehr.


Armee-Ingenieur Michał Bednarko


Die Soldaten sollen vom Bunker aus nicht nur Angreifer beschießen, sondern auch ihre Kameraden in den benachbarten Gräben ein paar Hundert Meter weiter decken und ihnen per Funk Koordinaten von lohnenden Zielen durchgeben, etwa von einem anrückenden Panzer. Da schießen dann von weiter hinten oder aus der Luft Kanonen, Kampfjets und Drohnen darauf. Die Frontkämpfer sind also nicht alleine, sondern führen ein "Gefecht der verbundenen Waffen" – der Nato-Standard – und arbeiten mit anderen Teilen der Armee zusammen. Auch zu ihrer eigenen Sicherheit.

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Und Bednarko? Fühlt er sich in dem Graben sicher, sollte eine russische Invasionsarmee mit Hunderten Panzern und Tausenden Drohnen die Grenze überqueren? Seine Antwort: Im Graben sei es immerhin besser als auf dem offenen Feld, und die Soldaten hätten je einen Panzer zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken. "Dann fühlt man sich stark und denkt sich: 'Ich werde das hier verteidigen!'" Er räumt aber ein: "Falls die feindliche Artillerie genau in den Schützengraben trifft, hilft dir auch der Bunker nicht mehr – aber das passiert nur sehr selten."

Landwirt: "Niemand respektiert schwache Nationen"

Wer wissen will, was die Anwohner vom "Ostschild" halten, fährt landeinwärts über Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher in das Dorf Momajny. Das besteht aus rund zwei Dutzend Höfen und Häusern, von denen aber etliche Ruinen sind, aus deren Fenstern Büsche und kleine Bäume wuchern. Nur wenige Autos fahren auf den Straßen und Wegen, dafür klappern auf den Strommasten Störche, und ein Schild warnt vor kreuzenden Kühen. Die Uhren an der Kirche im Ortskern sind stehen geblieben. Ihr gegenüber steht ein vier Meter hohes Kruzifix mit einer vergoldeten Jesusfigur, das Einzige, was hier noch zu glänzen scheint.


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Und dann ist da der Hof von Karol Misior. Der 43-Jährige winkt zur Begrüßung nur, denn er hat gerade noch mit seinem Sohn am Traktor geschraubt, seine Hände sind ölverschmiert. Den "Ostschild" bezeichnet er als "Geldverschwendung". "Vor 100 Jahren hätten Panzersperren und Schützengräben funktioniert. Aber wenn die Russen 200 Drohnen schicken, bringt das nichts", ist Misior überzeugt. Die Armee solle lieber etwas Moderneres bauen wie den "Iron Dome" in Israel, also eine Flugabwehr, und die am besten aus polnischer Produktion.

Dennoch ist Misior dafür, das Militär zu stärken und sich vorzubereiten: "Niemand respektiert schwache Menschen und niemand respektiert schwache Nationen." Nur so könne Polen verhindern, wieder unter russische Kontrolle zu geraten wie zu Sowjetzeiten. Denn auch er hält es für sehr wahrscheinlich, dass die russische Armee angreift. Aber er fürchtet sich nicht davor: "Ich habe schon Blutkrebs überstanden. Man kann nicht in ständiger Angst vor der Zukunft leben."

Anwohner: "Die russische Armee ist gefährlich"

Fünf Kilometer weiter liegt das Dorf Skandawa. Hier gibt es weniger Ruinen als in Momajny, dafür stehen am Straßenrand Blumengestecke mit Holztöpfen in Elchform und eine Bushaltestelle, in die jemand formatfüllend die Cartoon-Figur SpongeBob gemalt hat. Schräg gegenüber vom Dorfteich schleppt gerade der 15-jährige Paweł den Einkauf für seine Mutter aus dem Auto ins Haus.

Nach dem "Ostschild" gefragt, übersetzt er für sie ins Englische und sagt: "Wir haben Angst vor der russischen Armee. Die ist gefährlich, auch ohne Ukraine-Krieg." Den "Ostschild" finden er und seine Mutter daher "gut", und seit die Bauarbeiten begonnen haben, fühlen sie sich wieder sicher. Auf der anderen Straßenseite, neben dem Teich, wohnen der 20-jährige Milosz und seine Mutter Eva. Auch sie finden es gut, dass die Grenze befestigt wird, auch sie fürchten sich vor einem Angriff Russlands. Denn ein Krieg würde sie zuerst treffen.

Experte: Im Ernstfall nach Kaliningrad hineinfahren

Doch was würde der "Ostschild" im Kriegsfall tatsächlich taugen? Der deutsche Militärexperte Nico Lange hält es für "ausdrücklich sinnvoll, Technik von heute und aus dem Zweiten Weltkrieg zu kombinieren, also High-Tech und Low-Tech". Das habe sich auf modernen Schlachtfeldern bewährt. Mit einer Kombination aus Panzersperren, Minenfeldern und elektronischem Kampf für die Drohnenabwehr habe beispielsweise die Ukraine die russische Armee gut ein Jahr lang bei der Kleinstadt Wuhledar aufgehalten.

"Es ist ganz schwer, durch solche Verteidigungsanlagen zu brechen", sagt Lange. Die russische Armee würde im Kriegsfall aufgrund des "Ostschilds" deutlich langsamer vorankommen und müsste größere Verluste hinnehmen. Beides zusammen erhöhe die Abschreckung, könnte also dazu führen, dass Russland gar nicht erst angreift.

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(Quelle: Tobias Koch)

Zur Person

Nico Lange ist Politikwissenschaftler und Publizist. Von 2006 bis 2012 leitete er das Auslandsbüro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine. Von 2019 bis 2022 führte Lange den Leitungsstab im Bundesverteidigungsministerium. Aktuell ist er unter anderem Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative bei der Münchener Sicherheitskonferenz.

Am Begriff "Ostschild" stört sich Lange allerdings: "Es ist eine politische Illusion, zu behaupten: 'Wir bauen lediglich einen Schild oder eine Mauer auf, und dann sind wir sicher.'" Die Geschichte habe gezeigt, dass reine Abwehrsysteme nie ausreichten, wie etwa die französische Maginot-Linie oder der deutsche Westwall im Zweiten Weltkrieg gezeigt hätten.

Statt der Idee, sich nur hinter seiner Flugabwehr einzuigeln, wäre es im Ernstfall sinnvoller, direkt die Drohnenfabriken, Flughäfen und Flugzeuge Russlands zu zerstören. Die Nato müsste bei einem Angriff Russlands sofort Gegenschläge auf russisches Territorium starten und auch nach Kaliningrad hineinfahren. "Das ist die militärische Wahrheit", sagt Lange.

Ingenieur: "Sie werden durchbrechen"

Dass ein Bollwerk alleine nicht reicht, sagt auch Kampfingenieur Bednarko, als er seine Bunkerbaustelle verlässt. Die Anlage hier auf dem Acker nahe Momajny solle die russischen Soldaten im Ernstfall vor allem dazu bringen, an einer weniger offenen Stelle einen Durchbruch zu versuchen. "Und sie werden durchbrechen – aber dann an einem Ort, an dem wir sie leichter bekämpfen können." Auch er sagt: "Es wäre falsch, die Russen zu unterschätzen. Sie sind eine Bedrohung."

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