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Jahresrückblick 2019: Demokratie in Gefahr? Clowns wie Trump kommen und gehen


Die neuen 20er-Jahre
Die Clowns, sie kommen und gehen

MeinungVon Gerhard Spörl

Aktualisiert am 30.12.2019Lesedauer: 4 Min.
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US-Präsident Donald Trump und der britische Premier Boris Johnson: Ihre politische Zukunft könnte unterschiedlicher nicht sein, glaubt unser Kolumnist.Vergrößern des Bildes
US-Präsident Donald Trump und der britische Premier Boris Johnson: Ihre politische Zukunft könnte unterschiedlicher nicht sein, glaubt unser Kolumnist. (Quelle: Montage: t-online.de/imago-images-bilder)

Das Jahrzehnt endet und die Demokratie schlittert in unruhige Zeiten. Alles kein Problem, meint unser Kolumnist – wenn wir uns an zwei Prinzipien halten.

Mein Vater hat am 1. Januar Geburtstag. Übermorgen wäre er hundert Jahre alt geworden: Ein Bauernsohn aus einer kleinen Stadt an der Grenze Frankens zu Thüringen, intelligent genug, um aufs Gymnasium zu gehen, aber seine Eltern konnten das Schulgeld nicht aufbringen. Mit 19 Soldat geworden, zuerst in Frankreich, dann an der Ostfront. In der Nähe von Charkiw schwer verwundet, von seinen Kameraden in die Etappe geschleppt, im Lazarett beide Beine amputiert, fortan auf Prothesen angewiesen. Nie geklagt, nie gejammert, er hatte ja überlebt, und wie viele hatten nicht überlebt. Geheiratet, zwei Kinder gezeugt, ein Haus gebaut.

Ein kleines deutsches Heldenleben im 20. Jahrhundert, ohne Bohei, aber mit wachsendem Selbstbewusstsein geführt und mit 88 friedlich gestorben.

Meine Tochter wird im März 20 Jahre alt. In den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts wird sie aller Voraussicht nach Volljuristin werden. Sie ist Vegetarierin, findet die Fridays-for-Future-Bewegung gut, ihre Bewunderung für Angela Merkel hat dagegen abgenommen. Sie denkt politisch und juristisch, sie ist ebenso leidenschaftlich wie maßvoll. Sie sucht ihren Platz im Leben und bringt alle Voraussetzungen mit, ihn zu finden und einzunehmen. Auf sie kann man bauen.

Aber kann man auf die Welt um sie herum bauen?

Ich bin skeptischer Optimist. Damit meine ich: Meine Lebenserfahrung sagt mir, es wird schon gut gehen, auch wenn es momentan nicht danach aussieht. In den letzten Jahren ereignete sich viel Bedrohliches, schon wahr, von Trump über Brexit bis zur AfD, und nichts davon geht so schnell vorbei, wie wir es uns wünschen mögen. Wir müssen damit leben lernen. Unsere Kinder müssen damit leben lernen.

Wohin es geht, wer weiß es?

Aber nichts muss dauerhaft so bedrohlich bleiben, wie es ist. Immer kann es anders kommen als befürchtet. Geschichte ist keine gerade Linie. Es geht auf und ab und meistens sogar gleichzeitig auf und ab. Geschichte ist ein widersprüchlicher Prozess, was sonst. Das hat nicht Georg Wilhelm Friedrich Hegel, sondern der Geheimrat von Goethe wunderbar in Worte gefasst. Seinen Egmont lässt er im gleichnamigen Drama sagen: "Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder weg zu lenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam."

Wohin es geht, weiß ich natürlich auch nicht, aber trotzdem will ich mal zwei Prognosen wagen: Erstens wird der nächste US-amerikanische Präsident, der erst 2025 ins Amt kommt, das krasse Gegenteil von Donald Trump sein. Was nicht heißen soll, dass der Neue dann alles richtig machen wird, genauso wenig wie Barack Obama alles richtig machte, aber wir und unsere Kinder werden dann durchatmen und auf das Beste hoffen. Und zweitens wird Boris Johnsons Verweildauer in Downing Street 10 rascher enden, als er meint. Die Clowns, sie kommen und gehen.

Geschichte wiederholt sich nicht

Unsere Zwanzigerjahre messen wir notorisch an den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts. Der Vergleich ist ebenso verständlich wie sinnlos. Geschichte wiederholt sich nicht, auch nicht als Farce. Wir leben seit 70 Jahren mit einer Demokratie, die damals unsere westlichen Alliierten den Deutschen auferlegten. Sie ist gefestigt und nicht etwa nur ein kurzes Zwischenspiel zwischen Nachkriegsanarchie und Weltwirtschaftskrise.

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Unsere Demokratie ist nicht mehr so lupenrein wie noch vor wenigen Jahren, schon wahr, aber das heißt noch nicht, dass sie wackelt oder brüchig ist. Im Nachhinein wäre es besser gewesen, wenn Angela Merkel vor zwei Jahren nicht mehr angetreten wäre: für sie wie das Land. Stattdessen erleben wir bleierne Jahre, in denen die Kanzlerin die Zügel nicht so mutig fasst, wie Egmont es empfiehlt, damit die Sonnenpferde nicht durchgehen.

In Umbruchszeiten herrscht Dauererregung

Unsere Zwanziger werden als Umbruchsjahre beginnen. Dass sich Demokratien häuten, kann gar nicht ausbleiben. Dass sie sich den Veränderungen der Gesellschaft anpassen, geschieht fast immer mit Verspätung. Dass die Liberalität an Überzeugungskraft verliert, ist ebenso schade wie verständlich, muss aber auch nicht auf alle Ewigkeit so bleiben. Demokratien durchleben Zyklen, ist wohl einfach so.

In der Umbruchszeit geben wir uns Dauerregungen hin, als ginge es ständig um historisch Einmaliges. Wer wird Kanzlerin oder Kanzler, wer soll, wer darf es sein? AKK oder Merz oder Laschet? Ja, wichtig ist diese Entscheidung, aber nicht überragend wichtig. Eine Durchschnittskanzlerin oder ein Durchschnittskanzler mit hoher Aufmerksamkeitsspanne wäre schon genug, eine oder ein junger Merkel, denn so fing auch sie an. Vor allem anderen kommt’s darauf an, wie sich die Weltwirtschaft bei gedrosseltem Handelskrieg entfaltet und ob sich die Phantasie deutscher Ingenieurkunst in der nächsten Phase des digital bestimmten Kapitalismus zu neuen Höhen aufschwingt oder nicht.

Unsere Zwanziger beginnen jetzt und wir sollten sie neugierig und selbstbewusst begrüßen. Oder wie man im Rheinland unschlagbar sagt: Et hätt noch immer jot jejange.

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