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Vor dem Impfgipfel: "Ohne neue Terminvergabe wird es ein Impfchaos geben"


Vor dem Impfgipfel
"Ohne neue Terminvergabe wird es ein Impfchaos geben"

  • David Schafbuch
InterviewVon David Schafbuch

Aktualisiert am 26.04.2021Lesedauer: 5 Min.
Interview
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Lange Schlange vor einem Impfzentrum in Berlin: Die Aufhebung der Impfpriorisierung könnte den Druck nicht nur auf die Zentren deutlich erhöhen (Archivfoto).Vergrößern des Bildes
Lange Schlange vor einem Impfzentrum in Berlin: Die Aufhebung der Impfpriorisierung könnte den Druck nicht nur auf die Zentren deutlich erhöhen (Archivfoto). (Quelle: Bernd Friedel/imago-images-bilder)

Der Makroökonom Sebastian Dullien berechnete jüngst, ab wann Deutschland vollständig geimpft sein kann. Im Interview mit t-online erläutert er, welche Maßnahmen dafür nun getroffen werden müssen.

In etwas mehr als einem Monat soll es so weit sein: Ab Anfang Juni soll sich jeder Erwachsene in Deutschland gegen das Coronavirus impfen lassen können. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Kanzleramtschef Helge Braun gehen bis dahin davon aus, dass alle Risikogruppen durchgeimpft sind und dann die breite Bevölkerung an der Reihe ist. Wie es genau weitergehen soll, ist eines der zentralen Themen auf dem heutigen Impfgipfel im Kanzleramt.

An der Menge der Impfdosen und am Personal soll der Zeitplan laut Sebastian Dullien nicht scheitern: Der Volkswirt ist wissenschaftlicher Direktor am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. In den letzten Monaten beobachtete Dullien intensiv die deutsche Impfkampagne und stellte Berechnungen an, ab wann Deutschland ausreichend Impfstoff zur Verfügung hat.

Im Gespräch mit t-online erläutert er, welche Fehler bisher gemacht wurden, wie sich ein Terminchaos nach Ende der Priorisierung vermeiden lässt und warum die Freigabe des Mittels von Astrazeneca vorerst wirkungslos bleibt.

t-online: Herr Professor Dullien, die Bundeskanzlerin sagte jüngst, dass "echt nicht alles schiefgelaufen" sei bei der Impfversorgung. Hat sie recht?

Sebastian Dullien: Einige Dinge sind nicht gut gelaufen. Vor allem in der Beschaffung des Impfstoffes und bei den abgeschlossenen Verträgen wurden Fehler gemacht. Pro Kopf hatten wir gerade zu Beginn deutlich weniger Impfstoff als andere Länder. Eigentlich gibt es keinen Grund, warum wir weniger Impfstoff hatten als die USA oder Großbritannien. Wir hätten besser verhandeln müssen. Mit dem Impfstoff, den Deutschland hatte, ist die Kampagne aber vernünftig gelaufen. Die Mittel wurden richtig verteilt und auch verimpft. Es ist auch nicht ungewöhnlich viel liegen geblieben. Von dem vorhandenen Impfstoff wurde nach kurzer Anlaufphase immer etwa 80 Prozent zügig gespritzt. Das ist vergleichbar mit den Quoten der USA.

Nun steht ein Impfgipfel bevor, in dem vermutlich über die Aufhebung der Impfpriorisierung diskutiert wird. Kanzleramtschef Helge Braun und Gesundheitsminister Jens Spahn halten das ab Anfang Juni für möglich – wenn bis dahin alle Risikogruppen mindestens einmal geimpft wurden. Ist das realistisch?

Im Grunde schon. Ab Mai erhalten wir sehr große Mengen an Impfstoff vor allem von Biontech, die für alle Risikopatienten reichen sollten. Dann kann man ab Juni mit der breiten Bevölkerung beginnen.
https://compass.pressekompass.net/compasses/tonline/darf-es-freiheiten-fr-geimpfte-geben-bev-TW1Tki

Dann werden unsere Ärzte sehr viel zu tun haben. Ist unsere Infrastruktur überhaupt darauf ausgelegt, alle Menschen zügig zu behandeln?

Man muss sehr genau überlegen, wie das funktionieren soll. Grob geschätzt kämen dann 35 Millionen Menschen für eine Impfung infrage. Auch wenn nicht jeder das Angebot annimmt, glaube ich: Gut 25 Millionen Menschen wollen sich dann auf einmal impfen. Wenn man das nicht kanalisiert, haben wir ein Problem. Die Betriebsärzte müssen dann auf jeden Fall eingesetzt werden. Es darf nicht jeder in die Praxen und Impfzentren rennen. Und es muss klar sein: Es braucht Zeit, um so viele Menschen zu impfen.

Müssten Bund und Länder jetzt irgendwelche Vorkehrungen treffen, damit Anfang Juni kein Chaos ausbricht?

Man muss jetzt überlegen, wie die Termine vernünftig vergeben werden und welche Infrastruktur dafür genutzt werden kann. Denkbar wäre etwa, dass sich an jedem Tag andere Geburtsjahrgänge anmelden können. Dadurch könnte man Termine entzerren. In Nordrhein-Westfalen wurden zum Beispiel zu Beginn sehr viele Menschen gleichzeitig angeschrieben. Die wollten sich dann alle sofort anmelden und das System war direkt überlastet. Das sollte man jetzt vermeiden.

Die bisherigen Vergabeverfahren für Impftermine sind also nicht dazu geeignet, einen Ansturm nach Ende der Priorisierung zu meistern?

Nachdem Berlin die Beschränkungen von Astrazeneca aufgehoben hat, gab es bereits Berichte, dass die Arztpraxen vollkommen überlastet waren mit Anfragen. Das zeigt, was uns noch bevorstehen könnte. Deshalb glaube ich: Ohne neue Terminvergabe wird es ein Impfchaos geben.

Wäre es nicht sinnvoll ein bundesweit einheitliches System zu entwickeln?

Wir haben in Deutschland bisher leider keine guten Erfahrungen gemacht mit dem schnellen Aufbau solcher Systeme. Dafür ist jetzt auch die Zeit zu knapp. Jedes Bundesland wird wohl weiter seine eigene Strategie verfolgen: Manche Länder haben bisher etwa schneller Lehrer und Erzieher geimpft, andere waren dagegen schneller in Alten- und Pflegeheimen. Jedes Bundesland muss jetzt seine Abläufe verbessern. Der Bund könnte mit den Ländern höchstens einige Grundideen festlegen, aber man sollte kein System überstülpen.

Seit diesem Monat sind die Hausärzte in die Impfkampagne eingebunden. An manchen Tagen sind seitdem die Impfzahlen deutlich nach oben gegangen. Hätte die Arztpraxen früher mit dem Impfen beginnen sollen?

Das Problem war bisher, dass es nicht genug Impfstoff gab. Astrazeneca hat bisher nur ein Drittel von dem geliefert, was eigentlich vorgesehen war. Häufig wurden diese Lieferungen auch sehr kurzfristig abgesagt. Die Zentren haben ihre Bestände ordentlich verteilt. Deshalb sehe ich keinen Vorteil, wenn man die Dosen früher den Hausärzten überlassen hätte. Die Parallelstruktur mit Impfzentren und Arztpraxen ist vernünftig. Denn wir werden pro Woche in den kommenden Monaten viel mehr impfen müssen, als wir es bisher getan haben. Der Hausärzteverband sagt, sie schaffen pro Woche 2,5 Millionen Impfungen. Wir brauchen pro Woche aber fünf bis sechs Millionen Impfungen.

Mitte März haben Sie mit den vorliegenden Lieferdaten berechnet, dass eine Erstimpfung für jeden Erwachsenen in Deutschland bis Ende Juli möglich ist. Das gleiche Ziel hat Großbritannien ausgegeben und liegt bei den Erstimpfungen deutlich vor Deutschland. Können wir das noch aufholen?

Inzwischen glaube ich, dass die Briten noch schneller ihr Ziel erreichen. Trotzdem bleibt das Datum für Deutschland realistisch. Wir müssen aber jetzt Fahrt aufnehmen. Weitere Verzögerungen bei Lieferungen von Astrazeneca könnten wir noch mit dem Mittel von Johnson & Johnson ausgleichen.

Seit Ihrer Berechnung hat sich auch die EU weitere 50 Millionen Dosen von Biontech gesichert. Können sie bereits sagen, was das für das Impftempo bedeutet?

Es gab seitdem Verschiebungen in beide Richtungen: Man darf nicht vergessen, dass es bei Astrazeneca weitere Kürzungen gab. Nach unserer Prognose wird aber auf jeden Fall genug Impfstoff da sein. Ich hoffe auch, dass Biontech in den nächsten Monaten eine Zulassung für Jugendliche erhält. Insgesamt halten wir es für realistisch, dass Deutschland bis zum 31. Juli genug Impfstoff hat, um 77 Millionen Menschen komplett zu impfen.

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Mehrere Bundesländer haben bereits jetzt die Beschränkungen für Astrazeneca aufgehoben. Hilft uns das beim Impftempo?

Die Freigabe von Astrazeneca hat keinen direkten Effekt. Das ist nur hilfreich, wenn der Hersteller auch wirklich liefert. Zuletzt war das aber nicht der Fall. Auch diese Woche erhalten die Hausärzte zum Beispiel keine neuen Impfdosen. Deshalb war ich überrascht, dass genau jetzt diese Beschränkung aufgehoben wurde. Viele Ärzte werden ihren Patienten sagen müssen, dass sie keine neuen Termine ausmachen können, weil der Impfstoff nicht da ist.

Sollten wir am Ende des Sommers einen Großteil der Bevölkerung immunisiert haben, wird es auch darum gehen, die Wirtschaft wieder zu stärken und Schulden abzubauen. In welcher Verfassung wird sich Deutschland dann aus Ihrer Sicht als Makroökonom befinden?

Die Wirtschaft wird sich in Deutschland in der zweiten Jahreshälfte vermutlich schnell erholen. Unsere Produkte sind bereits jetzt im Ausland wieder mehr gefragt. Gastronomie und Tourismus könnten einen Boom erleben. Denn viele Menschen wollen endlich wieder etwas erleben. Ich blicke sehr positiv in das zweite Halbjahr.

Verwendete Quellen
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