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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Biblische Dimension Ein Urteil, das Fragen aufwirft

In Peru könnte ein Gletschersee überlaufen. In der Schweiz begräbt ein Felssturz ein Dorf unter Massen von Geröll. Ist der deutsche RWE-Konzern daran schuld?
Haben Sie die Geschichte von Saúl Luciano Lliuya aus Huaraz gehört? Das ist der peruanische Bauer, der den Energiekonzern RWE verklagt hat, weil sein Haus und seine Felder vom Klimawandel bedroht sind. Huaraz liegt in den Anden auf 3.000 Meter Höhe. Hinter Lliuyas Haus türmt sich eine Felswand auf und hinter der Felswand liegt auf 4.500 Metern ein großer Gletschersee namens Palcacocha. Die Erderwärmung führt auch in den Anden dazu, dass der Gletscher schmilzt, der Wasserstand im See steigt. Zudem könnten große Felsmassen in den See stürzen und eine Flutwelle auslösen. Lliuyas Existenz wäre dann bedroht.
Zwischen der RWE-Zentrale in Essen und dem Haus des peruanischen Bauern liegen 10.455 Kilometer Luftlinie. RWE betreibt weder am Palcacochasee noch sonst irgendwo in Peru ein Kraftwerk. Für RWE ist Huaraz so weit weg wie für Sie und mich. Aber, so die Begründung der Klage, der deutsche Energiekonzern ist historisch einer der großen Emittenten von CO2 und deshalb für den Klimawandel mitverantwortlich. Also muss er für seine Folgen haften.
Vor mehr als fünfzig Jahren stellte der amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz eine skurril anmutende Frage: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Heute lautet die Frage: Kann der Betrieb eines Kohlekraftwerks im Ruhrgebiet einen Gletschersee in den peruanischen Anden zum Überlaufen bringen? Die Fragen ähneln sich, aber die Antworten nicht.

Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche.
Es führt eine gerade Linie von Essen nach Huaraz
Lorenz stellte die Frage damals, um die Grenzen des menschlichen Wissens zu verdeutlichen. Ja, prinzipiell kann ein winzig kleines, scheinbar völlig unbedeutendes Ereignis in einem so sensiblen System wie dem des Klimas eine Kettenreaktion in Gang setzen, die sich bis zur Katastrophe verstärkt. Aber dieser Prozess ist komplex, ihn zu entschlüsseln, übersteigt unsere Möglichkeiten. Deshalb können uns die Meteorologen sagen, wie das Wetter morgen wird. Aber schon für nächste Woche ist die Prognose unsicher. Wie der Sommer wird, weiß allenfalls der Laubfrosch, aber der spricht ja nicht.
Beim Klima lautet die Antwort heute: So kompliziert ist das gar nicht. Es führt eine gerade Linie von Essen nach Huaraz, von RWE zu Saúl Luciano Lliuya. Hier die Ursache, dort die Wirkung. RWE ist historisch für 0,5 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, also soll RWE auch 0,5 Prozent der Kosten für einen Damm tragen, der Huaraz vor den Fluten schützt. Macht 20.000 Euro. Vor Gericht wurden die Zahlen auf 0,38 Prozent, also 17.000 Euro, reduziert.
Werfen wir einen Blick in die Schweiz. In Blatten im Wallis ist passiert, was in Huaraz hoffentlich nie passieren wird. Ein Felssturz hat das Dorf verschüttet. Auch hier wird als Ursache die Gletscherschmelze vermutet. Die Behörden haben die Bewohner rechtzeitig evakuiert, aber die Schäden sind riesig. Viele Leute haben Haus und Hof verloren. Allerdings hat kein Bergbauer aus dem Lötschental gefordert, dass zum Beispiel Aramco, der saudische Ölkonzern, für die Kosten aufkommen müsse. Oder die Shenhua Energy Company, der größte Kohleproduzent der Welt. Zwei Giganten der fossilen Energiewirtschaft, wie RWE.
Kartoffelbauer gegen die schwarze Macht der Kohle
Ich vermute, das liegt daran, dass es weder eine NGO namens Saudiwatch gibt noch eine namens Chinawatch. Aber es gibt Germanwatch, eine deutsche Organisation, die sich für Umwelt und Klima einsetzt. Germanwatch macht die Pressearbeit für den Kleinbauern Saúl Luciano Lliuya. Allein drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fungieren als Referenten für "Klimaklage-Kommunikation". Ein weiteres Dutzend ist für Kommunikation im Allgemeinen, Öffentlichkeitsarbeit und Social Media zuständig. Germanwatch ist eine PR-Maschine.
In der PR kommt es darauf an, gute Geschichten zu erzählen. Diese Geschichte ist perfekt: Auf der einen Seite der Mann aus den Anden – er baut Kartoffeln, Mais und Quinoa an. Außerdem führt er Touristen in die Berge, Huaraz gilt als Trekking-Hauptstadt Perus. Unser globaler Nachbar Saúl, der früher auf die schneeweiße Cordillera Blanca blickte, schaut heute auf karges, graues Gestein. Auf der anderen Seite der Konzern aus Deutschland – die schwarze Macht der Kohle. Eine Geschichte von biblischer Dimension: David gegen Goliath.
2015 startete Germanwatch die Kampagne. Lliuya, der Fremdenführer, musste nun in der Fremde geführt werden. Durch den Dschungel der deutschen Zivilprozessordnung, über das gefährliche Terrain der Medienlandschaft. Und klar, er konnte Gerichts- und Anwaltskosten nicht selbst tragen, das übernahm eine mit Germanwatch eng verbundene Stiftung. Germanwatch selbst hält sich da zurück. Es macht sich vielleicht nicht so gut, wenn eine von fünf Bundesministerien mitfinanzierte NGO einem peruanischen Staatsbürger dabei behilflich ist, ein deutsches Unternehmen zu verklagen, an dem die öffentliche Hand mit 14 Prozent beteiligt ist. PR geht aber in Ordnung.
Und dann ging es ums Prinzip
Das Landgericht Essen wollte von der ganzen Geschichte zunächst nichts wissen. Doch das Oberlandesgericht Hamm entschied, sich die Sache genauer anzuschauen. Auch vor Ort. 2022 unternahmen die Richter und die Prozessbeteiligten eine Exkursion nach Huaraz. Ein Gutachter wurde bestellt, dann ein Gegengutachter. Über Geologie und Permafrost in den Anden wurde in Hamm intensiv verhandelt. Die Kosten des Verfahrens summieren sich auf sagenhafte 800.000 Euro, bei einem Streitwert von 20.000 Euro. Es ging also ums Prinzip.
Jetzt hat das Gericht entschieden: Lliuya hat keinen Anspruch gegen RWE. Entscheidend war der Gutachter. Der bezifferte die Wahrscheinlichkeit, dass Huaraz im Laufe der nächsten dreißig Jahre überflutet wird, auf ein Prozent. Und selbst dann werde das Wasser nur 20 Zentimeter hoch stehen. Zu wenig, die Klimakatastrophe ist nicht katastrophal genug.
Trotzdem zeigten sich die Aktivisten mehr als zufrieden. Weil die Richter festgestellt haben, grundsätzlich könnte es solche Ansprüche gegen ein Unternehmen wie RWE schon geben, nur eben in diesem Fall nicht. "Der Weg für weitere Klimaklagen ist offen", jubelte Germanwatch und verschickte eine brandneue Powerpoint-Präsentation zum Thema "The Climate Case – Saúl vs. RWE".
Die Welt aus Goliaths Augen betrachten
Viele Medien haben diese Geschichte in den letzten Tagen erzählt, so wie Germanwatch sie aufgeschrieben hat. Aus der Perspektive von David gegen Goliath. Sehr gefühlig, sehr einseitig. Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, Goliath war mein Nachbar. Vielleicht habe ich deshalb auch für die andere Seite Verständnis. Das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk betrieb die Verstromung von Kohle in großem Stil – im Dienste von Fortschritt und Wohlstand. Die Kraftwerke von RWE waren damals ungefähr so angesehen wie heute ein Offshore-Windpark vor Bornholm. CO2, Erderwärmung und die Gletscherschmelze in den Alpen und in den Anden waren kein Thema. Die Umweltbewegung machte gegen die Atomkraft mobil, nicht gegen die Kohle.
Das entbindet die Energiewirtschaft des 20. Jahrhunderts nicht von ihrer Mitverantwortung für den Klimawandel. Erst recht sind die Industriestaaten gefordert, die Folgen ihrer CO2-Emissionen in Ländern zu mildern, die wenig zu den Problemen beigetragen haben. Man nennt es Verursacherprinzip. Aber ein deutscher Zivilprozess ist nicht dazu geeignet, die globale Gerechtigkeit in Klimafragen herzustellen. Politische Fragen müssen politisch beantwortet werden.
Wenn Germanwatch in diesem Fall Erfolg gehabt hätte oder in weiteren Klagen erfolgreich sein sollte, dann könnte das fatale Folgen haben: Ein Urteil gegen RWE zieht das nächste Verfahren nach sich. Vielleicht klagt ein Fischer von den Fidschi-Inseln, dann geht es gegen ThyssenKrupp, dann gegen Volkswagen, wegen des Verbrenners. Dann werden massenhaft Prozesse aus aller Welt angestrengt, weil es in Deutschland etwas zu holen gibt. Im Dax stürzen die Kurse, Konzerne geraten ins Trudeln, Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.
Was der Flügelschlag eines Schmetterlings alles auslösen kann. Oder eine PR-Aktion von Germanwatch.
- Eigene Überlegungen