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Libyen | Mehr als 20.000 Tote nach Sturm befürchtet


Mehr als 20.000 Tote befürchtet
Hohe Anzahl der Leichen stellt Behörden vor Herausforderung

Von dpa
15.09.2023Lesedauer: 5 Min.
LIBYA-STORM/DERNAVergrößern des BildesMenschen betrachten die Leichen vor dem Krankenhaus im libyschen Derna: Allein in dieser Stadt könnten bis zu 20.000 Menschen gestorben sein. (Quelle: Esam Omran Al-Fetori/Reuters)
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Die Zahl der Toten könnte nach dem verheerenden Sturm noch dramatisch ansteigen. Die Rettungsarbeiten sind kompliziert.

Nach den verheerenden Überschwemmungen in Libyen könnte die Zahl der Toten noch dramatisch steigen. Besonders grauenhaft ist die Lage in der Hafenstadt Derna. "Wir erwarten eine sehr hohe Zahl von Opfern. Ausgehend von den zerstörten Bezirken in der Stadt Darna können es 18.000 bis 20.000 Tote sein", sagte Bürgermeister Abdel-Moneim al-Gheithy dem arabischen Fernsehsender Al-Arabija.

Der Sturm hatte am Sonntag das nordafrikanische Land erfasst. Nahe Derna brachen zwei Dämme, ganze Viertel der 100.000 Einwohner zählenden Stadt wurden ins Meer gespült. Insgesamt leben fast 900.000 Menschen in fünf Provinzen des Bürgerkriegslandes lebten in Gebieten, die vom Sturm "Daniel" und den dadurch ausgelösten Sturzfluten "direkt und in unterschiedlichem Ausmaß" betroffen seien.

Viele Leichen werden in Massengräbern verscharrt

Augenzeugen vor Ort berichteten der Deutschen Presse-Agentur, Derna sei noch immer "voller Leichen". Hilfe werde dringend benötigt. Insbesondere der Osten der Stadt sei weiter vom Rest abgeschnitten. Kommunikationsverbindungen seien teilweise komplett abgerissen.

Rettungsteams suchten auch Tage nach dem Unglück weiter in den Trümmern nach Überlebenden. Doch die Hoffnung, Menschen lebend zu finden, schwindet von Stunde zu Stunde. Geborgene Opfer wurden in Leichensäcken in Massengräbern verscharrt.

Humanitäre Helfer: Tote nicht einfach in Massengräbern bestatten

Der Umgang mit den Leichen stellt die Behörden und Helfer vor eine große Herausforderung. Humanitäre Organisation warnen davor, Todesopfer überhastet in Massengräbern zu bestatten.

Leichen könnten dann Probleme verursachen, wenn sie in der Nähe von Wasserquellen lägen, sagte Bilal Sablouh. Er ist bei der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) für Forensik in Afrika zuständig. Austretende Körperflüssigkeiten könnten Wasserquellen verunreinigen. Aber solange Leichen nicht mit Wasserquellen in Berührung kämen, seien sie keine Gesundheitsbedrohung, betonte er.

Falscher Umgang kann zu lang anhaltenden Probleme führen

Die Föderation hat nach den verheerenden Überschwemmungen Anfang der Woche in Libyen mit tausenden Toten Leichensäcke und ausgebildete Experten in das Katastrophengebiet geschickt. Die Leichen müssten untersucht, Kleidung und Merkmale registriert und Leichensäcke gekennzeichnet werden, sagte Bilal Sablouh. Massengräber müssten kartographiert werden, damit sterbliche Überreste später gefunden und bei entsprechenden Wunsch von Angehörigen umgebettet werden können. Verbrannt werden sollten nur Leichen, die identifiziert worden seien.

"Lokalen Behörden und Gemeinden können unter enormem Druck stehen, die Toten schnell zu beerdigen", sagte Sablouh. "Aber die Folgen eines falschen Umgangs mit den Toten kann lang anhaltende psychische Belastungen für die Familienmitglieder sowie soziale und rechtliche Probleme sein."

Hunderttausende brauchen dringende Hilfe

Das Welternährungsprogramm (WFP) nahm unterdessen die Versorgung Tausender Familien mit Lebensmitteln auf. Allein in Derna sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 30.000 Menschen obdachlos geworden. 10.000 Menschen gelten seit Montag als vermisst, wie viele davon seither tot oder lebend gefunden wurden, ist unklar.

Nach Einschätzung des Nothilfebüros der Vereinten Nationen brauchen Hunderttausende von Menschen dringende Hilfe. In einem Dringlichkeitsappell rief das UN-Büro für humanitäre Hilfe zu Soforthilfen in Höhe von 71,4 Millionen Dollar (rund 67 Millionen Euro) auf, "um den dringenden Bedarf von 250.000 am stärksten betroffenen Libyern zu decken". Die Lage im Nordosten des Landes sei kritisch.

UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte: "Ganze Wohnviertel sind von der Karte verschwunden." Die Lage sei "schockierend und herzzerreißend". Die vordringlichste Aufgabe sei es nun, die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Nach Einschätzung des Leiters der Libyen-Delegation beim Internationalen Roten Kreuz, Yann Fridez, könnte es "viele Monate, vielleicht Jahre dauern, bis die Anwohner sich von diesem riesigen Ausmaß an Zerstörung erholt haben".

"Diese verheerenden Überschwemmungen haben ein Land heimgesucht, in dem eine tiefe politische Krise bereits so viele Menschen in eine verzweifelte Lage gebracht hat. Neben dem tragischen Verlust von Menschenleben sind nun Tausende von Familien in Derna ohne Nahrung und Unterkunft", sagte die Exekutivdirektorin des WFP, Cindy McCain.

Rettung gestaltet sich schwierig

Die Lage vor Ort stellt Rettungsteams vor enorme Herausforderungen. Zufahrtsstraßen wurden komplett weggeschwemmt, zentrale Brücken unter Schlammmassen begraben. Doch inmitten der Katastrophe gibt es immer wieder einzelne Lichtblicke. Nach rund 96 Stunden wurde etwa ein 20-Jähriger aus den Trümmern geborgen, wie das libysche Fernsehen al-Masar berichtete.

Zahlreiche Länder haben Hilfe angeboten. Eine erste Hilfslieferung des Technischen Hilfswerks (THW) für das Überschwemmungsgebiet ist mittlerweile in Libyen eingetroffen. Zwei Bundeswehrflugzeuge mit insgesamt 30 Tonnen Hilfsgütern des THW an Bord seien am Donnerstagabend im libyschen Bengasi gelandet, sagte ein THW-Sprecher.

Konkret sollten 100 Zelte mit Beleuchtung, 1.000 Feldbetten, 1.000 Decken, 1.000 Isomatten, 1.000 Wasserfilter und 80 Stromgeneratoren in das Katastrophengebiet gebracht werden. Die Hilfsgüter füllten acht LKW und haben einen Wert von etwa einer halben Million Euro, so das THW. Die Lieferung erfolge auf Ersuchen und mit der Finanzierung des Auswärtigen Amtes und im Auftrag des Bundesinnenministeriums.

Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen schickte ein Notfallteam. Es bestehe aus Logistikern und medizinischem Personal. Man bringe zudem Notfallausrüstung mit zur Behandlung von Verletzten und Leichensäcke. Weitere Hilfe kommt unter anderem aus den Nachbarländern Ägypten, Tunesien und Algerien sowie der Türkei. Auch Frankreich, die Niederlande und Italien boten Unterstützung an.

Verwundbarkeit Libyens wird deutlich

Beobachter geben den Behörden Mitschuld am Ausmaß der Katastrophe in dem Bürgerkriegsland. Dies zeige auch die Tatsache, wie schwierig sich die Lage für Rettungsteams und Journalisten vor Ort gestalte, schreibt Libyen-Experte Wolfram Lacher auf der Plattform X (früher Twitter).

Seit dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 ringen zahlreiche Konfliktparteien um Einfluss. Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen – eine mit Sitz im Osten, die andere mit Sitz im Westen – um die Macht. Alle diplomatischen Bemühungen, den bis heute andauernden Bürgerkrieg friedlich beizulegen, scheiterten bislang. Infrastrukturmaßnahmen wurden jahrzehntelang verschleppt.

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Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba von der Regierung im Westen warf der rivalisierenden Regierung im Osten am Donnerstag vor, Wartungsverträge für die beiden Dämme nicht abgeschlossen zu haben, obwohl Gelder bereitgestellt worden waren. Beobachter befürchten auch, dass sich die Wut über die Katastrophe auf den Straßen entladen könnte. "Der Schock, der in den kommenden Wochen in offene Wut umschlagen könnte, ähnelt dem, was die Aufstände Anfang 2011 auslöste", schreibt der Experte Jalel Harchaoui auf X.

Der Generalsekretär der Weltwetterorganisation, Petteri Taalas, sieht die Opferzahlen auch im Fehlen eines funktionierenden Frühwarnsystems begründet. Der Wetterdienst habe zwar vor einem herannahenden Unwetter gewarnt, aber nicht das Risiko genannt, das die alten Dämme, die später brachen, darstellten. Dann hätten die Rettungsdienste Evakuierungen vornehmen können, hatte Taalas zuvor gesagt. "Wir hätten die meisten der Opfer vermeiden können."

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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