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Urteile bei Kindesmissbrauch: Versagt hier das deutsche Rechtssystem?


Kritik an Kindesmissbrauchsurteilen
Versagt hier das deutsche Rechtssystem?


22.05.2022Lesedauer: 6 Min.
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Polizisten vor einer Gartenlaube in Münster: Die Laube war Tatort von etlichen Fällen von Kindesmissbrauch, mittlerweile wurde sie abgerissen. (Archivfoto)Vergrößern des Bildes
Polizisten vor einer Gartenlaube in Münster: Die Laube war Tatort von etlichen Fällen von Kindesmissbrauch, mittlerweile wurde sie abgerissen. (Archivfoto) (Quelle: David Inderlied/imago-images-bilder)

Viele Freiheitsstrafen wegen Kindesmissbrauchs werden in Deutschland zur Bewährung ausgesetzt. Das ist ein schwerwiegender Fehler im Justizsystem, klagt ein Richter – und fordert Konsequenzen.

82 Prozent – das ist die Zahl, die dem Amtsrichter und Buchautoren Thorsten Schleif zu denken gibt. So hoch war der Anteil der Freiheitsstrafen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs, die 2019 zur Bewährung ausgesetzt wurden. Zu milde, findet der Jurist diese Urteile. "Das Problem ist, dass bei Kindesmissbrauch sehr häufig sehr niedrige Strafen verhängt werden", kritisiert er im Gespräch mit t-online.

Schleif sieht beim Thema Kindesmissbrauch gravierende Mängel im deutschen Justizsystem – und in der Auswahl der Richterinnen und Richter. In seinem jüngst erschienenen Buch "Wo unsere Justiz versagt: Von Messerstechern, Kinderschändern und Polizistenmördern. Ein Richter deckt auf" erklärt der Richter mithilfe von echten Fällen, wo aus seiner Sicht die Probleme liegen.

Beim Thema Kindesmissbrauch hat er ein besonders tragisches Schicksal gewählt: Ein Vater missbraucht und vergewaltigt seine Tochter in acht Jahren mindestens 175 Mal. Dreimal wird das Mädchen schwanger und muss die Kinder austragen. Einige Jahre später kommt es zum Prozess. Das Urteil: neun Jahre Gefängnis.

Der sexuelle Missbrauch von Kindern betrifft sämtliche sexuelle Handlungen gegenüber Menschen unter 14 Jahren. Vor dem Hintergrund der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern fallen darunter nicht nur Handlungen mit Körperkontakt ("hands on"-Delikte), sondern auch Handlungen ohne Körperkontakt ("hands off"): Etwa wenn der Täter oder die Täterin dem Kind einen Pornofilm zeigt oder sich vor dem Kind selbst sexuell berührt. Auch das gezielte Ansprechen von Kindern im Internet mit der Absicht eines sexuellen Kontakts ("Cybergrooming") zählt dazu.

Schleif: Richter haben Probleme mit Selbstbewusstsein

Dass in Prozessen um Kindesmissbrauch jahrelange Haftstrafen verhängt werden, wie im Fallbeispiel, ist jedoch eher die Ausnahme, wie Zahlen von 2019 zeigen. In dem Jahr erfolgten in Deutschland 49 Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen. In 40 Fällen sind Freiheitsstrafen ausgesprochen worden, davon in 37 Fällen Freiheitsstrafen von nicht mehr als zwei Jahren – die alle zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Jurist Schleif hat eine Vermutung, warum das so ist: Viele Vorsitzende wollten eine Revision beziehungsweise Berufung vermeiden – denn sie hätten häufig Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein. "Deren Ego ist so maßgeblich, dass sie sagen: 'Ich riskiere lieber eine niedrigere Strafe, mit der Wahrscheinlichkeit, dass die Staatsanwaltschaft dagegen kein Rechtsmittel einlegt, als eine hohe Strafe, mit der fast schon sicheren Folge, dass der oder die Angeklagte sich mit der Revision dagegen wehren wird'", kritisiert er.

Deshalb wählten die Richterinnen und Richter so häufig bewusst die Grenze von zwei Jahren, um die Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen zu können. Denn lediglich eine Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren könne in Bewährung umgewandelt werden, erklärt Schleif – und betont: "In solchen Fällen sind Mitleid oder auch die Angst vor einer Revision allerdings vollkommen fehl am Platz."

Was ist der Unterschied zwischen Revision und Berufung? Sowohl bei der Berufung als auch bei der Revision handelt es sich um ein Rechtsmittel, das eingelegt werden kann, um ein ergangenes Urteil anzufechten. Beides führt dazu, dass das Urteil nicht rechtskräftig wird und die verordnete Strafe, ob Geld- oder Freiheitsstrafe, noch nicht vollstreckt wird. Bei der Berufung handelt es sich um ein Rechtsmittel gegen Urteile aus der ersten Instanz, dem Amtsgericht. Wenn Sie Berufung einlegen, fechten Sie das Urteil vom Amtsgericht an und verweisen Ihren Fall an die nächsthöhere Instanz: das Landgericht. Beim Landgericht wird der Fall in zweiter Instanz erneut verhandelt. Mit der Revision können alle Urteile – ob vom Landgericht oder Amtsgericht – angegriffen werden.

Faeser: "Entsetzliches Ausmaß"

Kindesmissbrauch ist in Deutschland ein Problem eines "entsetzlichen Ausmaßes", sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Im Jahr 2021 wurden insgesamt 15.507 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern erfasst. Durchschnittlich wurden somit im vergangenen Jahr täglich etwa 42 Minderjährige Opfer sexueller Übergriffe. Das sind 6,3 Prozent mehr als im Vorjahr. Dass die Zahlen steigen, kann auch daran liegen, dass mehr Fälle zur Anzeige gebracht werden.

Viele Taten bleiben jedoch immer noch im Verborgenen: Sie werden nicht angezeigt, weil sie laut Bundeskriminalamt oft hinter verschlossenen Türen stattfinden, im nahen sozialen Umfeld des Opfers.

Höchststrafe beim Landgericht beträgt 15 Jahre

Zurück in den Gerichtssaal: Im Fall des 175-fachen Missbrauchs war das mehrjährige Gefängnisurteil keine Selbstverständlichkeit. Der Prozess sollte zunächst vor dem Amtsgericht verhandelt werden. Dort beträgt die Höchststrafe für Kindesmissbrauch vier Jahre Gefängnis. Am Landgericht hingegen liegt die Strafobergrenze für eine solche Tat bei 15 Jahren.

Im Fallbeispiel hatte der Angeklagte nach Ansicht des Oberlandesgerichts eine Freiheitsstrafe zu erwarten, die deutlich über der Mitte des möglichen Strafrahmens, also bei mehr als siebeneinhalb Jahren, lag. "Das bedeutet, das Minimum dessen, was das Oberlandesgericht als angemessene Strafe erachtet, ist bereits das Doppelte der Strafe, die das Amtsgericht maximal aussprechen dürfte", erklärt Schleif.

Schleif: Strafgesetze werden nicht konsequent angewendet

Seit Juli 2021 sind die Strafrahmen bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung durch ein neues Gesetz teilweise angehoben worden. Dennoch bemängelt Richter Schleif, dass die Strafobergrenzen nicht ausgereizt werden. "Vielen Strafrichterinnen und -richtern fehlt offensichtlich der Wille, ein für sie anscheinend 'hartes' Urteil zu sprechen." Die Strafgesetze reichten aus, aber sie müssten auch konsequent zur Anwendung kommen.

Zudem kritisiert Schleif, dass die Folgen sexuellen Missbrauchs bei der Urteilsfindung oftmals nicht ausreichend berücksichtigt würden. Im Fallbeispiel sei in den Akten ersichtlich gewesen, dass das Opfer drei Kinder ausgetragen habe – gezeugt von seinem eigenen Vater. Dennoch sollte der Fall vor dem Amtsgericht landen. Schleif sorgte dafür, dass er vor dem Landgericht verhandelt wurde.

"Es ist für mich unvorstellbar, dass das Kind keine physischen und/oder psychischen Schäden davongetragen hat", begründet Schleif seinen Schritt. In diesem Fall habe das Oberlandesgericht dies genauso gesehen. Hätte der Richter sich jedoch nicht dafür eingesetzt, den Fall nicht bloß vor dem Amtsgericht zu verhandeln, hätte der Täter höchstens vier Jahre ins Gefängnis gehen müssen. "Das ist ein zu niedriges Urteil für solch ein abscheuliches Verbrechen", sagt Schleif.

Thorsten Schleif (*1980) hat Rechtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert und ist seit 2007 Richter. Nach Stationen am Landgericht Düsseldorf und in der Verwaltung des Oberlandesgerichts war er von 2014 bis 2018 alleiniger Ermittlungsrichter für die Amtsgerichte Dinslaken und Wesel. Derzeit ist er Vorsitzender des Schöffengerichts und Jugendrichter und Strafrichter am Amtsgericht Dinslaken.

Urteile können unter gewissen Umständen abgemildert werden

In einem Schreiben der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung heißt es: "Manche Urteile erscheinen mit Blick auf die zugrundeliegende Tat in der Betrachtung von außen milde, zum Beispiel dann, wenn jemand ein Kind schwer sexuell missbraucht und dafür lediglich eine Strafe von etwas mehr als drei Jahren erhält." Solche Urteile müssten allerdings näher betrachtet werden. Auch wenn Richterinnen und Richter in ihrer Urteilsfindung unabhängig seien, so seien sie doch hinsichtlich der zu verhängenden Strafe nicht völlig frei.

Das Strafgesetzbuch regle, was in der Strafzumessung berücksichtigt werden kann und muss. Konkret kann das Urteil dem Schreiben zufolge unter folgenden Umständen gemildert werden:

  • Die oder der Angeklagte legt ein umfassendes Geständnis ab: Dadurch wird dem betroffenen Kind eine Aussage vor Gericht erspart.
  • Die oder der Angeklagte schafft einen finanziellen Ausgleich im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA): "Ein TOA hat für Betroffene und ihre Familien den Vorteil, dass ihnen eine zivilrechtliche Klage gegen den Täter oder die Täterin, welche einen erneuten, unter Umständen jahrelangen Prozess und eine erhebliche Belastung für das betroffene Kind und die gesamte Familie bedeuten würde, erspart bleibt."
  • Die oder der Angeklagte macht Angaben zu weiteren Täterinnen oder Tätern, was letztlich dem Schutz von Kindern dient.

Dass eine Freiheitsstrafe in einem Missbrauchsprozess zur Bewährung ausgesetzt wird, so wie es in vielen Delikten der Fall ist, könne auch sinnvoll sein: Außerhalb des Strafvollzugs lasse sich etwa leichter ein Therapieplatz für die Täterin oder den Täter erlangen. "In allen Konstellationen muss jedoch berücksichtigt werden, dass eine Aussetzung zur Bewährung nicht für alle Taten, sondern allein für leichtere Fälle des sexuellen Missbrauchs in Betracht kommt", heißt es in dem Schreiben.

Schleif fordert grundsätzlich härtere Strafen

Ein wesentliches Kriterium für eine Bewährungsstrafe sei außerdem eine positive Sozialprognose: Wenn davon auszugehen sei, dass sich die Täterin oder der Täter bereits durch den Prozess sowie durch erteilte Auflagen wie Geldzahlung, Therapie oder Kontaktverbot ihrer beziehungsweise seiner Schuld bewusst ist – und dass keine vergleichbaren Taten mehr zu erwarten sind. Zudem gilt: "Verstoßen die Verurteilten gegen die Auflagen, so kann das Gericht die Aussetzung zur Bewährung widerrufen und die oder der Verurteilte kommt wieder in Haft."

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Richter Schleif überzeugt das nicht, er spricht sich grundsätzlich für härtere Strafen in Kindesmissbrauchsprozessen aus. Höhere Strafen und vor allem Gefängnisurteile hätten mehrere Zwecke: Zum einen sei der Abschreckungseffekt größer. Zum anderen schütze eine Freiheitsstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, die Allgemeinheit vor weiteren Taten. "Bei dem Verurteilten, der neun Jahre im Gefängnis sitzen muss, ist gewährleistet, dass er in dieser Zeit kein neues Opfer hat", so Schleif.

Schleif kritisiert Landesjustizministerien

Der Buchautor fordert die Bundesländer zum Handeln auf: "Jeder Landesjustizminister kann dafür sorgen, dass sexueller Missbrauch von Kindern grundsätzlich bei den Landgerichten angeklagt wird." So könne automatisch verhindert werden, dass besonders schwere Fälle vor dem Amtsgericht landen und somit nur eine Höchststrafe von vier Jahren verhängt werden kann.

Auf lange Sicht müsse sich zudem der Einstellungsprozess von Richterinnen und Richtern ändern, fordert der Buchautor. "Man muss Vorsitzende einstellen, die ein gesundes Selbstbewusstsein haben, bei denen es bei der Urteilsfindung nicht ums Ego geht", so Schleif. Den Richterinnen und Richtern müsse egal sein, ob gegen ihr Urteil Revision eingelegt wird.

Deshalb spricht sich Schleif dafür aus, bei der Bewerbung einen Charakter- beziehungswiese psychologischen Test zu machen. "Die jeweiligen Kandidatinnen und Kandidaten müssen dahingehend geprüft werden, ob sie die erforderlichen Charakterzüge aufweisen, um das Richteramt verantwortlich wahrzunehmen", so der Amtsrichter.

Zudem solle die Einstellungspraxis von den Landesregierungen abgekoppelt werden. "In einigen Ländern werden die Richterinnen und Richter direkt über das Justizministerium eingestellt – ich halte es für sinnvoll, davon wegzukommen."

Verwendete Quellen
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