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Ungeklärte Kriminalfälle: Wer war die Bestie von Hinterkaifeck?


Verbrechen im Jahr 1922
Wer erschlug sechs Menschen auf einem bayerischen Bauernhof?

27.12.2019Lesedauer: 6 Min.
Ein brutaler Mord auf einem bayerischen Hof beschäftigt Deutschland auch fast ein Jahrhundert später noch: Wer brachte die Grubers in Hinterkaifeck um?Vergrößern des BildesEin brutaler Mord auf einem bayerischen Hof beschäftigt Deutschland auch fast ein Jahrhundert später noch: Wer brachte die Grubers in Hinterkaifeck um? (Quelle: Wikipedia/t-online)

1922 werden auf einem bayerischen Bauernhof sechs Menschen brutal ermordet. Bis heute ist der Täter unbekannt, genauso wie sein Motiv: War es Geld oder gar Inzest?

Ein Tatort, der ins Mark trifft: Vier der sechs Toten liegen blutüberströmt im Stall. Ihre Leichen sind übereinander gestapelt und mit einer Holztür abgedeckt. Zwei weitere findet man in der Küche und in der Stube der Magd. Der Täter hat offenbar jede Beherrschung verloren und allen Opfern mit der Kreuzhaue, einem einer Hacke ähnelnden landwirtschaftlichen Werkzeug, mit gröbster Wucht die Schädel eingeschlagen.

Die Nacht hat die 35-jährige Viktoria Gabriel nicht überlebt, auch nicht ihr 64-jähriger Vater Andreas Gruber und ihre 70-jährige Mutter Cäzilia. Viktorias sieben- und zweijährige Kinder, Cäzilia ("Cilli") und Josef, verschont der Mörder genauso wenig wie die 44-jährige Haushaltshilfe Maria Baumgartner. Der tote Zweijährige liegt, als man ihn vier Tage nach der Tat findet, in seinem blut- und gehirnbespritzten Kinderwagen unter einem Rockstoff der Mutter. Das siebenjährige Mädchen war wohl erst nach einem mehrstündigen Todeskampf gestorben. In ihrer Hand hält sie ihre eigenen ausgerissenen Haarbüschel.

"Bestialisch" sei der Täter vorgegangen, steht später auf dem Fahndungsplakat der Staatsanwaltschaft Neuburg an der Donau.

Der Einödhof wurde zum Mythos

In der Mitte von München, Ingolstadt und Augsburg liegt die Stadt Schrobenhausen am Flüsschen Paar. Bayern ist hier vielleicht am oberbayerischsten. Weite Felder beherrschen das Landschaftsbild und einzelne Höfe. Die Arbeitslosenquote ist niedrig – auch, weil sich inzwischen ein großes Unternehmen der Rüstungswirtschaft mit Kontakten in alle Welt angesiedelt hat. So ist es heute.

1922 war das anders. Als besonders abgelegen galt die Einöde Hinterkaifeck, ein Stück Bauernland nahe der Grenze zur Nachbargemeinde Waidhofen, in dessen Mitte der Hof der Familie Gruber stand. Er wurde vor langer Zeit dem Erdboden gleichgemacht. Nur noch Acker und ein kleines Marterl erinnern an die Geschichte des grausigen Orts. Doch er gehört zu den Mythen des Freistaats. Noch existierende Akten über die Geschehnisse der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 sind im Staatsarchiv einzusehen.

Wer hat so gewütet und getötet? Und warum? Auch 98 Jahre später ist das Massaker unaufgeklärt. So lieferte es ganzen Generationen Gespräche, Gerüchte und auch den Stoff für den Bestseller "Tannöd". Nach fast einem Jahrhundert haben Internetgruppen eigene Websites mit detailbeladenen Informationen aufgebaut. Sie tauschen sich dort regelmäßig aus. Das Bayerische Polizeimuseum Ingolstadt lud zu einer Ausstellung und stellte acht Varianten zur Wahl, wie das Drama abgelaufen sein könnte. Der Jahrgang 2005 der Polizeiakademie Fürstenfeldbruck nutzte den Fall als Lehrstoff. Die 15 Polizeiaspiranten befanden am Ende, Indizien könnten auf einen bestimmten Täter deuten.

Im Dorf ist bekannt: Der Vater schläft mit der Tochter

Es ist der Spätwinter 1922. Der Erste Weltkrieg hat auch die Familie Gruber getroffen. Karl Gabriel, der Ehemann der Tochter Viktoria, ist in den ersten Kriegstagen nahe Villeneuve in Frankreich gefallen. Die Geburt seiner Tochter Cäzilia hat er nicht mehr erlebt. Der alte Gruber hat das Gehöft Viktoria übertragen, wohl eher der Form nach. Natürlich behält der Bauer das Sagen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse auf Hinterkaifeck gelten als stabil, was sich von den privaten weniger sagen lässt. "Mei Tochter braucht keinen Mann mehr, dafür bin i da", hat Gruber lauthals festgestellt. Im ganzen Dorf wissen sie: Der Alte schläft mit der jungen Witwe. Wie erzwungen das war, ist offen. Sie hat aber auch ein Verhältnis mit dem Nachbarn und Ortsvorsteher Lorenz Schlittenbauer. "Die Viktoria Gabriel war für den Geschlechtsverkehr leicht zu haben", sagt Schlittenbauer laut Protokoll im Polizeiverhör. Doch: "Insgesamt werde ich mit ihr höchstens fünfmal Verkehr gehabt haben." Die Frage bleibt: Wer ist der Vater des zweijährigen Josef?

Der Monatswechsel vom März zum April 1922 fällt auf ein Wochenende. Es ist kalt, neblig. Schnee rieselt. Am Samstag, den 1. April, tauchen zwei Kaffeehändler am Hof auf, sie klopfen. Nichts. Sie schauen durch die kleinen Fenster in die Stube, alles leblos. Sie gehen. Montags radelt der Postbote Josef Maier vor. Er bringt, wie immer, die Wochenzeitung. Heute sagt ihm niemand Grüß Gott. Dienstags erscheint der Monteur, der den defekten Motor reparieren muss. Zwar öffnet ihm keiner, aber er bricht die Hoftür auf und macht sich an die Arbeit. Nach vier Stunden, als er geht, fällt ihm auf: Ein anderes großes Hoftor, das bei seiner Ankunft verschlossen war, steht jetzt weit offen. Und er sieht auch den Hund an der Haustür angeleint. Das war bei seinem Erscheinen noch nicht so. Hält sich – wer auch immer – in dem Haus auf? Beunruhigt meldet er dem Ortsvorsteher Schlittenbauer die seltsamen Vorkommnisse auf der Einöd.

Lorenz Schlittenbauer läuft mit fünf Männern aus dem Dorf zum Hof. Er übernimmt die Regie der Suche. Er bricht zuerst das Scheunentor zum Stall auf. Es ist dunkel. Nach kurzer Zeit stolpert einer aus der Gruppe, Michael Pöll, über einen Fuß. Der Tote ist der Bauer Gruber. Wenig später sehen die Männer das ganze Ausmaß: Hinterkaifeck ist ein schrecklicher Tatort.

Nachdem sie das Haus durchsucht, alle Leichen gefunden haben, informiert der Ortsvorsteher die örtliche Polizei und die alarmiert die Polizeidirektion im 80 Kilometer entfernten München. Fünf Stunden brauchen die Ermittler für die Anreise. Es ist inzwischen Nacht, der Stall dunkel. Sie nehmen deshalb erst am 5. April gegen 4.30 Uhr die Arbeit auf. Kriminaloberinspektor Georg Reingruber steht unter Zeitdruck. Es sind politisch aufgeladene Zeiten. In München hat es Fememorde durch rechtsextreme Attentäter gegeben, die er bearbeiten muss. Nach dem Fund einer geöffneten Geldbörse in der Kammer von Viktoria Gabriel zeigt er sich überzeugt: "Es ist ein Raubmord."

Der mysteriöse Fall wird neu aufgerollt

Die Festlegung wird Jahrzehnte als Ermittlungsergebnis gewertet. Den Täter? Haben sie nicht. Die Mordakten sind seit den 1950er-Jahren zugeklappt.

"Wir heute hätten schon die Nacht zum Tag gemacht", sagte die Kriminalkommissarin Michaela Forderberg-Zankl 2016 in der Doku "Der Fall Hinterkaifeck" des Autors Kurt K. Hieber, die er für das ZDF produziert hat. Forderberg-Zankl hat zum Team der Polizeischüler von 2005 gehört, die sich dem Sechsfachmord mit dem Instrumentenkasten von heute genähert haben. Unerklärliche Ermittlungsfehler haben sie den Kollegen nachgewiesen, die fast ein Jahrhundert zuvor am Tatort waren.

In ihrem Bericht kommen sie zu eigenen Schlussfolgerungen. Zwar seien Vernehmungen korrekt abgelaufen. Aber Schaulustige konnten den Tatort zertrampeln, noch bevor die Polizei da war. Der Motormonteur wurde erst drei Jahre nach der Tat vernommen. Fingerabdrücke, die damals durchaus möglich waren, blieben ungenutzt. Die finanzielle Lage der Grubers schien keinen Fahnder zu interessieren, obwohl Viktoria kurz vor der Mordnacht Sparkonten aufgelöst und Kredite von Verwandten aufgenommen hatte. Vor allem: Der Mörder hatte sich bemüht, die Toten abzudecken, und bei keiner Leiche sind Hinweise auf Abwehr gefunden worden. Das zusammen deuten heutige Profiler so: Das Mordmotiv könnte in einer persönlichen Beziehung liegen.

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Die Raubmord-These haben die Kommissarschüler am Ende einmütig verworfen. Überlieferte Würgespuren am Hals von Viktoria fanden sie viel interessanter. Die 35-Jährige war wohl die erste Tote der Tatnacht. Und Josef, der Zweijährige, "könnte die Schlüsselfigur gewesen sein", sagte Michaela Forderberg-Zankl. Ging es um die Vaterschaft? Um die Tatsache, dass der alte Gruber eine Hochzeit Viktorias mit Schlittenbauer durchkreuzt hatte? Um die Zahlung von Unterhalt? Unterm Strich: um ein Familiendrama?

Fast hundert Jahre später gibt es einen Verdächtigen

Deutschlandweit sei nach der Tat 1922 Hysterie ausgebrochen, berichten Internet-Rechercheure von heute. Zahllose Menschen wurden angezeigt und beschuldigt, nur weil sie mit großen Scheinen bezahlten. In Waidhofen seien heute noch Familien zerstritten, weil sich ihre Vorfahren gegenseitig des Mordes bezichtigt hatten.

War Lorenz Schlittenbauer, der Ortsvorsteher und mutmaßliche Vater von Josef, der Täter? Als er die Männer an den Tatort führte, soll er sich merkwürdig verhalten haben. Andererseits: Er war Asthmatiker. Kann ein so kranker Mensch so brutal zuschlagen?

Da ist außerdem der schon 1914 gefallene Karl Gabriel. Hatte er den Weltkrieg in Wirklichkeit überlebt, kehrte er nach Bayern zurück, um sich an der Frau und ihrer Familie zu rächen? Tatsächlich wurde sein Tod von glaubwürdigen Freunden, die mit ihm an der Front waren, bezeugt. Belastet wird der Mann aber von anderer Seite. Einige wollen ihn Jahrzehnte später gesehen haben.

Ein Josef Bärtl, angeblich geisteskrank, floh 1921 aus einer Heilanstalt. Nie tauchte er wieder auf. Nach ihm wurde 1926 auch wegen Hinterkaifeck gefahndet. Der pensionierte Ingolstädter Kriminalkommissar Konrad Müller, den der Fall sein Leben lang nicht losließ und der seine gesammelten Akten dem Polizeimuseum vermachte, hält Bärtl für durchaus verdächtig, schließt aber auch ein Raubverbrechen nicht aus.

In der Polizeiakademie Fürstenfeldbruck haben die angehenden Ermittler von 2005 ein Ergebnis erarbeitet. Sie glauben zu wissen, wer der Täter war. Aber der letzte Beweis fehlt auch dieser Projektgruppe. Den Namen nennen sie deshalb nicht. Auch mit Rücksicht auf die Nachkommen.

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