t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePanoramaMenschen

Tschetschenin ist wohl älteste Frau der Welt


Menschen
Oma Kesi, die der Tod vergaß

Von spiegel-online
Aktualisiert am 03.11.2011Lesedauer: 4 Min.
"Ich stecke fest in dieser Welt" - Kesi Karujewa ist wohl die älteste Frau auf der ErdeVergrößern des Bildes"Ich stecke fest in dieser Welt" - Kesi Karujewa ist wohl die älteste Frau auf der Erde (Quelle: Reuters-bilder)
Auf Facebook teilenAuf x.com teilenAuf Pinterest teilen
Auf WhatsApp teilen

Sie ist angeblich die älteste Frau der Welt, stolze 116 Jahre will Kesi Karujewa sein. Zar Nikolaus, Joseph Stalin - sie hat sie alle überlebt. Warum ihr das Sterben nicht so recht glücken will, das weiß die Tschetschenin auch nicht genau. Warum sie überhaupt so alt wurde, hingegen schon.

Kesi Karujewa hat die Herrschaft der Zaren erlebt und die Diktatur Stalins, eine Deportation überstanden und unzählige Kriege. Sie ist zu alt, um den Tod zu fürchten. Sie kokettiert lieber mit ihm. "Immer wieder versuche ich zu sterben, aber es klappt einfach nie", sagt die Tschetschenin.

"Nur gestorben bin ich wieder nicht"

Ein grün gemustertes Kopftuch umrahmt ihr faltiges Gesicht. Vor ein paar Wochen hat sie ihren Krückstock gepackt und sich unbemerkt von Sohn und Enkeln davongestohlen. Gebückt stieg die Greisin über den kleinen Zaun im Garten und stapfte zum Plausch mit den Nachbarn. Auf dem Weg zum Plumpsklo kam sie ins Straucheln. Der bei dem Sturz gebrochene Finger ist immer noch in Gips. "Nur gestorben bin ich wieder nicht. Vermutlich", sagt Kesi, "bin ich unsterblich."

Laut ihrem Pass wurde die alte Kesi Karujewa, wohnhaft im Dorf Goity nahe Tschetscheniens Hauptstadt Grosny, am 5. Januar 1895 geboren, im vorvergangenen Jahrhundert. Sie wäre damit anderthalb Jahre älter als die US-Amerikanerin Besse Cooper, derzeit offiziell der älteste lebende Mensch auf der Welt.

Gäste geben sich die Klinke in die Hand

Kesis Angehörige wechseln mehrfach am Tag die weißen Laken auf dem Couch-Plätzchen der Alten. Ihr Lager soll nach kaukasischer Sitte immer blütenweiß leuchten, falls Besucher vorbeischauen.

Die Gäste geben sich die Klinke in die Hand: Mal kommen die Nachbarn zum Tratschen. Dann wieder rollt Kesis Tochter, Anfang 80, im Rollstuhl in die Stube. Manchmal kommen Kinder oder Kranke zu Besuch. Sie schütten dann Wasser durch den Saum von Kesis Kittel und trinken es. Das soll Krankheiten heilen und ein langes Leben bescheren.

"Von Stalin bekomme ich Kopfschmerzen"

Das Geheimnis ihres langen Lebens: "Immer schön fett essen", sagt Kesi. Die Alte bekommt immer die speckigsten Stücke, wenn die Familie einen Hammel schlachtet, und den mächtigsten Rahm.

"Mein Vater war ein reicher Mann", erinnert sich Kesi. "Als aber Zar Nikolaus gestürzt wurde, verlor er all sein Geld." Dann kamen die Kommunisten. Über Stalin mag Kesi nicht reden: "Von dem bekomme ich Kopfschmerzen". 1944 wurde Kesi so wie Hunderttausende Tschetschenen von Stalin deportiert. Die Sowjets beschuldigten das Kaukasus-Volk der Kollaboration mit den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. "Sie haben uns in Viehwaggons gesetzt und nach Kasachstan verschleppt", sagt Kesi. "Wir konnten nicht mehr mitnehmen, als wir am Körper trugen."

Rückkehr in die Heimat erst 1959

In Kasachstan schuftete sie in einer Ziegelfabrik bei Semipalatinsk, einem Atomwaffentestgebiet der Sowjets. Erst 1959 konnte Kesi nach Tschetschenien zurückkehren, um als Putzfrau in den sechziger Jahren in einer Schule zu schuften.

Um die Alten des Kaukasus ranken sich seit langem Legenden. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bewohner der Bergregion am Rande Europas liegt zwar leicht unter jener der Deutschen. Berichte über rüstige Greise weit über die 100 sorgen aber immer wieder für Aufsehen.

So versammeln sich etwa im 300 Kilometer von Grosny entfernten Karatschajewsk, einem Bergstädtchen von 20.000 Einwohnern, regelmäßig die Mitglieder des Clubs der Hundertjährigen Jubilare. Während der kommunistischen Herrschaft zählten die Sowjets gar 500 kaukasische Langlebige im Alter zwischen 120 und 170 Jahren.

Der aserbaidschanische Schafhirte Schirali Muslimow starb 1973 angeblich nach erfüllten 168 Lebensjahren. Als Muslimows Geburtstag galt der 26. März 1805. Als ein "frommes Märchen" bezeichnete die "Zeit" damals Berichte über das kaukasische Methusalem-Paradies. Kaukasier, diagnostizierte der russische Mediziner Schores Medwedew einmal, neigten zur Übertreibung.

Langlebigkeit hat Tradition in der Familie

Es spielt wohl auch eine Rolle, dass in den ländlichen Regionen des Kaukasus kaum verlässliche Geburtsurkunden zu finden sind. Viele der älteren Bergbewohner können sich selbst kaum daran erinnern, an welchem Tag oder in welchem Jahr sie geboren wurden: Für Hirten und Bauern war das nicht wichtig.

Und selbst wenn offizielle Dokumente existieren, tragen sie nur bedingt zur Aufklärung bei. Die alte Kesi besitzt nämlich nicht nur einen Pass mit bezeugtem Geburtsjahr 1895, sondern auch ein "Zertifikat über die Rehabilitierung" als 1944 Deportierte. Demnach wäre sie schon 1884 geboren. "Meine Mutter ist nicht 116, sondern 127", sagt Kesis jüngster Sohn Salman, Jahrgang 1957. Seine Mutter müsste demnach Mitte 70 gewesen sein, als sie ihn zur Welt brachte.

"Ich stecke fest in dieser Welt"

Am Abend lässt Kesi weiße und braune Gebetsketten durch ihre knochigen Finger gleiten. Die Muslimin betet dann um die Aufnahme ins Paradies, für ihre Kinder, Enkel, und für sich. Es sei ihr mitunter unangenehm, dass sie so lange lebe, tuscheln ihre Angehörigen. Langlebigkeit habe aber Tradition in der Familie: Die Schwester habe ein Alter von 108 erreicht, und Kesis Mutter starb mit 118. "Ich stecke fest in dieser Welt", seufzt Kesi.

Dann verabschiedet sie sich von den Besuchern. "Schaut doch mal wieder rein, falls ich nicht sterbe", sagt sie.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website