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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Katastrophen-Analyse Bei Erdbeben in Köln drohen Hunderte Tote
Vor der Corona-Krise hatten Experten schon lange eine Risikoanalyse für den Pandemiefall erstellt. Jetzt liegt ein neues Szenario vor: Was würde ein schweres Erdbeben in Deutschland anrichten?
Es ist Montagmorgen, und plötzlich geht es los. Unter einem dumpfen Grummeln beginnt die Erde zu wackeln, Menschen auf den Straßen können sich kaum auf den Beinen halten und müssen herabstürzenden Gebäudeteilen ausweichen: Ein Erdbeben der Stärke 6,5 unweit von Köln. Erdbeben-Experten haben dieses Szenario angenommen und berechnet, wie schwer die Folgen wären. Wie viele Tote würde es geben? Wie viele Gebäude würden beschädigt? Was lässt sich daraus lernen?
Zugrunde liegt dem ein Auftrag aus dem Bundestag: Seit 2012 bekommen die Abgeordneten jährlich für verschiedene mögliche Gefahren vorgelegt, wie Experten das Risiko einschätzen. Im ersten Jahr ging es da auch um die Gefahren einer Pandemie durch ein Sars-Virus. Auch wenn dort der schlimmste Fall angenommen wurde, las sich in der Corona-Krise vieles prophetisch, was die Analyse als Folge sah.
Starkes Beben wird kommen
Nun haben Wissenschaftler auf 152 Seiten vorgelegt, was ein schweres Erdbeben in Deutschland bedeuten könnte. Es kommt von einem Team des Deutschen Geoforschungszentrums (GFZ) Potsdam. Das GFZ hatte für das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) die wissenschaftliche Federführung. Das Szenario ist Gerüst für eine Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz auf Bundesebene.
Solche Analysen sollen dazu dienen, sich vorsorglich mit bundesweit relevanten Gefahren und Auswirkungen auf alle Lebensbereiche zu befassen.
Risikoanalysen
Seit 2012 werden Risikoanalysen im Bevölkerungsschutz auf Bundesebene erstellt. Bisher ging es um:
Extremhochwasser nach Schneeschmelze (2012),
Virus-Pandemie (2012),
Wintersturm (2013),
Sturmflut (2014),
Unfall in einem Kernkraftwerk (2015),
Großer Chemieunfall (2016),
Bilanz aller Risikoanalysen (2017),
Dürre (2018).
Laut den Forschern wäre ein Erdbeben an einem Werktag besonders folgenreich, und der schlimmste Fall sollte angenommen werden. Dieses Szenario würde Hunderte Tote bedeuten, so die Studie des Geoforschungszentrums. Ein solches Beben wird es geben, und die Folgen werden gravierend sein, davon sind Forscher überzeugt. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch hoch, dass bis dahin noch Hunderte oder Tausende Jahre vergehen.
Das Beben im Szenario hat sein Epizentrum bei Kerpen an der rund 50 Kilometer langen Erftstörung. Schwere Erdbeben sind nicht nur dort möglich, wo die kontintentgroßen Gesteinsplatten aneinanderreiben, sondern auch innerhalb der Platten, wo die Platten in Schollen zerbrochen sind. Im Niederrheingraben gibt es mehrere solcher Bruchstellen. Die Gegend gehört zu einer der seismisch aktivsten Regionen Mitteleuropas.
Vor weniger als 9.000 Jahren Beben der Stärke 7
An einer solchen Störungszone konnte beim Bau der A4 bei Düren ein Beben der Stärke von etwa 7 vor 2.500 bis 9.000 Jahren nachgewiesen werden. Auf einer Seite der Störung lag die Erde schließlich bis zu einen halben Meter höher als auf der anderen Seite.
1992 ereignete sich das Roermond-Beben mit der Magnitude 5,9 mit Epizentrum kurz hinter der niederländischen Grenze, bei dem Dutzende Menschen verletzt wurden und ein geschätzter Schaden von mehr als 100 Millionen Euro entstand. 70 Kilometer vom Epizentrum war nach dem 15 Sekunden dauernden Beben am Kölner Dom eine 400 Kilogramm schwere Kreuzblume abgebrochen und ins Seitenschiff gestürzt.
Das Beben im Szenario für den Bundestag hat sein Epizentrum nur rund 20 Kilometer vom Dom entfernt. Anhand der Bodenverhältnisse und des Gebäudebestands hat das Forscherteam um Marco Pilz berechnet, wo das Beben mit welcher Intensität welche Folgen haben würde. Dem Epizentrum am nächsten liegen die Städte Erftstadt und Kerpen mit jeweils mehr als 50.000 Einwohnern.
Viele Opfer in einzelnen Gebäuden
Dort könnte es jeweils etwa 30 Tote geben. In Köln, wo der sandige Untergrund lange Erdbebenwellen verstärken kann, sterben bei dem Szenario mehr als 30 Menschen, in Bonn sind zehn Tote zu beklagen. Auf lokaler Ebene seien die Zahlen sehr unsicher, merken die Wissenschaftler an. Eine Gesamtopferzahl von etwas mehr als 200 für den Regierungsbezirk Köln halten die Forscher aber für realistisch.
Sie sagen auch: Auf die Opferzahl werden einzelne Gebäude sehr hohen Einfluss haben. Und oft sind es Schulgebäude, deren Einsturz die Todeszahl deutlich nach oben treibt. Die Wissenschaftler raten deshalb, diese Gebäude besonders unter die Lupe zu nehmen. "Mit vergleichsweise kleinen Investitionen könnten signifikante Verbesserungen erzielt werden."
Ein weiterer Ratschlag aus dem Papier ist, das Bewusstsein für das Risiko zu schärfen und den Menschen zu vermitteln, wie sie sich im Falle eines Erdbebens schützen sollten. Vorgeschlagen wird auch, die Möglichkeiten zu prüfen, auf Ebene einzelner Gebäude das mögliche Risiko anzugeben.
In Abstimmung
Das Szenario ist Grundlage der endgültigen Risikoanalyse. Daran haben neben GFZ und der Bundesanstalt für Geowissenschaften verschiedene Behörden von Bund und aus dem Land NRW mitgewirkt, unterstützt von Universitäten, der DB Netz AG und Energie- und Wasserversorgern. Die Analyse ist in der letzten Abstimmung zwischen den Bundesministerien.
Potsdamer Forscher arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten und bei Hochrechnungen zu Opfern mit Erfahrungswerten aus Erdbeben in vergleichbaren Regionen der Welt, weil es für Deutschland keine belastbaren Werte gibt: Mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit wird die Opferzahl zwischen 100 und 1.000 liegen, mit knapp unter 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit bei unter 100, mit 10-prozentiger Wahrscheinlichkeit aber auch zwischen 1.000 und 10.000. Die Studie weist darauf hin, dass es außerhalb des Regierungsbezirks weitere Opfer geben könnte.
Es könnte den Kölner Dom zerreißen
Für das Stadtgebiet Köln untersucht die Studie auch auf Basis von 169.471 Gebäuden, die in unterschiedliche Klassen eingeteilt sind, wie viele voraussichtlich wie stark beschädigt würden. Der Dom wäre wohl darunter, auch wenn das Potsdamer Team darauf nicht eingeht: Schwingungen dort sind durch mehrere Sensoren in Keller und Türmen und durch Modellrechnungen gut erforscht: Die Türme würden in einer anderen Frequenz ins Schwingen geraten als das Kirchenschiff, Verbindungen dazwischen und Gewölbedecke drohen zu kollabieren.
Die Wahrscheinlichkeit, dass in Köln fast alle Gebäude zumindest leicht beschädigt werden, liegt bei 20 Prozent. Wahrscheinliches Szenario sei, dass knapp 50.000 Gebäude im Kölner Stadtgebiet bei dem berechneten Erdbeben Schäden erleiden. 3.000 Gebäude dürften einstürzen oder durch starke Schäden akut einsturzgefährdet sein.
Wie hoch der Schaden ist, dazu trifft die Analyse keine Aussage. Der weltgrößte Rückversicherungskonzern Munich Re hatte 1998 überschlagen, ein Beben der Stärke 6,4 im Kölner Raum würde Schäden von 50 Milliarden Euro bedeuten. Für ein Beben der Stärke 6,7 hatten sie einen fast doppelt so hohen Schaden angenommen.
- Eigene Recherchen
- gfz-potsdam.de: "Seismic risk analysis in Germany: an example from the Lower Rhine Embayment" (engl.)
- gfz-potsdam.de: Gefährdung durch Erdbeben
- Gefährdung durch Erdbeben
- MunichRe, 1998: Naturkatastrophen in Deutschland
- welt.de: Bauphysik: Kölner Dom schwankt bei Beben bis zu 20 Zentimeter
- 4,4 Mio Menschen im Regierungsbezirk