Wie, um Himmels willen, kann man das vergessen?
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es ist schΓΆn, dass Sie wieder da sind, um den heutigen ... na das, was ich immer mache, also das mit den vielen Tasten, Sie wissen doch ...
Tagesanbruch? Ja, genau! Danke, Sie haben recht, ich glaube, so hieΓ das. Also das, was Sie jeden Tag und heute auch β¦ Γ€hm β¦ jetzt habe ich den Faden verloren. Lesen! Also dass Sie das lesen. Das ist schΓΆn. Das freut mich sehr.
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Es ist schon schlimm, dass ich immer alles vergesse. Manchmal ist mir zum Heulen. Eigentlich bin ich schon im Dings, also in dem β¦ ich komm jetzt nicht drauf β¦ wo man nicht mehr zur β¦ na zur Arbeit β¦ genau, wo man nicht mehr zur Arbeit geht.
Krank, sagen Sie? Nein, ich bin doch nicht krank! Mir geht es gut! Ich bin fit und mache alles selbst. Ich arbeite sogar noch! Jeden Tag geh ich ins BΓΌro! Gerade gestern erst war ich ... Wie, ich bin in Rente? Ja, stimmt, wo Sie es jetzt sagen, das ist es. Ich bin in Rente. Ich arbeite nicht mehr. Da hat man Zeit. Aber ich bin immer beschΓ€ftigt. Immer unterwegs.
Er vergisst mittlerweile wirklich alles. Manchmal erzΓ€hlt er sogar, dass er noch zur Arbeit geht. Den ganzen Tag wurschtelt er in der Wohnung rum. Er habe immer so viel zu tun. Ich weiΓ auch nicht, was er da eigentlich macht. Geht in das eine Zimmer, geht ins nΓ€chste, geht wieder zurΓΌck, holt etwas, legt es irgendwo hin und sucht es dann. Neulich wollte er aus der KΓΌche Kekse holen und ist fΓΌnfmal hingegangen, brachte jedes Mal etwas anderes mit. BloΓ die Kekse nicht.
Heute, glaube ich, ist irgend so ein besonderer Tag. In der Tagesbetreuung haben sie davon gesprochen. Ja, jetzt weiΓ ich es wieder! Es war sogar jemand von der Zeitung da! "Welt-Alzheimertag", genau, so haben sie das genannt. Obwohl: Eigentlich war der gestern. Aber da hab ich nicht dran gedacht. Oder meine Kollegin hatte den Tagesanbruch geschrieben. Jedenfalls war da irgendwas.
Bei uns zu Hause ist jeden Tag "Welt-Alzheimertag". Aber es stimmt, offiziell wΓ€re der gestern gewesen. Sehen Sie: Jetzt hatte er mal wieder einen dieser klaren Momente und weiΓ genau, was gestern war. Sonst ist alles konfus und das GedΓ€chtnis ein Sieb, aber auf einmal β zack! β ist er fΓΌr kurze Zeit fast wieder der Alte. Dann denken die Leute, wir AngehΓΆrigen wΓΌrden spinnen oder ΓΌbertreiben. Neulich war der Medizinische Dienst bei uns, weil ich einen hΓΆheren Pflegegrad beantragt habe. Wir schaffen das sonst einfach nicht mehr. Ausgerechnet als die Dame zur Begutachtung vorbeikam, war er in Topform: fΓΌr seine VerhΓ€ltnisse superorientiert, aufmerksam. "Kann ich Ihnen vielleicht Kekse anbieten?", hat er gefragt. Mehr Pflege haben wir da natΓΌrlich nicht bekommen, jetzt lΓ€uft unser Widerspruch gegen die Entscheidung. Das kann locker ein halbes Jahr oder lΓ€nger dauern. Ich habe keine Ahnung, wie wir das in der Zwischenzeit stemmen sollen. Aber auf den Tischen der Leute, die ΓΌber diese Angelegenheiten befinden, tΓΌrmen sich die FΓ€lle.
Ich bin eigentlich ganz zufrieden, danke der Nachfrage. Ich komme zurecht. Ob ich Freunde habe? Ja, ich habe viele Freunde! Es ist immer was los! Aber ich bin auch gern allein. Wissen Sie, ich brauche den Trubel gar nicht. Wird mir zu viel. Man muss ja nicht immer alles mitmachen. Ich bleibe lieber zu Hause.
Am schlimmsten war es fΓΌr ihn zu Beginn. Als es losging mit dem Alzheimer und er merkte, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Wenn einem auf einmal klar wird, dass im eigenen Kopf etwas nicht funktioniert, ist das furchtbar. Man sitzt mit Leuten zusammen und unterhΓ€lt sich, und plΓΆtzlich weiΓ man nicht mehr, worΓΌber sie gerade reden. Phrasen helfen dann. "Das finde ich auch", "wirklich?", "Donnerwetter!", so was. Das vertuscht das Problem eine Weile, aber irgendwann merken es doch alle. Man sagt ab und zu SΓ€tze, die gar nicht zum GesprΓ€ch passen. Man ist durcheinander, aber eines entgeht einem nicht: die irritierten Blicke. Die Korrekturen. Es mΓΌssen ja alle erst mal realisieren, was da eigentlich begonnen hat: eine Demenz, Alzheimer. Keiner weiΓ, wie er sich verhalten soll. So tun, als wΓ€re nichts? Verbessern? "Nein, wir waren doch schon lange nicht mehr beim RommΓ©! Das weiΓt du doch!"
Nach einer Weile hat er sich dann zurΓΌckgezogen. Ging nicht mehr zu den Treffen mit den Freunden. Er habe heute irgendwie keine Lust, behauptete er dann. Er merkte, wie ihm die Dinge entglitten. Ihm gehe es gut, sagte er, aber seine Stimme brach dabei manchmal. Dann kamen die TrΓ€nen. Jetzt ist das vorbei. Er kann alles und macht noch immer alles selbst, erzΓ€hlt er und glaubt es auch. Er stellt ganz selbstverstΓ€ndlich fest, dass er sich mittags was SchΓΆnes kocht, obwohl der Herd seit zwei Jahren abgeklemmt ist. Die schlimme Zeit der Selbstwahrnehmung ist vorbei. Das Essen kommt jetzt auf RΓ€dern.
Liebe Leserin, lieber Leser, nun aber wirklich: Guten Morgen zum Tagesanbruch! Die Personen, denen Sie gerade begegnet sind, habe ich mir ausgedacht. Die Situationen und SΓ€tze, die sie sprechen, aber nicht. Wenn Alzheimer einsetzt, beginnt er das Leben der Betroffenen von Grund auf zu verΓ€ndern β nach und nach, meist schleichend, zu Anfang fast unbemerkt. Manchmal verΓ€ndert sich die Krankheit fΓΌr lange Zeit nicht und die Dinge spielen sich ein. Bei anderen Betroffenen verschlechtert sich die Lage in nur wenigen Wochen. Alzheimer ist schlecht voraussehbar, kann jeden treffen und lΓ€sst auch in der Umgebung der Erkrankten niemanden in Frieden. Nachbarn, Freunde, die AngehΓΆrigen sowieso: Alle mΓΌssen sich mit der Situation auseinandersetzen, ob sie wollen oder nicht. Das geht an niemandem spurlos vorbei.
Wie viele Menschen leiden darunter? Stellen Sie sich die zweitgrΓΆΓte deutsche Stadt Hamburg vor: 1,8 Millionen Menschen. So viele Demenz-Erkrankte sind es in ganz Deutschland, und es werden immer mehr. Rechnet man noch die AngehΓΆrigen, Freunde und Pfleger hinzu, sind wir bei einem Problem, das so viele Menschen betrifft, wie Hamburg, Berlin, MΓΌnchen und KΓΆln Einwohner haben. Mindestens. Man muss es sich so plastisch vor Augen fΓΌhren, denn die Krankheit und ihre Folgen spielen sich hinter verschlossenen TΓΌren ab. Man sieht gar nicht so viel von ihr. Bis sie in die eigene Welt einbricht. Dann bestimmt sie bald den gesamten Alltag.

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Der Welt-Alzheimertag ist auch am Tag danach ein guter Anlass, um darauf hinweisen: Die bisherige UnterstΓΌtzung reicht in der Praxis nicht aus. Die Betroffenen und pflegende AngehΓΆrige brauchen jede Hilfe, denn es ist eine unfassbar fordernde Zeit. Verschwinden lassen kann man die Krankheit und die Belastung leider nicht. Alzheimer gehΓΆrt zu den Karten, die das Leben austeilt, zufΓ€llig und ohne erkennbares System. Sich geistig fit zu halten, Sport, gesunde ErnΓ€hrung und Geselligkeit verringern die Wahrscheinlichkeit, dass man erkrankt β vor allem, wenn man so einen Lebenswandel schon im mittleren Alter und nicht erst im Ruhestand pflegt. Dennoch kann es jeden treffen, auch wenn man viele BΓΌcher gelesen oder ein KreuzwortrΓ€tsel nach dem anderen gelΓΆst hat.
Zu beschΓΆnigen gibt es dabei nichts, aber nicht alles ist grau. Auch mit Alzheimer erlebt man Momente der Freude, ist entzΓΌckt ΓΌber den Besuch, auch wenn er ab einem gewissen Stadium stets ΓΌberraschend erscheint. Lachen ist kein Privileg der Gesunden. Informationen mΓΆgen einen nicht mehr erreichen, Wochentag und Tageszeit unklar sein, aber die Empfindsamkeit fΓΌr Stimmungen bleibt lange unbeeintrΓ€chtigt. Gute Laune steckt deshalb auch mit Alzheimer an. Trost kommt manchmal unverhofft, selbst in erschΓΌtternden Momenten. Lassen Sie es mich mit den Worten einer alten Dame sagen, die eines Tages ihre Tochter nicht mehr erkannte: "Nein, ich weiΓ nicht, wer Sie sind", stellte sie freundlich fest. "Aber ich habe Sie trotzdem lieb."

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Zum Schluss
Wieso entwickeln so viele Leute radikale Einstellungen?
Ich wΓΌnsche Ihnen einen ganz normalen Tag.
Herzliche GrΓΌΓe
Ihr ganz normaler
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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