Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Merz bekommt große Aufgabe

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wer in die Zukunft sehen will, muss die Sterne befragen. Und die haben gegenwärtig einiges mitzuteilen. Um die gewaltige Sonne kreisen die kleinen Planeten, haben wir in der Schule gelernt. Doch 240 Lichtjahre entfernt haben Wissenschaftler jetzt entdeckt, dass es auch anders geht: Dort kreist ein Riesenplanet um ein vergleichsweise mickriges Sternchen, was die Experten grübeln lässt, wie so etwas bloß zustande kommen kann.
Donald Trump ist nicht als Grübler bekannt. Wer die Sonne ist, die sich huldvoll umkreisen lässt, braucht man ihm nicht per Astronomiebuch zu erläutern. Ihm gegenüber hat gestern der Bundeskanzler Platz genommen, für den die Erkenntnis, dass Planeten und Sonnen auch ein ausgewogeneres Verhältnis haben können, eine hervorragende Nachricht ist.
Der gemeinsame Auftritt hat die wissenschaftliche Revolution immerhin zum Teil bestätigt: Beim Tête-à-Tête im Oval Office machte Merz eine respektable Figur, wurde vom Gastgeber mit Freundlichkeiten bedacht und durfte diesem sogar ins Gesicht sagen, dass die USA den Krieg in der Ukraine jetzt beenden müssen, indem sie den Druck auf Aggressor Putin erhöhen. Trumps üblich wirre Ablenkungsmanöver und Beschimpfungen seines Vorgängers Joe Biden fielen da kaum ins Gewicht. Unsere Reporter Bastian Brauns und Johannes Bebermeier haben alle Details.
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Wie erfolgreich ist der Besuch von Merz in Washington also gewesen? Um das zu bewerten, muss man zunächst die Antwort auf eine andere elementare Frage finden: nämlich die, worin das übergeordnete, strategische Ziel im Umgang mit Mister Trump eigentlich besteht. Dass das Verhältnis zu ihm unberechenbar und selbst im besten Fall nicht einfach ist, sorgt seit seinem Amtsantritt für Dauerstress und eine permanente Neubewertung der Lage. Aber die Grundlagen der Beziehung verändern sich kaum. Und die lassen sich in drei Punkten klar umreißen.
Erstens: Trump ist Chaos. Das dürfte wohl niemandem entgangen sein. Die Folgen sind verheerend, politisch ebenso wie wirtschaftlich. Die Nerven leiden unter dem ständigen Hin und Her, und von Planbarkeit wollen wir gar nicht erst reden. Würden Sie als Firmenchef kostspielige Entscheidungen treffen, wenn Sie nicht wissen, ob Sie nächste Woche ihre Produkte in den USA mit einem Aufschlag von 20 Prozent verkaufen müssen, oder doch zum ursprünglichen Preis, oder kommen sogar 50 Prozent obendrauf? Wer tätigt unter diesen Umständen Investitionen, stellt Leute ein, macht Verträge mit seinen Zulieferern, legt sich langfristig fest? Eben.
Europas Rolle in diesem Chaos ist die eines Gegenpols: als Ort der Berechenbarkeit, wo man kalkulieren und folglich auch investieren kann, wo Zusagen gelten, politische Kapriolen die Ausnahme sind und Partnerschaften etwas bedeuten. Den Schaden, den der amerikanische Zickzackkurs anrichtet, kann man so zwar nicht verhindern, aber begrenzen. Und noch etwas anderes kann die Geradlinigkeit bewirken: Sie stärkt die Bedeutung Europas auf der Weltbühne. Verlässliche Partner werden umso wertvoller, je rarer sie sind.
Die zweite Eigenheit des Verhältnisses zu den USA ist noch unangenehmer als das Chaos, das über den Atlantik herüberschwappt: Trump ist ein strategischer Gegner, kein Partner. Er und seine MAGA-Leute zementieren nicht nur die Herrschaft der Populisten bei sich zu Hause. Sie haben ihre Ambitionen längst auf die andere Seite des Atlantiks ausgedehnt. In Deutschland gab es Wahlhilfe für die AfD, in Polen für den ultrarechten, nun zum Präsidenten gewählten Kandidaten, und es geht den Kontinent rauf und runter so weiter. Der Erfolg variiert, die Einmischung in Europa ist aber nicht zu übersehen. Trumps MAGA-Lager hat eine "populistische Internationale" aus der Taufe gehoben.
Die Aktivitäten der Trumpisten spalten in Übersee genauso wie in den USA. Sie untergraben den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaften. Deutschland muss sich auch auf diesem Feld als Gegengewicht begreifen, als demokratische Bastion positionieren, gegenhalten. Die USA sind nicht mehr Garant dieser Werte. Die Rolle fällt Staaten in Europa zu.
Aber es gibt noch einen dritten Punkt zu beachten: Trump hat recht. "You don't have the cards right now", du hast kein starkes Blatt auf der Hand, hat er kürzlich Präsident Selenskyj beim Showdown im Weißen Haus um die Ohren gehauen. Das ist leider wahr und gilt nicht nur für den geschundenen ukrainischen Regierungschef. Öffentlich eingestehen will das natürlich niemand: Kanzler Merz hat vor seiner Reise klargestellt, dass wir Deutschen "keine Bittsteller" sind und er das Gespräch auf Augenhöhe sucht. Wie wir gesehen haben, hat das ganz ordentlich geklappt. Reporterfragen nach dem Ukraine-Krieg nutzte Merz, um Trump in flüssigem Englisch zu stärkerem Engagement gegen Putins Armee aufzufordern. Von Olaf Scholz hätte man so klare Worte vor laufenden Kameras nicht gehört.
Kein rhetorischer Erfolg kann jedoch darüber hinwegtäuschen, dass es mit der halbwegs gleichen Augenhöhe allenfalls beim Pressetermin klappt. Der Versuch des Kanzlers, das wirtschaftliche Kräfteverhältnis nicht ganz so unausgewogen aussehen zu lassen, ist ehrenwert. Viele Konsumenten, ein großer Markt, die schiere Masse potenzieller Kunden für die amerikanische Wirtschaft: So versuchte Merz, den europäischen Kontinent beim Geschäftsmann Trump zu vermarkten. Zurzeit allerdings fließen die Warenströme in umgekehrter Richtung. Amerika importiert, Europa verdient, so sieht Trump es, reagiert gereizt und sieht darin die Rechtfertigung seiner irrwitzigen Zölle. Es lässt sich nicht schönreden: Hierzulande sind wir auf die Exporte dringend angewiesen. Beim Handel ist Europa nicht in der besten Position, bei der Unterstützung der Ukraine auch nicht, bei der Verteidigungsfähigkeit der Nato ohne die USA erst recht nicht. Noch.
Darum also geht es eigentlich bei diesem Besuch: Zeit gewinnen. Deutschland und Europa haben eine klar umrissene Rolle, die sie einnehmen sollten, aber mit dem Können wird es noch auf Jahre hinaus hapern. Merz hat bei seinem Besuch die tickende Uhr ein wenig zurückgestellt. Er und andere – Macron, Starmer, Meloni – werden im Auftrag Europas weiterhin Zeit herausschinden müssen. Aber das ist nur die halbe Miete.
Die Antwort darauf, ob der Besuch erfolgreich war, wird nämlich nicht in Washington gegeben, sondern hier bei uns. Mit einem unberechenbaren Hallodri im Weißen Haus kann man das Verhältnis zu den USA nicht reparieren, und wenn dort ein Nachfolger aus dem MAGA-Camp einzieht, etwa Mister Vance, sieht es auch nicht besser aus.
Es geht jetzt also nur um einen Aufschub. Nutzen Merz, Macron, Starmer und die übrige europäische Führungsriege die gewonnene Zeit, um den Kontinent aus seiner heiklen Abhängigkeit zu befreien? Wie effizient vollzieht sich die Umorientierung der Wirtschaft, der Aufbau der Verteidigungsfähigkeit, die Stärkung der Gesellschaft gegen Manipulation und Populismus? In Washington kann man das nicht herausfinden. Ob der Kanzler das Ziel seiner Reise erreicht, zeigt sich erst, wenn er in Berlin wieder aus dem Flieger steigt – und sich an die eigentliche Arbeit macht.
Ende einer Freundschaft?
In Washington eskaliert derweil der Machtkampf der Giganten Donald Trump und Elon Musk. Die derzeit mächtigsten Männer Amerikas kollidieren vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Der Bruch der bisherigen Verbündeten ist weit mehr als ein Konflikt über persönliche Eitelkeiten. Er erschüttert das Machtgefüge der amerikanischen Rechten. Unser USA-Korrespondent Bastian Brauns beschreibt, warum damit ein Krieg um das Erbe der MAGA-Bewegung ausgebrochen ist.
Deutschland macht dicht
Getrieben von dem Wunsch, der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen, präsentiert die Bundesregierung im Wochentakt neue Verschärfungen in der Migrationspolitik. Dass es mit der Abweisung von Asylsuchenden an den Grenzen nicht so einfach ist, wie es Innenminister Alexander Dobrindt gerne hätte, hat zwar gerade erst das Berliner Verwaltungsgericht in einer Eilentscheidung festgestellt: Es gab drei Flüchtlingen aus Somalia recht, die nach Polen zurückgeschickt worden waren und dagegen geklagt hatten. Der CSU-Minister aber zeigt sich unbeeindruckt und will an der rigiden Praxis festhalten – trotz vermehrtem Grummeln beim Koalitionspartner SPD.
Heute steht im Bundestag der nächste umstrittene schwarz-rote Gesetzentwurf auf der Tagesordnung: die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte, also Geflüchtete, die hier zwar kein Asyl bekommen, aber trotzdem bleiben dürfen, weil ihnen in ihren Heimatländern Gefahr droht. Kritik daran kommt von Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und der Linkspartei. Einen gangbaren Weg weisen Dänemark und Italien, meint unser Politikchef Christoph Schwennicke.
Nato rüstet auf
Zuvorderst ist es natürlich die Bedrohung durch Kriegstreiber Putin, die die Nato zum Handeln zwingt: Die Verteidigungsminister des Bündnisses haben sich in Brüssel auf das größte Aufrüstungsprogramm seit Jahrzehnten verständigt. So sollen sich alle Mitgliedsstaaten beim Gipfeltreffen Ende des Monats verpflichten, künftig mindestens 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren. Hinzu kommen noch einmal 1,5 Prozent für verteidigungsrelevante Infrastruktur – also Brücken, Straßen und so weiter. Die Addition beider Posten führt zum zweiten Grund für den Beschluss: Fünf Prozent ist die seit Längerem von Donald Trump geforderte Quote, und den US-Präsidenten will die Allianz tunlichst bei der Stange halten.
Für Verteidigungsminister Boris Pistorius bedeuten die neuen Zielvorgaben noch eine weitere Herausforderung: Um all die Kampfflugzeuge, Artilleriegeschütze und Drohnen einsetzen zu können, braucht die Bundeswehr bis zu 60.000 zusätzliche aktive Soldaten. Kein Wunder, dass die Debatte um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht wieder aufflammt.
Mann feiern
Ein Festakt in der Lübecker Kirche St. Aegidien markiert heute den Höhepunkt der Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann. Dazu werden in der Hansestadt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther sowie Frido Mann, Enkel des Großschriftstellers, erwartet. Außerdem beginnt eine Ausstellung des Buddenbrookhauses mit dem Titel "Meine Zeit. Thomas Mann und die Demokratie".
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Ohrenschmaus
In Nürnberg und Nürburg beginnen die Festivals Rock am Ring und Rock im Park. Die meisten Bands sagen mir altem Knacker nichts, aber ehrlichen Rock find' ich dufte. So was.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Wochenausklang und bedanke mich für die vielen netten Zuschriften nach dem Thomas-Mann-Tagesanbruch am Mittwoch.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.