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Berlin / SPD-Spitzenkandidatin Giffey: "Eine komplett autofreie Stadt ist unrealistisch"


SPD-Spitzenkandidatin
"Eine komplett autofreie Stadt ist unrealistisch"

  • Anne-Sophie Schakat
InterviewVon Anne-Sophie Schakat, Sophie Loelke

Aktualisiert am 12.09.2021Lesedauer: 7 Min.
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Franziska Giffey im Gespräch mit t-online: Die Berliner SPD-Spitzenkandidatin will gegen Grundstückspekulanten vorher.Vergrößern des Bildes
Franziska Giffey im Gespräch mit t-online: Die Berliner SPD-Spitzenkandidatin will gegen Grundstückspekulanten vorgehen. (Quelle: V. Saizew)

Als Berliner SPD-Spitzenkandidatin will Franziska Giffey ins Rote Rathaus einziehen. Im t-online-Interview erklärt sie, wie sie den ÖPNV, den Wohnungsmarkt und die Bildung in der Hauptstadt verbessern will.

"Ganz sicher Berlin" lautet der Titel des SPD-Wahlprogramms für die Berliner Abgeordnetenhauswahl am 26. September. Hinter der Co-Vorsitzenden und Spitzenkandidatin des Landesverbandes, Franziska Giffey, liegen schwierige Monate. Im Juni hat ihr die Freie Universität Berlin wegen "Täuschung über die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistung" den Doktortitel entzogen. Schon vorher trat sie deshalb als Bundesfamilienministerin zurück. Auch bei ihrer Masterarbeit soll sie falsch zitiert haben, wie t-online berichtete.

Trotzdem stehen Giffeys Chancen, ins Rote Rathaus einzuziehen, gut. Aktuelle Umfragen sehen die SPD klar vorn. Wenige Wochen vor der Wahl hat Franziska Giffey mit t-online über die großen Baustellen in der Hauptstadt, Enteignungen und ein 365-Euro-Ticket für den Nahverkehr gesprochen.

t-online: Eine Wohnung in Berlin zu finden, kann die reinste Odyssee sein. Die Mieten sind hoch und die verfügbaren Wohnungen knapp. Sie wollen die Wohnungsnot vor allem durch Neubau entschärfen. Reicht das aus, um Mieter auch kurzfristig zu entlasten?

Franziska Giffey: Wenn der Bedarf höher ist als das Angebot, ist es notwendig, das Angebot zu vergrößern. Deshalb würde ich den Wohnungsneubau in Berlin zur Chefinnensache machen. Aber auch der effektivere Schutz der Mieterinnen und Mieter ist mir wichtig. Bestehende Mieterschutzregelungen müssen konsequent umgesetzt werden.

Mieterinnen und Mieter stehen nicht ohne Schutz da, auch wenn der Mietendeckel vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist. Es gibt die Mietpreisbremse, die im Bund noch mal verschärft wurde, und den Mietenspiegel. Hier scheitert es aber zu häufig an der Umsetzung. Wir sehen, dass manche Vermieter trotzdem unseriöse Verträge oder ausbeuterische Nebenabreden machen. Deshalb ist es wichtig, dass Mieterinnen und Mieter Beratung und Rechtsbeistand bekommen, um dagegen vorzugehen.

Sie und Ihr Co-Vorsitzender Raed Saleh haben die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch stark für ihre Ankündigung kritisiert, für den Enteignungsvolksentscheid im September stimmen zu wollen. Mit der SPD sind Vergesellschaftungen jeglicher Art also ausgeschlossen?

Zunächst haben wir einen Volksentscheid, mit dessen Ausgang wir respekt- und verantwortungsvoll umgehen werden. Inhaltlich ist meine Position dazu aber klar: Enteignungen sind nicht das geeignete Mittel, um die große soziale Frage des bezahlbaren Wohnraums zu lösen. Es sollte nicht vergessen werden, dass jede Enteignung in Deutschland mit Entschädigungsleistungen verbunden ist. Die Vermieter, die sich am Mietmarkt unfair verhalten, würde man also noch mit Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe belohnen, statt sie in die Pflicht zu nehmen. Und es entsteht keine einzige neue Wohnung dadurch.

Pauschal Unternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen zu enteignen, ist weder zielgenau noch gerecht. Wenn sich aber Wohnungs- und Grundstückseigentümer jahrelang nicht um ihre Häuser und Wohnungen kümmern, ihre Grundstücke verwahrlosen lassen und keinen neuen Wohnraum schaffen, dann muss eingegriffen und effektiv gegen Grundstücksspekulationen vorgegangen werden.

Bei Wohnungsunternehmen oder Grundstücksbesitzern, die sich nicht an die Regeln halten, könnten Sie sich Enteignungen also doch vorstellen?

Enteignungen sind im Grundgesetz ganz klar geregelt. Das ist ein Instrument, das nur im Äußersten verwendet werden darf, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht, um etwa ein großes, übergeordnetes Ziel wie den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten. Dafür wurde die Enteignung ins Grundgesetz aufgenommen, nicht um jemanden zu bestrafen, der sich in irgendeiner Weise nicht kooperativ zeigt. Das ist ein großer Unterschied. Wir müssen verhältnismäßigere, zielgenauere Mittel finden.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Verkehrswende, die gelingen muss, damit Berlin seine Klimaziele einhalten kann. Was muss hier in den nächsten Jahren passieren?

Wir wollen vor allem die U-Bahn-Verlängerung in den Außenbezirken voranbringen. Das wird natürlich seine Zeit dauern, aber wir müssen endlich anfangen.

Generell muss das Netz des öffentlichen Nahverkehrs und auch das Radwegenetz erweitert werden. Wir brauchen auch bei S-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen ein breiteres Angebot und eine andere Taktung – gerade auch in den späten Abendstunden in den Außenbezirken. Damit die Menschen umsteigen, muss die Attraktivität, aber auch die Bezahlbarkeit des öffentlichen Nahverkehrs verbessert werden. Die SPD hat deshalb ein 365-Euro-Ticket für alle Berlinerinnen und Berliner vorgeschlagen. Wenn es gute alternative Angebote gibt, werden auch mehr Menschen auf das Auto verzichten.

Stehen sich diese beiden Vorhaben nicht im Weg? Durch niedrigere Ticketpreise dürfte das nötige Geld für den Ausbau des ÖPNV-Netzes fehlen.

Von heute auf morgen kann man ein 365-Euro-Ticket natürlich nicht einführen. Das erhöhte Verkehrsaufkommen könnte unser Netz mit der derzeitigen Taktung auch gar nicht bewältigen. Auf einen solchen Schritt muss man sich gut vorbereiten, um nicht für Unzufriedenheit unter den Fahrgästen zu sorgen. Das Projekt ist aber eine Perspektive, die viele Berlinerinnen und Berliner zum Umstieg motivieren könnte.

Wir müssen uns aber auch eingestehen, dass die Stadt das nicht allein stemmen kann. Die Verkehrsanbindung in Berlin als Hauptstadt ist von nationaler Bedeutung. Um den Ausbau der Linien voranzubringen, sind wir auf finanzielle Mittel des Bundes angewiesen. Diese für Berlin einzuwerben, wird eine wichtige Aufgabe in der neuen Legislatur.

Die Idee einer autofreien Stadt haben Sie "wirklichkeitsfremd" genannt. Wie wollen Sie Verbrenner perspektivisch dennoch von den Straßen verbannen? Mehr Ladesäulen bedeuten schließlich nicht automatisch mehr E-Autos.

Wir setzen auf Angebote statt Verbote. Manche Menschen sind aufs Auto angewiesen, weil sie zum Beispiel mehr als nur sich selbst zu transportieren haben. Andere fahren einfach gerne Auto, auch das sollte man nicht verteufeln. Aber das geht ja auch umweltschonend. Deshalb ist der Ausbau der E-Ladesäulen extrem wichtig, um diese Menschen zum Umstieg aufs E-Auto zu motivieren.

Auch Investitionen in Technologien wie Wasserstoff oder E-Fuels sind entscheidend. Durch umweltverträgliche Antriebe auch für ältere Autos könnte die Verkehrswende sozial verträglich gelingen. Aber die Vision einer komplett autofreien Stadt ist in einer fast Vier-Millionen-Metropole wie Berlin aus meiner Sicht unrealistisch.

Auch der Radverkehr ist eine wichtige Säule der Verkehrswende. Regelmäßig verunglücken Radlerinnen und Radler in Berlin tödlich. Was kann hier getan werden?

Es muss viel mehr in sichere Radwege investiert werden. Hier ist in den letzten Jahren noch zu wenig passiert. Von den bis 2030 geplanten Radwegen wurden in dieser Legislaturperiode null bis 1,4 Prozent umgesetzt, je nach Streckenart. Das muss deutlich mehr und schneller werden. Eine Voraussetzung dafür ist aus meiner Sicht, die Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und Verkehr wieder zusammenzuführen. Aktuell gibt es dafür zwei unterschiedliche Senatsverwaltungen mit unterschiedlicher politischer Führung (Anm. d. Red.: Grüne Verkehrssenatorin Regine Günther und Linker Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel), was viele Vorhaben behindert. Sollte die SPD stärkste Kraft werden, wird sich das ändern.

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Damit Radfahrende in Berlin sicherer unterwegs sind, müssen wir vor allem baulich vorsorgen. Man sollte Radwege – dort, wo es möglich ist – neben dem Fußgängerweg anlegen und den ruhenden Verkehr, also parkende Autos, als Barriere zwischen den Radfahrenden und dem fließenden Verkehr nutzen. Vor allem müssen die Radwege aber überall eindeutig gekennzeichnet sein. Pop-Up-Radwege allein reichen auf Dauer nicht aus.

Auch der Bildungsbereich, der seit 25 Jahren in SPD-Hand liegt, sorgt immer wieder für Kritik. Berlin gibt das meiste Geld für Bildung aus, landet bei bundesweiten Tests aber immer auf den hinteren Plätzen. Was läuft da schief?

Zunächst sollte man sich anschauen, was wir in Berlin erreicht haben. Anders als in fast allen anderen Bundesländern gibt es Kitas, die bis 18 Uhr geöffnet sind und das nicht nur dreimal die Woche. Wir haben für alle Kinder das kostenlose Kita- und Schulmittagessen und die kostenlose Schülerfahrkarte. Lehrerinnen und Lehrer, die in schwierigen Lagen arbeiten, bekommen eine Brennpunktzulage, die Schulen zusätzliche Sachmittel und Personalausstattung. Auch die Ganztagsbetreuung ist in Berlin Normalität. Woanders in Deutschland ist das überhaupt nicht selbstverständlich.

Trotzdem gibt es immer noch Baustellen, die auch damit zusammenhängen, dass wir sehr schwierige soziale Lagen in der Stadt haben. Die Defizite in den Bildungsbiografien werden teils von Generation zu Generation weitergegeben. Deswegen ist die Ganztagsbetreuung und die Schulsozialarbeit so wichtig. Hier kann aufgefangen werden, was Eltern nicht leisten können.

Zentrale Herausforderungen der Zukunft liegen beim Personal, in der Schulbauoffensive und in der Digitalisierung. Wir wollen genügend gut qualifizierte Lehrkräfte gewinnen, ausbilden und halten. Bei der Sanierung, beim Bau von Schulen und auch bei der Digitalisierung ist in den letzten Jahren schon viel passiert. Darauf muss aufgebaut werden, auch was die digitalen Kompetenzen der Lehrerinnen und Lehrer angeht.

Berliner Lehrkräfte sind aber ohnehin stark belastet. Viele wandern in andere Bundesländer ab, weil sie dort besser bezahlt werden. Warum verbeamtet die Hauptstadt ihre Lehrenden nicht?

Das liegt unter anderem daran, dass die Grünen und die Linkspartei strikt dagegen waren. Das war in der Koalition nicht zu einen. Deswegen wundert es mich, dass es bei den Grünen jetzt kurz vor der Wahl heißt, Verbeamtungen seien im Notfall nun doch denkbar. Die Position der SPD ist klar: Berlin ist keine Insel und wir müssen im Vergleich zu den anderen Bundesländern wettbewerbsfähig sein. 15 Bundesländer verbeamten ihre Lehrerinnen und Lehrer. Da kann ich doch nicht sagen, das interessiert mich nicht. Für mich heißt das: Wir müssen Verbeamtungen möglich machen.

Sie wollen in sozialen Brennpunkten die besten Schulen mit den besten Lehrkräften. Wie wollen Sie hochqualifizierte Lehrende für die Brennpunktschulen gewinnen?

Dafür gibt es zum einen die Brennpunktzulage, also eine bessere Bezahlung für Lehrende, die in diesen schwierigen Lagen arbeiten. Zum anderen müssen die Schulen besonders gut ausgestattet und saniert sein, um gute Arbeitsbedingungen für die Lehrkräfte und gute Lernbedingungen für Schülerinnen und Schüler zu schaffen. Die Arbeit in einer Brennpunktschule ist nicht jedermanns Sache, aber ich habe schon viele Lehrerinnen und Lehrer kennengelernt, die hier ihre Berufung gefunden haben.

Welche Baustellen würden Sie als erste anpacken, wenn Sie Berlins Regierende Bürgermeisterin werden würden?

Wir müssen das Wohnungsproblem in den Griff bekommen. Dafür brauchen wir ein Bündnis für den Wohnungsneubau, wie Hamburg es gemacht hat. Gemeinsam muss es gelingen, in den nächsten zehn Jahren 200.000 neue Wohnungen zu schaffen.

Außerdem will ich die Wirtschaftsbereiche, die von den Einschränkungen durch die Pandemie besonders betroffen sind, mit unserem Zukunftsprogramm "Neustart Berlin" stärken. Das betrifft die Branchen Hotellerie und Gastronomie, den Einzelhandel, die Messe-, Kongress- und Veranstaltungswirtschaft und die Kultur. Diese Branchen werden auch in den nächsten Jahren sehr auf unsere Unterstützung angewiesen sein.

Den U-Bahn-Ausbau müssen wir sofort zu Beginn der Legislatur anschieben. Und mir ist wichtig, dass wir jungen Menschen in Berlin nach der Pandemie eine berufliche Perspektive geben. Deswegen setze ich mich für eine Ausbildungsplatzgarantie ein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Am 26. September wählen die Berlinerinnen und Berliner neben dem Deutschen Bundestag auch das Berliner Abgeordnetenhaus sowie die Bezirksverordnetenversammlungen. Für einen Überblick über die Positionen und Ziele der Berliner Parteien hat t-online Interviews mit den jeweiligen Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl geführt, die jeden Sonntag auf t-online veröffentlicht wurden. Mit diesem Gespräch endet sie Serie.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Franziska Giffey
  • Eigene Recherche
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