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Geflüchtete Ukrainerin: "Ich bin froh, dass eure Kinder den Krieg nicht gesehen haben"


Geflüchtete Ukrainerin schildert Erlebtes
"Ich bin froh, dass eure Kinder den Krieg nicht gesehen haben"

Aufgezeichnet von Katharina Weiß

Aktualisiert am 31.03.2022Lesedauer: 5 Min.
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Die Ukrainerin Ann Sidorenko: Der 24. Februar veränderte das Leben der jungen Frau wie für Millionen ihrer Landsleute auch. Derzeit lebt sie in Berlin.Vergrößern des Bildes
Die Ukrainerin Ann Sidorenko: Der 24. Februar veränderte das Leben der jungen Frau wie für Millionen ihrer Landsleute auch. Derzeit lebt sie in Berlin. (Quelle: Steven Lüdtke)

Die Studentin Ann Sidorenko hat das Unvorstellbare erlebt: Über zehn Tage harrte die junge Frau in der Ukraine aus, während ihre Heimatstadt Mykolajiw von brutalen Luftangriffen und Versorgungsknappheit erschüttert wurde. In eigenen Worten schildert sie hier, was sie erlebt hat und hofft, gehört zu werden.

Seit mehr als einem Monat herrscht in der Ukraine Krieg. Zwei Flugstunden entfernt – in Berlin – hat die 21-jährige Ann Sidorenko mit ihrer Mutter einen sicheren Unterschlupf gefunden. Wie sie die ersten Tage des Krieges erlebt hat, wie nun ihr Leben als Geflüchtete aussieht und mit welchem Kampfgeist die Studentin in dieser Tragödie in die Zukunft blickt, hat sie t-online erzählt. Unsere Autorin hat die eindringlichen Worte aufgezeichnet.

"Seitdem ich in Deutschland bin, fühlen sich die Morgen und Abende für mich gleich an. Auf einmal ist alles sehr eintönig geworden. Ich kann nicht mehr studieren und arbeiten, stattdessen sehe ich mir dauernd die Nachrichten an. Ich telefoniere mehrmals am Tag mit meiner Großmutter, die zurückbleiben wollte. Und natürlich warte ich ständig auf SMS von meinem Freund Sergei.

Es ist unmöglich, aufzuwachen ohne darüber nachdenken, was im letzten Monat geschehen ist. Alles begann am 24. Februar 2022. Ich wachte vom Geräusch von Flugzeugen auf, die über mein Haus flogen. Im Halbschlaf dachte ich zuerst, dass es normale Passagierflugzeuge vom Flughafen wären. Doch schon bald konnte ich nicht mehr einschlafen, so laut war es. Ich griff nach meinem Handy und sah viele Nachrichten von Freunden, alle eine Version der Info: 'Kyiv bombed'.

Bomben auf Ukraine: "Auf einmal gab es keinen Alltag mehr"

In diesem Moment riss es mir den Boden unter den Füßen weg. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich war schrecklich verwirrt. Es muss ein Wochentag gewesen sein, denn ich erinnere mich daran, wie meine Mutter Hanna sich für die Arbeit fertig machte. Ich war es, die sie darüber informierte, dass die Ukraine gerade bombardiert wird. Genau wie ich hat sie nicht sofort verstanden, was los war.

Zuerst waren wir davon überzeugt, dass sich das Ganze höchstens noch ein paar Tage hinziehen würde und dann wäre alles wieder normal. Wir beschlossen, Lebensmittel für ein oder zwei Wochen zu kaufen, da die Versorgung mit dem Nötigsten auf unbestimmte Zeit unterbrochen werden könnte. Doch schon am zweiten Tag begannen Luftangriffe auf Mykolajiw, unsere Stadt.

Ich habe gelernt, dass man in der Not schnell herausfindet, welche Informationen man braucht: Es gab keinen Luftschutzbunker in der Nähe unseres Hauses, und der nächste Keller, den man als Unterschlupf nutzen konnte, lag 500 Meter von unserem Haus entfernt. Meine Mutter und ich rannten dorthin. Auf einmal gab es keinen Alltag mehr.

"Panzer der gegnerischen Armee machen mich wütend"

Früher hatte ich wenig Interesse an Nachrichten und Politik, aber jetzt sind Nachrichtenkanäle die Hauptinformationen, die ich sehe und lese. Nach der zweiten Verhandlungsrunde wurde uns klar, dass Russland nicht die Absicht hatte, den Krieg zu beenden. In meiner Region gingen die Kämpfe weiter und weiter, die Stadt selbst wurde ständig beschossen, dann begannen sie auch zu bombardieren. Aber ich glaube daran, dass die Verteidiger von Mykolajiw den Feind nicht in unsere Stadt lassen.

Es macht mich wütend zu sehen, wie die Panzer der gegnerischen Armee über die Straßen rollen, auf denen wir vor ein paar Wochen noch unseren normalen Leben nachgingen. Vor dem Krieg hätte ich den Vormittag und den Mittag in der Universität verbracht. Ich studierte in Kiew an einer Wirtschaftsuniversität. Von den vier Semestern habe ich nur eines an der Universität verbracht, den Rest der Zeit verbrachten wir in Corona-Quarantäne.

Hier in Deutschland verbringe ich die Tage eher damit, mehrere Stunden in der Schlange diverser Ämter auf Stempel oder Informationen zu warten. Doch auch wenn wir uns jetzt um den Aufenthalt hier kümmern müssen, planen wir fest damit, in die Ukraine zurückzukehren.

Geflüchtete in Berlin: "Ich bin Deutschland dankbar"

Berlin gefällt mir trotzdem ganz gut, auch weil meine Mutter und ich sehr viel Glück mit der Wohnung hatten. Noch in der Ukraine habe ich angefangen zu recherchieren, wie ich meine Mutter aus der Kriegssituation befreien könnte. Auf der Website von host4you fand ich die Anzeige von Samuel und seine Frau Debora, die gerade in der Schweiz wohnen: Sie schrieben, dass sie uns vorübergehend eine Wohnung in Berlin-Friedenau zur Verfügung stellen könnten. Die beiden sind wunderbare Menschen, die uns bei der Ankunft einen Brief hinterlassen haben. Darin stand, wo man hier man am besten einkaufen kann oder welche Bäckerei leckere Brötchen backt.

Ich bin Deutschland dankbar, dass es der Ukraine hilft. Ich wünsche euch Deutschen, dass sich jeder von euch daran erfreuen kann, dass ihr in einem Land lebt, in dem es keinen Krieg gibt. Ich bin froh, dass eure Kinder den Krieg nicht gesehen haben. Es schmerzt mich, die Nachrichten zu sehen – fast zweihundert Kinder sind bereits ermordet worden. Ich bin froh, dass ihr nicht wisst, wie es ist, in einem Keller zu schlafen. Ich bin froh, dass ihr nicht wisst, wie es ist, eine Sirene zu hören und in den Keller zu rennen, um dort zu sitzen und zu beten.

Es tut mir weh, zu erkennen, dass mein Land zerstört ist. Das Leben eines jeden Ukrainers hat sich für immer verändert. Aber das Leben geht weiter. Bevor ich in Deutschland ankam, habe ich jeden Tag geweint. Ich hatte Angst, dass ich oder meine Lieben jeden Moment sterben könnten. Ich hatte Angst, dass ich meinen Freund nie wiedersehen würde. Ich hatte Angst, dass ich meine Freundinnen und Kommilitonen nie wiedersehen würde.

Ich habe immer noch Angst, aber in Deutschland bin ich etwas ruhiger geworden. Aber das Grauen ist nicht ganz verschwunden. Ich warte einfach und glaube daran, dass der Krieg schnell enden wird. Ich glaube an einen Sieg der Ukraine, an Wolodymyr Selenskyj und an Vitali Kim, den Gouverneur des Gebiets von Mykolajiw.

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"Die Nacht, in der wir die Ukraine hinter uns ließen"

Ich schreibe diese Zeilen in Berlin-Friedenau und erinnere mich an die Zeit vor dem Krieg. Zu meinen Hobbys gehörte die Perlenstickerei. Abends ging ich oft zum Sport. Nun schaue ich mir im Internet Deutschkurse an und denke daran, wie mein Leben war, und was mir genommen wurde. Ich erinnere mich daran, wie ich im Alter von elf Jahren mein erstes Geld mit dem Verkauf von Souvenirs verdiente. An die Karaoke-Abende mit Freundinnen in Kiew. Kurz schweifen meine Gedanken zu der kleinen Zuckersammlung, die ich in Mykolajiw zurückgelassen habe: Ich trank gerne Kaffee in verschiedenen Cafés und nahm als Andenken eine Tüte Zucker mit dem Logo des Ladens mit.

Bis vor Kurzem wollten meine Mutter und ich nicht weg. Doch am 15. März um 8 Uhr flog ein Flugzeug über unser Haus und ein paar Sekunden später hörte ich eine starke Explosion. Das Flugzeug flog so tief, dass die Sirene nicht funktionierte. Sie schlägt nur Alarm, wenn die Raketen in einer bestimmten Höhe fliegen. In diesem Moment wurde mir klar, dass wir jederzeit bombardiert werden könnten, ohne die Zeit zu haben, schnell aus dem Haus zu fliehen.

In dieser Nacht ließen wir die Grenzen der Ukraine hinter uns. Und damit auch meinen Vater, der getrennt von meiner Mutter lebt. Meine 75-jährige Großmutter, die ihre Heimat nicht verlassen will. Meinen Freund Sergej, der mich am Telefon immer zum Lachen bringt und sich nicht erlaubt, vor mir Angst oder Verunsicherung zu zeigen. Und meine Freundinnen und Kumpels. Die Hälfte von ihnen ist in der Ukraine, zum Glück leben alle noch. Die andere Hälfte ist über ganz Europa verteilt, in Polen oder Italien.

Ich bin die einzige hier in Berlin. Jeden Tag, den dieser Krieg andauert, entfernen wir uns weiter voneinander. Deshalb spreche ich mit Journalisten: Um zu erklären, wie sich mein Leben verändert hat, und wie sich meine Generation fühlt. Ich hoffe, wir werden gehört."

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Ann Sidorenko
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