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Aktivistin flieht von Belarus nach Berlin: "Lehrer hielten mich für pervers"


Queerer Aktivismus
Von Belarus über Kiew nach Berlin: "Lehrer hielten mich für pervers"

InterviewVon Katharina Weiß

Aktualisiert am 17.04.2022Lesedauer: 9 Min.
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Die Aktivistin Gleb Kovalski schaut in die Kamera: "Eine erzwungene Flucht bedeutet Zerstörung, Schmerz und Angst", erklärt sie im t-online-Interview.Vergrößern des Bildes
Die Aktivistin Gleb Kovalski: "Eine erzwungene Flucht bedeutet Zerstörung, Schmerz und Angst", erklärt sie im t-online-Interview. (Quelle: Frederike van der Stræten/leer)

Vom KGB verfolgt, dann vom Krieg vertrieben: Im Interview mit t-online berichtet die queere, belarussische Künstlerin Gleb Kovalski von der Unterdrückung in ihrer Heimat – und beschreibt die Unwirklichkeit des Berliner Exils.

Nach ihrem Coming-out drohten Mitschüler Gleb Kovalski jeden Tag Prügel an – weil sie in ihrer Heimatstadt Vitebsk im Norden von Belarus nicht heteronormativ leben und lieben wollte. Lehrer und Erwachsene sahen weg. Aus dem bedrohten Kind wurde eine kämpferische Aktivistin und Künstlerin, die Untergrundpartys für die gefährdete LGBTQIA*-Jugend organisierte.

Doch der fragile Fortschritt wurde von der Wiederwahl des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko im Jahr 2020 zerstört: Die anschließenden Massenproteste gegen die Schweinwahl des Diktators endeten blutig, seitdem versucht das Regime, seinen Machtanspruch noch gnadenloser durchzusetzen.

Auch Kovalski wurde von den Einschüchterungen des belarussischen Geheimdienstes KGB ins politische Exil vertrieben. Ein Jahr lang lebte die 27-Jährige in Kiew, bis sie der Krieg erneut zur Flucht zwang.

Sie trifft t-online in der Berliner Margarete, einem Café im Gebäude des Dokumentationszentrums für Flucht, Vertreibung und Versöhnung am Anhalter Bahnhof. Im Interview erzählt Kovalski, wie man sich nach Jahren der Unterdrückung in einer der queer-freundlichsten Städte der Welt zurechtfindet – und warum ihre Mutter vor Kurzem 15 Tage lang im belarussischen Gefängnis saß.

t-online: Wie ist die aktuelle Lage der queeren Community in Belarus?

Gleb Kovalski: Nach den Protesten im Jahr 2020 hat die Regierung alle Nichtregierungsorganisationen zerstört – einschließlich LGBTQ-Initiativen und unabhängige Medien, die LGBTQ-Themen angesprochen haben. Die Atmosphäre in den belarussischen Publikationen sowie in Kultur- und Bildungsbereichen ist um Dutzende Jahre zurückgeworfen worden. Ich fürchte sehr um die Sicherheit von queeren Menschen in Belarus.

Geht auch von der Polizei eine Gefahr aus?

Ja. Es kommt vor, dass Polizisten homosexuelle Männer, die an den Protesten gegen Lukaschenko teilgenommen haben, öffentlich outen und brandmarken. Das geschieht, indem sie Videos verbreiten, die die unter Druck aufgenommene "Sühne" der Männer zeigt – also Clips, in denen die Männer dazu gezwungen wurden, ihre Teilnahme an den Protesten und ihre Homosexualität in die Kamera zu gestehen.

Wie war Ihr eigenes Coming-out?

Es lenkte eine enorme Aufmerksamkeit auf mich. Nicht nur an der Schule, sondern in der ganzen Stadt. Es hielt zudem andere schwule oder bisexuelle Männer davon ab, sich mit mir in Verbindung zu setzen – weil alle Angst hatten, dann auch geoutet zu werden. Ich habe großen Stress mit meinen Klassenkameraden und Lehrern erlebt. Nach der Schule gab es Massen von Teenagern, die mich verprügeln wollten, und die Schulleitung schaffte es kaum, diesen Konflikt zu lösen.

Was hat die Schulleitung stattdessen getan?

Sie beschuldigten mich, selbst Schuld an der Aggression dieser Typen zu sein. Weil ich sie provoziert hätte, indem ich offen mit meiner sexuellen Orientierung umgehe. Und natürlich hielten sie diese Orientierung auch für falsch und pervers. Eine Abart, die es nicht würdig ist, öffentlich besprochen zu werden.

Was hat die Schüler und Lehrer so aufgeregt?

Ich trug Elemente "weiblicher" Kleidung. Dieser Fakt erscheint im Kontext der aktuellen globalen Ereignisse vielleicht nicht so wesentlich – in Belarus im Jahr 2008 war das jedoch ziemlich riskant. Durch die Verletzung der "traditionellen" Geschlechterordnung habe ich generell Stereotype hinterfragt.

Ich wollte, dass sich die Leute fragen: Was ist, wenn ich nicht das tue, was ich tun soll? Würde die Welt zusammenbrechen? Wie wir jetzt sehen können, bricht die Welt leider immer noch wegen Menschen mit unbegrenzter Macht zusammen – nicht wegen Queers.

Wie haben Sie schließlich Freunde in diesem unterdrückerischen System gefunden?

Was ich gerade beschrieben habe, waren die dunkelsten Tage meines Heranwachsens, aber gleichzeitig auch die besten. Ich war berüchtigt. Und in gewisser Weise hat das anderen Menschen geholfen, von meiner Existenz zu erfahren: Menschen, die mich genauso sehr brauchten wie ich sie. Deshalb hatte ich schließlich das Glück, von den aufgeschlossensten, verrücktesten und aufrichtigsten Freunden umgeben zu sein.

Erinnern Sie sich an schöne Momente Ihrer Jugendzeit?

Meine Freunde und ich gingen auf verschiedene Schulen, aber nach dem Unterricht trafen wir uns in Parks oder in der Wohnung von jemandem, dessen Eltern nicht zu Hause waren. Wir betranken uns mit Gin Tonic und gingen zu Konzerten von Emo-Bands. Wir fälschten Dokumente, um auf Nachtpartys zu kommen, verliebten uns und stritten leidenschaftlich. Wir stemmten uns zusammen gegen eine konventionelle Welt voller Unterdrückung und Ungerechtigkeit.

Das klingt ein wenig nostalgisch.

Im Belarus meiner Jugend lief man Gefahr, auf der Straße verprügelt zu werden, weil man zu enge Jeans oder die "falsche" Haarlänge trug. Aber wenn man mit seinen wahren Seelenverwandten Wodka am Ufer der Dwina trinkt und wahnsinnig kitschige Katya-Sambuca-Lieder mitsingt – vereint von der Euphorie, trotz aller Verfolgung zu existieren –, dann wird das Grauen für kurze Momente irrelevant.

Wie entwickelt sich Liebe unter diesen Umständen?

Ich finde es ziemlich cool, mit der Person, die man liebt, an einem öffentlichen Ort Händchen halten zu können oder einfach einen schnellen, aber intensiven One-Night-Stand zu haben. So wie es in Berlin möglich ist.

Aber das ist nicht mit dem Gefühl zu vergleichen, wenn man seinen Liebsten spät in der Nacht in einem verlassenen, feuchten Gebäude am Stadtrand küsst. Endlich kann man den Blicken der anderen entgehen und sich nah sein, ohne die Gefühle verstecken zu müssen. Man fühlt einfach, dass man nicht glücklicher sein könnte als in diesem Moment.

Erinnern Sie sich an Ihren Einstieg in den Aktivismus?

In Vitebsk war ich drei Jahre mit einem Mann zusammen. Wir haben die Fotos unserer Liebesgeschichte im Internet gepostet und unsere Beziehung nicht versteckt. Ich denke, diese Beziehung kann als Beginn meines Aktivismus angesehen werden. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand in unserer Region das gleiche getan hat. Es war mir wichtig zu zeigen, dass es Beziehungen wie unsere gibt.

Nach dem Studium arbeiteten Sie für das belarussische Staatsfernsehen, welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

Ich kann nicht sagen, dass alles großartig war – aber es war nicht so schrecklich, wie es heute ist.

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Wie ging Ihr Arbeitsverhältnis zu Ende?

Ich wurde entlassen, weil ich den nationalen Streik nach den Wahlen 2020 unterstützt hatte. Danach habe ich mich auf die queeren Technopartys konzentriert, die ich zusammen mit dem queeren Aktivisten Andrei Zavalei in Minsk veranstaltet habe. Wir haben versucht, Räume für diejenigen Identitäten zu schaffen, die nicht nur von der heterosexistischen Welt, sondern auch von der manchmal sehr homonormativen LGBTQIA*-Community ausgeschlossen sind.

Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Kollegen aus der Partyszene?

Leider sind inzwischen fast alle von ihnen über die ganze Welt verstreut, einige sitzen im Gefängnis. Nur ein sehr kleiner Teil unserer Gemeinschaft ist in Belarus geblieben.

Wie haben Sie Ihre letzten Monate in Belarus erlebt?

Das letzte Jahr dort war für mich als DJ sehr bedeutsam. Während sich die ganze Welt im Lockdown befand, geschahen in Belarus schreckliche Dinge. Je schlimmer die politische Situation wurde, desto mehr Menschen wollten in die alternative, nächtliche Welt fliehen. Wo es keine Gewalt, keinen Missbrauch, keine Ungerechtigkeit gab, wo sie wieder Lust und Einheit mit anderen empfinden konnten. Ohne Gefahr zu laufen, inhaftiert oder getötet zu werden, wie es tagsüber während der Proteste auf den Straßen geschah. Partys wurden unser Werkzeug des Widerstands.

Woher nahmen Sie den Mut, sich in so einer gefährlichen Situation zu engagieren?

Ich toleriere keine Normativität, weil Normen immer ein Instrument der Diskriminierung und Unterdrückung sind. Zudem bin ein sehr freiheitsliebender Mensch. Und es ist sehr schwierig – wenn auch ziemlich aufregend –, in einer unfreien Gesellschaft eine Sehnsucht nach Freiheit zu verspüren. Es war also schon immer mein Interesse, Schritte zu unternehmen, um die Menschen um mich herum in gewisser Weise freier zu machen.

Haben Sie schon konkrete Pläne, wie Sie Ihren Aktivismus in Berlin fortführen können?

Ich bin Teil des im Berliner Exil lebenden Kollektivs HUNCHTheatre. Am 21. April wird unser neues Stück im HAU Berlin uraufgeführt. Unsere Community hat eine Kampagne zum Gedenken an Michail Pischevsky gestartet. Er war nach einer Schwulenparty im Jahr 2014 bei einem homophoben Angriff getötet worden. Dieser Fall hat gezeigt, wie gleichgültig die Gesellschaft gegenüber queeren Menschen ist und dass in Belarus weder das Gesetz noch die Justiz funktionieren.

Was geschah vor Ihrer Ausreise ins Exil?

Ich hätte nie gedacht, dass ich Belarus für lange Zeit verlassen würde, weil ich mich dort immer gebraucht gefühlt habe und viele Dinge verändern wollte. Ab August 2020 lebte ich, wie viele Menschen, in ständiger Anspannung und Angst.

Ich bin oft panisch durch Geräusche im Treppenhaus aufgewacht, habe nie die Gegensprechanlage abgenommen und oft aus dem Fenster geschaut, um sicherzugehen, dass niemand wartete, bevor ich das Haus verließ. Gleichzeitig hatte ich keine Ahnung, dass dies ein Grund für meine Flucht sein könnte. Ich empfand es als vorübergehende Vorsichtsmaßnahmen, während sich das politische Regime änderte.

Doch dann spitzte sich die Lage zu.

Eine Teamkollegin wurde von KGB-Beamten in ihrer Wohnung in Minsk besucht. Sie brachten eine riesige Mappe mit persönlichen Informationen und Daten über unsere Aktivitäten mit. Das KBG fragte nach unseren politischen Ansichten und der möglichen Teilnahme an Protesten. Am Ende dieser Vernehmung "warnten" sie die Kollegin stellvertretend für uns alle vor den Folgen jeder weiteren Aktivität unseres Teams. Nach diesem Tag haben wir uns nie mehr alle zusammen in Belarus getroffen.

Warum mussten Sie Ihre Heimat dann letztendlich verlassen?

Die Gesamtsituation im Land verschlechterte sich weiter. Die Wohnungen meiner engsten Freunde wurden durchsucht. Dann wurde mir klar, dass die dunkelsten Zeiten gekommen waren, und ich stimmte einem Angebot von Freunden aus der Ukraine zu, ein oder zwei Monate in Kiew zu bleiben. Ich nahm ein paar Pullover und Unterhosen mit, mit der vermeintlichen Gewissheit, dass dies nur eine vorübergehende Maßnahme sei. Aber ich konnte nie wieder nach Belarus zurückkehren.

Wie haben Sie den Ausbruch des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine erlebt?

In den letzten Monaten in Kiew durchlief ich eine schwere depressive Episode. Schuld war der Verlust meiner Heimat, das Gefühl der Vertreibung und der Mangel an engen Freunden. Am 23. Februar sprachen alle Menschen in der Ukraine über die potenzielle Bedrohung durch eine groß angelegte russische Militärinvasion und veröffentlichten Karten von Luftschutzbunkern. Doch ich fühlte mich emotional einfach nur leer und war nicht in der Lage, diesen Informationsfluss zu verarbeiten. Am nächsten Morgen begann ein ausgewachsener Krieg.

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Ihr bester Freund wohnt in Berlin. Sie sind kurz nach Kriegsausbruch Richtung Deutschland aufgebrochen. Wie haben Sie die Flucht erlebt?

Die Straße fackelte buchstäblich hinter mir ab. Wir passierten einige Städte, die ruhig und friedlich wirkten. Eine Stunde später lasen wir in den Nachrichten, dass dort eine Brücke gesprengt oder bombardiert worden war.

Ich hatte das Glück, in nur 28 Stunden von Kiew nach Warschau zu gelangen. Viele meiner Freunde verbrachten Tage an der Grenze und konnten trotzdem nicht in die EU einreisen. Von Polen aus bin ich direkt nach Berlin zu meinem besten Freund Jan gefahren, der hier mit seinem Ehemann zusammenlebt.

Kaum angekommen erreichten Sie beunruhigende Nachrichten aus der Heimat. Was war passiert?

Zum ersten Mal seit drei Tagen hatte ich richtig geschlafen und wollte am nächsten Morgen meine Mutter anrufen. Mama antwortete aber nicht. Ein paar Minuten später schrieb mir mein Cousin, dass sie von der Polizei auf der Straße festgenommen worden war.

Sie ist keine Bürgerrechtsaktivistin und hat nie an öffentlichen politischen Kundgebungen teilgenommen. An diesem Tag ging sie einfach mit einer Maske mit der Aufschrift "Stop War" auf die Straße. Vielleicht weil sie etwas tun wollte, um mit ihrem eigenen Schmerz und ihrer Hilflosigkeit fertig zu werden. Sie wurde zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt. Das ist alles, was man über das Ausmaß der Repression in Belarus wissen muss.

Hat das Leben in Berlin Ihre Perspektive auf die Welt verändert?

Ich kann nicht sagen, dass ich in Berlin lebe. Ich meine, ein echtes "Leben" führe. Im Moment ist alles ziemlich surreal und ich fühle mich nirgendwo angekommen.

Ich war vor sechs Jahren zum ersten Mal in Berlin und kam immer wieder zu verschiedenen Anlässen hierher. Aber nach Berlin zu kommen, um mit Freunden in einem Club abzuhängen, ist nicht dasselbe, wie vor einem Krieg wegzulaufen und mich in die völlige Unbekanntheit und Ungewissheit meiner Zukunft zu begeben.

Wie gehen Sie damit um?

Ich zwinge mich, die schönen Menschen um mich herum wahrzunehmen, und die wunderbaren Parks sowie die angenehme, neue Nachbarschaft, in der ich wohne, zu genießen. Aber ich fühle fast nichts. Ich bin körperlich hier, aber ich lebe in meinem Trauma. Meine Seele pendelt endlos zwischen Vitebsk, Minsk, Kiew und Berlin. Sie bleibt manchmal mehrere Tage in Butscha stecken, in einem Luftschutzbunker in Charkiw oder im kaputten Mariupol.

Was können Sie privilegierteren Menschen, die nicht vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen, über die Emotionen des Exils sagen?

Eine erzwungene Flucht ist keine geplante Auswanderung. Man zieht nicht in eine helle, saubere Wohnung, in die man seine Lieblingssachen in angenehmer Vorfreude auf ein neues Leben einräumt. Eine erzwungene Flucht, egal aus welchem Land, bedeutet Zerstörung, Schmerz und Angst.

Vielen Dank für das Gespräch!

Disclaimer: Gleb Kovalski ist nicht-binär, möchte sich also nicht in das herkömmliche Geschlechtersystem, das streng zwischen Mann und Frau unterscheidet, einordnen. In Rücksprache mit Kovalski verwendet t-online in diesem Text die Pronomen sie/ihr.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gleb Kovalski
  • Eigene Recherche
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