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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Prozessauftakt in Düsseldorf Attentäter von Solingen: "Habe Unschuldige getötet, keine Ungläubigen"

Der Prozessauftakt gegen den mutmaßlichen Attentäter von Solingen beginnt mit einem Geständnis. Issa al H. gesteht seine Schuld ein, doch Fragen bleiben offen.
Als die Justizbeamten den Angeklagten im blauen T-Shirt in den Düsseldorfer Gerichtssaal führen, hält er den Kopf gesenkt. Der mutmaßliche Terrorist Issa al H. macht keine Bemühungen, sein Gesicht zu verbergen. Auf der Anklagebank schüttelt er wiederholt den Kopf und schlägt damit immer wieder leicht auf den Tisch vor ihm. Während die Anklage ab 11.12 Uhr verlesen wird, rührt er sich kaum. Er sieht müde und ausgemergelt aus. Später lässt er einen Verteidiger vortragen, was er zu sagen hat: das Geständnis seiner schrecklichen Tat. "Ich habe Unschuldige getötet, keine Ungläubigen", heißt es in der Erklärung. Nach neun Monaten in Untersuchungshaft im Hochsicherheitstrakt des Oberlandesgerichts in Düsseldorf sitzt Issa al H. seit Dienstag auf der Anklagebank.
Im August des vergangenen Jahres wollte Solingen sein 650-jähriges Bestehen mit einem bunten Stadtfest feiern. Drei Bühnen wurden in der City aufgebaut, rund 75.000 Menschen wurden für das Jubiläumswochenende erwartet. Doch das "Festival der Vielfalt" endete tragisch, noch bevor es so richtig begonnen hatte: Am Abend des 23. August 2024 tötete ein Mann mit einem Messer in der Menschenmenge drei Personen, viele weitere wurden verletzt.
Zwei Männer und eine Frau sterben bei Anschlag in Solingen
Bei den Todesopfern handelte es sich um zwei Männer (56 und 67 Jahre alt) und eine Frau (56). Acht weitere Menschen wurden verletzt, zwei Festivalbesucher verfehlte der Angreifer nur knapp, zerfetzte ihre Kleidung. Auch diese Attacken wertet die Bundesanwaltschaft als Mordversuche.
Um möglichst viele Menschen in kurzer Zeit zu töten, habe al H. gezielt und zügig in die Halsregionen der Opfer gestochen. Rund eine Minute lang stach der Beschuldigte laut Anklage wahllos auf feiernde Menschen ein. Für alle kam die Attacke vollkommen unerwartet. Erst die 13. Person, auf die der Attentäter mit erhobenem Messer zuging, war verteidigungsbereit, konnte den Angriff teilweise abwehren. Schwere Schnitt- und Stichwunden erlitt das letzte Opfer dennoch.
Syrer erwartet selbst eine lebenslange Freiheitsstrafe
Die Verteidigung des Angeklagten teilte zu Prozessbeginn mit, dass Issa al H. gestehen wird, Menschen getötet und verletzt zu haben. "Ich habe schwere Schuld auf mich geladen", las der Verteidiger für seinen Mandanten vor. Dieser erwarte eine lebenslange Freiheitsstrafe. Zur Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung werde sein Mandant allerdings schweigen. Für den Richter war das nur ein "grobes Geständnis", sagte er und schaute in Richtung Anklagebank, wo der Beschuldigte durchgehend den Blick unverändert nach unten richtete. Das Warum der Tat sei mit dem kurzen Geständnis nicht geklärt worden, so der Richter.
In der Anklageschrift heißt es unter anderem: Issa al H. lehne die Werte der westlichen Welt ab. Die Attacke sei auch eine Art Vergeltung für den Gegenschlag Israels auf Gaza – für das "jüdische Massaker", wird der Angeklagte vom Bundesanwalt zitiert. Ein Psychiater berichtet später von den Gesprächen mit dem 27-Jährigen. In denen habe er gesagt, dass es traurig sei, dass seinetwegen Menschen gestorben sind. Aber wegen der getöteten Kinder im Gazastreifen sei niemand hier traurig.
Anschlag in Solingen: IS bekennt sich zur Tat
Die Anklageschrift umfasst 95 Seiten. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Syrer die Mitgliedschaft in der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) vor. In der Anklage beschreibt die Staatsanwaltschaft, dass al H. dem IS einen Tag vor dem Anschlag die Treue geschworen hat. Einen Tag nach der Tat bekennt sich der IS zu der Attacke – das erste Bekenntnis dieser Art seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016.
Bundesanwalt Jochen Weingarten fand vor der Verlesung der Anklageschrift am Dienstag klare Worte: "Der Angeklagte wollte die Tat für den IS begehen." Er habe in islamistisch-dschihadistischen Foren gezielt Kontakt zum IS gesucht und ideologische Operateure des IS hätten ihn dann auch bei der Auswahl der Tatwaffe angeleitet.
Schlepper brachten den Angeklagten für 6.800 Dollar nach Deutschland
In den Unterhaltungen mit dem Psychiater soll der Angeklagte gesagt haben, dass ein unbekannter Telegram-Chatpartner ihn zu der Tat aufgefordert habe, nachdem er ein Video mit getöteten Kindern im Gazastreifen geteilt hatte. Deutschland sei mitverantwortlich für den Krieg in Gaza und daher solle er Deutsche töten – mit einem Messer oder einer Pistole, das sei egal. Der Unbekannte habe sein Gehirn gewaschen und ihn hereingelegt. Dass er mit dem IS in Kontakt stand, habe er nicht gewusst. Der Angeklagte sieht sich hier selbst als Opfer.
Der Psychiater betonte im Gegensatz zur Anklage weiter, dass al H. sich selbst nicht als streng religiös oder salafistisch bezeichne. Er rauche und ziehe Actionfilme der Koranlektüre vor, Freitagsgebete habe er verschlafen. Deutschland empfinde er als ein schönes Land, in dem man frei leben könne: "Deutschland ist das beste Land", habe al H. gesagt. Er wäre nicht nach Deutschland geflüchtet, wenn er die Menschen für Ungläubige hielte. Über die Türkei und Bulgarien sei er für 6.800 Dollar mithilfe von Schleppern nach Deutschland gelangt.
Wahrnehmungsstörung während der Bluttat?
Bei seiner Tat habe al H. laut Gutachter unter einer Wahrnehmungsstörung gelitten und auf der Bühne des Stadtfestes Leichen palästinensischer Kinder gesehen. In seiner Vorstellung habe ein israelischer Polizist darüber gelacht – diesen habe er angegriffen und dann sei er anschließend in einen Wald geflüchtet. Am nächsten Tag stellte er sich der Polizei.
Wenn es die toten Kinder in Gaza nicht gegeben hätte und die religiöse Indoktrinierung des unbekannten Chatpartners, hätte er es nicht getan, habe der Angeklagte dem Psychiater gesagt. An weitere Tote und Verletzte könne er sich nicht erinnern. Der Angeklagte habe die Tat ihm gegenüber als Dummheit bagatellisiert. Seine Videos, die im Prozess vorgeführt wurden, sprechen eine andere Sprache: "Ich werde Euch in Stücke reißen", sagt er dort. Er werde "Rache nehmen für unsere Familien in Palästina. (...) Deswegen werde ich sie zerstückeln – aus Rache für ihre Massaker (...)". In einem Chat äußerte er sich stark abfällig über Deutschland und Homosexuelle.
"Tat an Sinnlosigkeit nicht zu überbieten"
Acht Nebenkläger werden in dem Prozess von Simon Rampp vertreten – darunter damals Verletzte und Angehörige der Opfer. Der Anwalt sprach am Dienstag von einer sehr überzeugenden Beweislage: "Die Bundesanwaltschaft hat die Tat aus unserer Sicht vollumfänglich aufgeklärt", sagte Rampp vor Verlesung der Anklageschrift. Als Nebenklagevertreter werde man sich für die Höchststrafe einsetzen. Die Beweislage sei aus seiner Sicht "erdrückend". Die Tat sei bis heute unbegreiflich und "an Sinnlosigkeit nicht zu überbieten".
Philipp Müller, er war Mitorganisator des "Festivals der Vielfalt" und brach das Fest kurz nach dem Anschlag ab, gehörte beim Prozessauftakt zu den Zuhörern im Gerichtsgebäude. Er sagte in einer Verhandlungspause: "Für mich war es wichtig, hierherzukommen, damit ich jetzt ein Gesicht zur Tat habe." Dass der Angeklagte seinen "Blutrausch" wegen einer Wahrnehmungsstörung nicht mitbekam, das nimmt ihm Müller nicht ab. Trotzdem sitze auf der Anklagebank "ein Mensch und kein Monster" – was gleichzeitig erschreckend sei.
Das Düsseldorfer Oberlandesgericht hat bis zum 24. September 22 Verhandlungstage angesetzt.
- Reporter vor Ort
- Mit Material der Deutschen Nachrichten-Agentur