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Sexismus: Mit diesen Methoden redet Twitter Christian Lindners Entgleisung klein


Nach sexistischer Äußerung
Wie Twitter-Nutzer Lindners Entgleisung verharmlosen

  • Nicole Diekmann
MeinungVon Nicole Diekmann

Aktualisiert am 23.09.2020Lesedauer: 4 Min.
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Christian Lindner vor Tweets: Nach seinem sexistischen Witz springt ihm Twitter mit typischen Mustern bei – eine AuswahlVergrößern des Bildes
Christian Lindner vor Tweets: Nach seinem sexistischen Witz springt ihm Twitter mit typischen Mustern bei – eine Auswahl (Quelle: Bernd von Jutrczenka / Privat/dpa-bilder)

Der FDP-Chef Christian Lindner reißt einen lahmen Witz. Man könnte ihn unter den Tisch fallen lassen – wäre er nicht so sexistisch. Daraufhin fährt Social Media alles auf, was es zu bieten hat.

Am Samstag verabschiedete der FDP-Chef Linda Teuteberg beim Parteitag als Generalsekretärin. Mit der angeblich verunglückten (interessanterweise aber vom gewieften Rhetoriker Lindner mit für Lacher eingebauter Kunstpause versehenen) Aussage, er hätte über den Daumen gepeilt 300 Tage mit Linda Teuteberg begonnen. Hö hö, witzig. Nee, eben nicht. Sondern sexistisch. Mitschnitte dieser Szene zeigen Teuteberg, die sichtlich mit sich kämpft – und der dann doch die Tränen kommen.

Sie sagt nichts, sie steht nicht demonstrativ auf, geht und entzieht sich so dieser Demütigung. Vielleicht kann sie nicht, weil sie überrollt ist oder sich nicht traut. Vielleicht will sie einfach nur, dass es schnell vorbei ist. Vielleicht will sie die Veranstaltung, in der es um viel Wichtigeres geht, nicht sprengen. Man weiß es nicht. Es ist auch völlig egal. Wem Teuteberg in diesem Moment nicht leidtut, der tut mir leid. Es ist wirklich schmerzhaft, das mit anzusehen.

Nein, Teutebergs Lage war nicht so schmerzhaft, wie etwa von einer Patrone aus einem Bolzenschussgerät getroffen zu werden. Und ja, während des FDP-Parteitags tobte anderswo Krieg. Was das mit Lindner, Teuteberg und der FDP zu tun hat? Erstmal nix. Aber die Relativierungsversuche auf den sozialen Plattformen klingen so, als gäbe es da irgendwie einen direkten Zusammenhang. Das gilt übrigens immer bei solchen Fällen. Auch diesmal. Die Beharrenden sind von Anlass zu Anlass variabel. Die Muster, mit denen sie ein Problem kleinzureden versuchen, aber stets dieselben. Eine Übersicht.

Strategie 1: Priorisieren

Es gibt weiß Gott größere Probleme als Sexismus. Und es gibt Gottseidank Leute, die nicht müde werden, das zu betonen. Denn es kann immer nur EIN Problem geben, mit dem wir uns befassen. Schließlich sind wir Menschen, keine Maschinen. So antwortet ein Twitter-User dem anderen: "Warum echauffieren Sie sich nicht über die >5Mio. Kids <10J, die jedes Jahr an Unterernährung sterben? Zu weit weg? Schon daran gewöhnt?"

Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie bereits Zehntausende Fans hat. In ihrer Kolumne auf t-online.de filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet.

(Nun, damit beschäftigt sich der Fragende in seinen Tweets auch selten. Aber gut, niemand ist perfekt. Wir sind Menschen, keine Maschinen.)

Strategie 2: Enttarnen

Es gibt kluge Leute, es gibt sehr kluge Leute – und es gibt die ganz Schlauen. Auf jeder Plattform. Die lassen sich nichts vormachen, die wissen alles. Zum Beispiel dies: Egal, was Erwachsene tun – im Grunde ist es lediglich die Fortsetzung von Schulhofstreitereien. So wie dieser Herr, der in die Debatte einwarf: "Es geht doch nicht um #Lindner. Es geht darum, ihn fertigzumachen, weil er für viele aus dem linken Lager ein rotes Tuch ist." Es geht also nicht um Teuteberg. War ja auch gar nicht so schlimm.

Strategie 3: Blind behaupten

Bleiben wir noch einen Moment bei diesem Nutzer. Seinen Tweet setzt er nämlich fort mit einem weiteren beliebten Kniff: dem Märchen vom faktischen Ende der Meinungsfreiheit. Dies tut er in einer impliziten Behauptung, garniert mit einer rhetorischen Frage: "Ja ich bin ein Mann, ja ich bin weiß, ja für meine Kinder bin ich auch alt. Aber hey, noch darf ich ja meine Meinung sagen, oder?" Darf er. Nie stand das zur Debatte. (Auch dies übrigens sehr beliebt: einen argumentativen Strohmann aufbauen. Eine Behauptung, die niemand aufgestellt hat, entkräften.)

Blöd für ihn nur, dass er dann Widerspruch ernten könnte. Dass "Meinungsfreiheit" nicht synonym ist mit "Stuss behaupten und alle nicken brav", hat sich leider noch nicht komplett herumgesprochen.

Strategie 4: Ich, ich, ich, ich, ich

Kürzlich frage ich bei Twitter, seit wann das Stehenbleiben an einer roten Ampel in Anwesenheit von Kindern aus der Mode gekommen sei. Eine rhetorische Frage. Wohl niemand ist in der Lage, zu sagen: "Wintersaison 2011/12. Die Leute hatten sich dran sattgesehen."

Geantwortet wurde trotzdem. Die hilfreichsten Reaktionen waren die, in denen Leute schrieben, SIE würden IMMER stehen bleiben. Ich gewann den Glauben an die Menschheit ein Stück weit zurück. Diejenigen, die sich als anständig zu erkennen gegeben hatten, wirkten: genau – anständig. Eine Win-win-Situation. In der Causa Lindner schrieben nun einige Männer eifrig, SIE teilten den Sexismusvorwurf. Worte der Solidarität mit Teuteberg fanden sie zwar nicht. Aber sie standen gut da.

Strategie 5: Täter-Opfer-Umkehr

"Männer benennen den Sexismus von Frauen einfach nicht ständig. Das ist der Unterschied." Ich denke, das lassen wir mal so stehen.

Strategie 6: Danebenbenehmen

Meine Lieblingsstrategie. Auf einen meiner Tweets zum Thema antwortete jemand: "Was ist das für ne Tussi?" Ob er damit Linda Teuteberg meinte oder mich, ist gleichgültig. Denn er tut allen in dieser Geschichte einen großen Gefallen: Er outet sich als Idiot. Das spart Zeit und Energie. Da muss man nicht lange über Definitionen wie "Sexismus" diskutieren, nach dem Kontext fragen, abwägen, zuhören, nachdenken, diskutieren. Manchmal sind die Dinge in den Sozialen Netzwerken tatsächlich so einfach, wie viele dort sie gern hätten.

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