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Windpocken: Ungeimpften Schülern drohen jetzt Zwangsferien


Betretungsverbot
Windpocken: Ungeimpften Schülern drohen jetzt Zwangsferien

Von Boris Kartheuser

Aktualisiert am 17.12.2019Lesedauer: 5 Min.
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Zwangsweise schulfrei: Bei einem Windpocken-Fall können Schüler ohne Impfschutz für 16 Tage ausgesperrt werden (Symbolfoto).Vergrößern des Bildes
Zwangsweise schulfrei: Bei einem Windpocken-Fall können Schüler ohne Impfschutz für 16 Tage ausgesperrt werden (Symbolfoto). (Quelle: imago-images-bilder)

Seit einigen Tagen häufen sich die Meldungen wieder: Windpocken-Erkrankungen! Eine Impfpflicht gibt es nicht, aber gedrängt fühlen sich viele Eltern dennoch: Schulen verhängen Betretungsverbote.

Die Aufregung war groß am Kölner Humboldt-Gymnasium mit seinen über 1.200 Schülern: Nach einem einzelnen Fall von Windpocken schickte die Schule Anfang des Jahres auf Anweisung der Bezirksregierung viele gesunde Schüler für 16 Tage nach Hause. Und zwar all jene, die keinen Impfschutz aufwiesen und auch sonst nicht durch eine bereits durchlebte Windpockenerkrankung immun waren. Damit versuchen Gesundheitsämter, die Verbreitung der Krankheit einzudämmen.

Nun steht mit dem Winter die Windpocken-Saison bevor. Damit droht in den kommenden Monaten vielen Schülern der Schulausschluss und Eltern das Dilemma, wie sie das dann organisieren. Auch in Hagen, in Berlin oder im Landkreis Augsburg gab es in diesem Jahr "Windpocken-frei" für Hunderte Schüler. Im Landkreis Potsdam-Mittelmark wurden zeitweise an drei Schulen und einer Tagesstätte Kinder vom Besuch der Einrichtungen ausgeschlossen. Grundlage für diese Ausschlüsse ist das Infektionsschutzgesetz.

Klage gegen Betretungsverbot scheiterte

Viele Eltern versuchen, sich gegen das Schulbetretungsverbot ihrer gesunden Kinder zu wehren. Doch die Bemühungen blieben bislang ohne Erfolg. In Weimar zog eine Mutter vor Gericht, um den Ausschluss ihrer Kinder zu verhindern. Das Verwaltungsgericht gab aber den Behörden Recht. Es sei nicht zu erkennen, "dass die mit dem Betretungsverbot verbundenen Beeinträchtigungen der Kinder einen unzumutbaren Belastungsgrad erreichen", so die Richter.

Soweit Unterrichtsstoff versäumt werde und nicht bereits während der Abwesenheitszeit zu Hause aufbereitet werden könne, "dürfte der Stoff regelmäßig ohne größere Schwierigkeiten nachholbar sein", hieß es vom Gericht. Manche Schüler und Eltern dürften geseufzt haben bei der Vorstellung, den Unterrichtsinhalt von 16 Tagen nachzuholen.

Wie viele Kinder in Köln vom Schulbetretungsverbot betroffen waren, bleibt unklar. Die Schulleitung des Humboldt-Gymnasiums teilt auf wiederholte Anfrage mit, "keine inhaltlichen Informationen zu Ihrer Anfrage" geben zu wollen.

Der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske sieht ein Schulbetretungsverbot mit gemischten Gefühlen. "Da keine Impfpflicht besteht, sind Ausschlüsse aus Kitas und Schulen kaum begründbar, weil eine derartige Infektion in den allermeisten Fällen harmlos verläuft", so der Experte, der viele Jahre an der Universität Bremen eine Professur für Arzneimittelversorgungsforschung innehatte.

Es gebe aber gesellschaftliche Aspekte, die eine solche Entscheidung vertretbar erscheinen ließen. Im Vordergrund stehe hierbei nicht der Individualschutz, sondern die sogenannte Herdenimmunität: "Es sollen also immungeschwächte Personen geschützt werden, die mit der Krankheit in Berührung kommen könnten. Menschen mit einem Krebsleiden beispielsweise", so der Pharmakologe. "Bei diesen Entscheidungen sollten den Erziehungsberechtigten aber verständliche und nachvollziehbare Informationen und Argumente an die Hand gegeben werden."

Und genau dies ist häufig nicht der Fall. Beim Fall am Kölner Humboldt-Gymnasium will die Schule bis heute nicht sagen, wie viele Schüler zu Hause bleiben mussten. Und Eltern seien wegen der schlechten Informationspolitik "richtig sauer" gewesen, berichtete Reinhold Goss von der Stadtschulpflegschaft dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Auf mehrere Anfragen von t-online.de möchten die Schulpflegschaft und die Stadtschulpflegschaft nicht antworten.

Bei Schuleintritt 80 Prozent geimpft

Städte wie Köln verzichten darauf, Gemeinschaftseinrichtungen umfassend und aktiv zu informieren. Dagegen schrieb beispielsweise die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz in Hamburg nach eigenen Angaben Anfang des Jahres alle Kitas an und wies sie explizit auf die Regelungen hin.

Um die Frage der Sinnhaftigkeit einer Impfung gegen Windpocken streiten nicht nur Experten. Die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut empfiehlt lediglich, dass Kinder und Jugendliche Schutzimpfungen gegen die krankheitsauslösenden Varizellen erhalten sollen. Das Varizella-Zoster-Virus kann Windpocken und Gürtelrose verursachen. Die Immunisierung erfolgt also freiwillig. An diese Empfehlung der STIKO halten sich auch viele Eltern. Etwa 80 Prozent der Kinder sind bei Schuleintritt gegen Windpocken geimpft.

Datenlage zu Rückgang trügerisch?

Vor Einführung der Impfempfehlung im Jahr 2004 gab es laut Robert Koch-Institut (RKI) durchschnittlich 750.000 Erkrankungen pro Jahr. In den zehn Jahren danach beobachtete das Institut nach eigenen Angaben einen Rückgang um 90 Prozent. "Die generelle Impfempfehlung hat nicht nur dazu beigetragen, die hohen Erkrankungszahlen an Varizellen in Deutschland zu reduzieren", so das Institut. Auch die Zahl der Komplikationen bei einer Infektion sei stark rückläufig. Es rät deshalb dringend zur Immunisierung.

Das Problem: Die vom RKI bis heute als Tatsache gemeldete Ausgangslage von jährlich 750.000 Erkrankungen beruht lediglich auf groben Schätzungen. Da es bis 2013 noch keine deutschlandweite Meldepflicht gab, fehlen zuverlässige Zahlen. Das macht es unmöglich, den tatsächlichen Erfolg der Maßnahme einzuschätzen.

Und auch die vom Robert Koch-Institut gemeldete stark rückläufige Zahl an Komplikationen scheint weniger eindeutig, als das Institut vermitteln möchte. Zwar hat sich die Zahl der Krankenhausaufenthalte wegen Windpocken von 2000 bis 2017 halbiert. Die Zahl der im Krankenhaus an Windpocken gestorbenen Menschen ist allerdings von vier auf zwölf gestiegen.

Wie das Paul-Ehrlich-Institut meldet, gab es zudem zwischen 2000 und 2019 20 Todesfälle als Nebenwirkung einer Impfung gegen Varizellen. Hinzu kommen 17 weitere Fälle mit bleibenden Schäden. Diese Komplikationen werfen Fragen auf.

Spätere Erkrankung fällt oft stärker aus

Stiftung Warentest hat sie einem Special zum Thema Impfen aufgegriffen. Die Zeitschrift hat in ein Expertenteam, bestehend aus Ärzten und Infektionsbiologen, um deren Einschätzung gebeten. Und die Fachleute hatten kritische Anmerkungen zur Impfung gegen Windpocken. "Problematisch" sei die generelle Impfung aller Kinder. "Sie bietet zwar einen wirksamen Schutz, der aber wohl nicht unbegrenzt anhält." Somit fördere die Impfung möglicherweise eine spätere Erkrankung, die dann in der Regel sehr viel schwerer verläuft. "Zudem könnte sich die Häufigkeit und Schwere von Gürtelrosen erhöhen, wenn Erwachsene aufgrund hoher Impfraten selten mit erkrankten Kindern in Kontakt kommen".

Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske war Teil des Teams, das die Beurteilung für Stiftung Warentest vorgenommen hat. Er weist darauf hin, dass bei der Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission 2004 auch Hinweise des Impfpräparatherstellers GlaxoSmithKline (GSK) berücksichtigt worden seien.

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Pharmahersteller lieferte Daten

„Eine deutsch-schweizerische Arbeitsgruppe will über eine Telefonumfrage bei 282 Arztpraxen in Erfahrung gebracht haben, dass es in knapp sechs Prozent der Windpockeninfektionen zu schwerwiegenden Komplikationen komme“, so der promovierte Pharmakologe. Die Zahl sei dann hochgerechnet und später vom Robert-Koch-Institut übernommen worden. „Dieser hohe Anteil widerspricht allerdings deutlich den Erfahrungen vor der Einführung der Impfempfehlung durch die STIKO, im Jahr 2004“, so Glaeske.

Diese Telefonumfrage war Teil einer von GlaxoSmithKline gesponserten Studie. Das Pharmaunternehmen bietet seit 2003 die Impfstoffe Varilrix sowie Priorix Tetra gegen Windpocken an. Wie viele Impfdosen GSK seitdem verkauft hat, möchte das Unternehmen auf Anfrage von t-online.de nicht mitteilen. Auch nicht, wie hoch der jährliche Umsatz mit den Produkten ist.


Bei vielen anderen Impfungen sieht Stiftung Warentest hingegen keine Probleme und stimmt mit den Empfehlungen des Robert Koch-Institut überein. Die generelle Sinnhaftigkeit von Immunisierungen wird also nicht infrage gestellt. Bei einigen Impfungen gibt es differenzierte Vorschläge.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
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