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Telefonseelsorge hilft bei Angst: "Wir werden es überstehen."


Sorgen wegen Coronavirus
Telefonseelsorge: Die Themen haben sich dramatisch verändert

  • Jennifer Buchholz
InterviewEin Interview von Jennifer Buchholz

Aktualisiert am 19.03.2020Lesedauer: 4 Min.
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Angst: Viele leiden vor allem unter der sozialen Isolation. (Symbolild)Vergrößern des Bildes
Angst: Viele leiden vor allem unter der sozialen Isolation. (Symbolild) (Quelle: MarinaZg/getty-images-bilder)

Angespannt, unsicher, machtlos: Wenn sich Menschen mit ihrer Lage überfordert fühlen, bietet die Telefonseelsorge Hilfe an. Angesichts des Coronavirus ist der Ansturm dort groß.

Covid-19 macht vielen Menschen Angst. Reden könnte helfen. Doch um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, sollen die sozialen Kontakte soweit wie möglich reduziert werden. So wenden sich viele mit ihren Sorgen an die Telefonseelsorge. Was die Anrufer am meisten belastet und wie die Telefonseelsorge versucht, möglichst vielen zu helfen, erklärt Uwe Müller, Leiter der Kirchlichen Telefonseelsorge in Berlin und Brandenburg, im Gespräch mit t-online.de.

t-online.de: Herr Müller, haben Sie gemerkt, dass sich das Verhalten der Anrufer geändert hat?

Uwe Müller: Es hat sich dramatisch verändert. Etwa 9 von 10 Anrufen beziehen sich auf das Thema Corona. Angefangen von diffusen Ängsten – beispielsweise die Angst, im Todesfall in der Wohnung nicht gefunden zu werden – bis hin zu ganz konkreten Sorgen, die die eigene Zukunft betreffen.

Also hat sich eher die Art der Gedanken geändert.

Die Corona-Krise lässt die Menschen mehr über ihre soziale Situation – insbesondere bei Einsamkeit – nachdenken. Sie realisieren, dass Kontakte wichtig sind und wie viele sie davon wirklich haben. Aber auch die wirtschaftliche Situation – wie ein nun drohender Arbeitsplatzverlust, eine mögliche Insolvenz – sind Themen, die die Anrufer zurzeit stark beschäftigen. Eltern machen sich indes Sorgen, dass ihre Kinder durch den fehlenden Unterricht nicht ausreichend auf Abschlussprüfungen vorbereitet sind.

Info
Die Telefonseelsorge erreichen Sie kostenlos, 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr unter den Nummern 0800 – 111 0 1111 und 0800 – 1111 0 2222.

Geht es bei den Sorgen also hauptsächlich um einen selbst und nicht um andere, beispielsweise die Befürchtung, jemanden anstecken zu können?

Doch, das ist auch ein Thema. Viele können sich nicht vorstellen, ihre sozialen Kontakte einzustellen. Das gilt nicht nur für den Sohn, der seiner pflegebedürftigen Mutter täglich Essen vorbei bringt, sondern auch für die Risikogruppe, die keinen Besuch mehr empfangen soll.

Werden Ihre Mitarbeiter für die aktuelle Lage speziell geschult?

Es gibt diverse Anlaufstellen, wie beispielsweise die Informationen des Robert Koch-Instituts, die den Ehrenamtlern dabei helfen, sich stets auf den neuesten Stand zu bringen. Diese nutzen sie intensiv.

Arbeitet die Telefonseelsorge aktuell auch mit anderen Stellen zusammen, um Anrufer zu unterstützen, die allein zuhause sitzen und niemanden haben, der ihnen hilft?

Die Telefonseelsorge ist mit vielen Sozialstationen, wie beispielsweise der Diakonie, über ein großes Netzwerk verbunden. Wenn ein akuter Hilfebedarf besteht und es nicht anders geht, vermitteln wir an entsprechende Stellen. Denn viele wissen nicht, dass sie sich auch außerhalb ihrer Sozialkontakte Unterstützung holen könnten.

Glauben Sie, dass die Zahl der Anrufer weiter zunehmen wird, beispielsweise wenn es eine Ausgangssperre gibt?

Definitiv. Darauf bereitet sich die Telefonseelsorge vor – beispielsweise, indem ehemalige Telefonseelsorger reaktiviert werden. Schließlich gibt es drei Leitungen, die entsprechend rund um die Uhr besetzt werden müssen. Zudem gibt es zusammen mit der Notfallseelsorge und der Krankenhausseelsorge eine Sonderleitung: die Coronaseelsorge. Sie ist für Menschen in Pflegeheimen und Krankenhäusern, die aktuell nicht von angestellten Seelsorgern vor Ort betreut werden dürfen. Zusätzlich unterstützen Seelsorger, die zur Risikogruppe gehören und daher zurzeit nicht zum Dienst kommen dürfen, den Service. Die Kollegen arbeiten dann von zuhause aus. Das finde ich sehr schön.

Befürchten Sie einen Anstieg der Suizidzahlen?

Die Erfahrungen sagen: "Je größer die Krise, desto geringer die Suizidzahlen". So verrückt wie das klingt. Aber die Suizidzahlen nach Kriegen bestätigen dies. Die Menschen beschäftigen sich mehr mit anderen Problemen. Ich glaube nicht, dass sich die Suizidzahlen erhöhen – ich möchte es nicht glauben. Ich möchte es auch nicht beschreien. Es ist jedoch vorstellbar, dass die Zahl steigt, wenn es beispielsweise eine Ausgangssperre gibt und die Leute zunehmend von anderen Sozialkontakten abgeschnitten sind.

Haben die Anrufer auch Wut oder andere Emotionen und nicht nur Angst?

Eher nein. Derzeit regiert die Angst. Viele wissen es jedoch zu würdigen, dass in Deutschland bisher noch keine so katastrophale Situation wie beispielsweise in Italien herrscht. Dafür sind viele dankbar. Auch das Vertrauen in das deutsche Gesundheits- und Sozialsystem hier ist hoch.

Berichten Anrufer auch über positive Ereignisse, die sie bisher aus der Situation mitgenommen haben?

Ja. Menschen achten zunehmend auf andere. So hat auch die Nachbarschaftshilfe zugenommen, berichten Anrufer. Und dadurch haben sie ihren Glauben an die Menschheit wiedergewonnen.

Gibt es Tipps und Gedanken, die Sie anderen gerne mitgeben möchten?

Es gibt ein gutes Zitat: "Nach dem Dunkeln kommt ein neuer Morgen." Das, was wir jetzt durchmachen, ist zeitlich begrenzt. Wir werden es überstehen. In ein paar Wochen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus – wenn wir mehr aufeinander achten und uns im Blick haben. Das kann zurzeit eine neue, gute Erfahrung sein. Nehmt euch liebevoll in den Blick, solange ihr euch nicht umarmen könnt.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Müller

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Uwe Müller am 19.03.2020
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