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Brexit: Ist es für Proteste bereits zu spät?


Brexit-Proteste
Die Regierung ist tot, es lebe das Volk!

  • Gerhad Spörl
MeinungVon Gerhard Spörl

Aktualisiert am 25.03.2019Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Sie wollen bleiben: Schätzungsweise über eine Million Menschen protestierten am Samstag in London gegen den EU-Austritt Großbritanniens.Vergrößern des Bildes
Sie wollen bleiben: Schätzungsweise über eine Million Menschen protestierten am Samstag in London gegen den EU-Austritt Großbritanniens. (Quelle: Henry Nicholls/Reuters-bilder)

Im Brexit-Chaos mag man kaum noch jeden Schritt verfolgen. Aber nun tut sich was: Es kommt zu Massenprotesten, erste Parlamentarier besinnen sich. Ist es dafür bereits zu spät? Eine Kolumne von Gerhard Spörl.

Eigentlich wollte ich so schnell nicht wieder über den Brexit schreiben, diese eigentümliche Neigung der Briten zur Selbsterhöhung durch Selbstverkleinerung und zur Abkehr von ihren bewundernswerten Eigenschaften, wozu zweifellos die Kompromissfindung gehört. Es ist nur ein begrenztes Vergnügen, einer politischen Klasse zuzuschauen, wie sie sich zerlegt und bekämpft und das Ganze vergisst, ihr Land, ihre Bürger.

Oh Gott, denke ich seit geraumer Zeit, so kann es gehen, wenn sich Exzentrik und Inkompetenz ergänzen: in der ehrwürdigsten Demokratie Europas, im Mutterland des Parlamentarismus, im Geburtsland des Pragmatismus.

Erstaunlicherweise gibt es jetzt doch noch, was so lange schmerzlich zu vermissen war. Am Samstag gingen eine Million Menschen in London auf die Straße und demonstrierten für Europa und gegen den Brexit. Die Verlierer des Referendums, die vom politischen Establishment Vergessenen rühren sich spät, vielleicht zu spät, vielleicht gerade noch rechtzeitig. Wie gut, ein Zeichen der Hoffnung, nur weiter so. Dazu haben inzwischen fünf Millionen Menschen eine Petition unterschreiben, damit der Artikel 50 aufgehoben wird, der den Austritt aus der Europäischen Union regelt.

Weil niemand für sie spricht, übernehmen sie selbst Verantwortung

Es regt sich was. Es ist nicht zu übersehen und auch nicht zu überhören. Nicht für Theresa May, die glücklose Premierministerin, die nicht voran kommt und nicht zurück will. Nicht für die Clowns, die den scharfen Bruch mit Europa wollen und ihn ganz toll finden. Auch nicht für die EU, die das Gezackere mit Großbritannien nervt, verständlicherweise.

Irgendwie haben wir es als gegeben hingenommen, dass die Konservativen unter sich regeln, unter welchen Umständen und mit welchem Abkommen das Land sich davon macht. Irgendwie ist in Vergessenheit geraten, dass mehr als 16 Millionen Briten vor fast drei Jahren für die Verweildauer in der EU stimmten, nur 1,3 Millionen weniger als die Nein-Sager. Wer übernimmt die Verantwortung für diese 16 Millionen?

Sie selber. Sonst niemand. Nicht die Regierung und auch nicht die Labour Party, die auf Neuwahlen schielt und sich wie die Konservativen an Europa spaltet. Deshalb gehen sie auf die Straße. Deshalb sammeln sie Unterschriften.

Großbritannien lebt. Es rührt sich. Es ist nicht nur totes Holz wie Theresa May und nicht nur ins Lachhafte gezogene Exzentrik wie Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg und die anderen, die davon träumen, die Churchills von heute zu sein, die das Vaterland in seiner Not ruft, sie sind vom Schicksal erkoren, die glorreiche Vergangenheit durch Abwendung von der Welt wiederzubeleben.

Was werden die Schotten machen?

Der Vollständigkeit halber sollten wir an die Schotten denken, immerhin 5,4 Millionen Menschen, die im Juni 2016 zu 62 Prozent für Europa gestimmt haben. Das Land mit dem Kilt hat fast so viele Einwohner wie die drei baltischen Staaten zusammen, hängt aber politisch an dem größeren Nachbarn. Die Schotten wollen bleiben, wo sie sind, in der EU. Sie müssen aber nicht bleiben, was sie sind: nicht unabhängig.

Theresa May ist am Ende, keine Frage. Ihr fällt schon lange nichts mehr ein. Sie ist eine Solistin mit einem erheblichen Mangel an der Fähigkeit, für ihre Sache zu werben, wobei die Frage wäre: Welche Sache meint sie? Sie könnte noch einmal versuchen, die Mehrheit für ihren Ausstiegsplan im Parlament zu bekommen. Zweimal ist sie damit gescheitert, beim nächsten Mal wird es schwerlich anders ausgehen. Sie sagt, Stand Wochenende, sie werde es nur dann noch einmal versuchen, wenn sich eine Mehrheit andeutet. Ich befürchte, dann kann sie lange warten.

Außerdem verwehren es ihr die Regeln des Parlaments, so lange den immer gleichen Plan vorzulegen, bis sie bekommt, was sie unbedingt haben will und muss: Die Einsicht ihrer Gegner, dass sie nichts Besseres bekommen.

Reißt das Parlament das Ruder an sich?

Das Parlament hört und sieht natürlich auch, dass sich das Land in erklecklicher Zahl aufbäumt. Es kann die Initiative an sich ziehen. Es kann sagen: Theresa May ist Vergangenheit, Boris Johnson, der ihr Nachfolger werden möchte, ist nicht die Zukunft, bloß nicht. Die Geschäftsordnung des House of Commons erlaubt Abstimmungen, die den May-Plan ergänzen, erweitern oder ignorieren. Wenn das Parlament es wirklich will, dann kann es den Verbleib in der Zollunion zur Abstimmung stellen oder die weitere Mitgliedschaft im gemeinsamen Markt und der Zollunion.

Von Theresa May ist das nicht weit entfernt, hat aber den Vorteil, dass nicht ihr Name darauf steht.

Das Parlament kann auch weitergehen. Es kann die lärmende Unzufriedenheit über die permanente Beschäftigung der politischen Klasse mit sich selber aufgreifen und umsetzen. Timothy Garton Ash, der klügste Europäer auf der Insel und Professor für Geschichte in Oxford, schreibt in einem Beitrag, er setze die Hoffnung in den Kyle-Wilson-Antrag. Kyle und Wilson sind zwei unerschrockene Labour-Abgeordnete, die vorschlagen, in einem neuen Referendum diese Alternative zu unterbreiten: entweder Austritt aus der EU nach dem May-Plan oder weitere Mitgliedschaft in der EU.

Ein zweites Referendum? Warum nicht!

Aber darf man das, ein neues Referendum über das alte Referendum einleiten? Man darf, weil jetzt zur Entscheidung steht, wie Großbritannien sich davon machen will und ob das Land noch der Meinung aus dem Mai 2016 ist.

Das Referendum zu organisieren würde dauern, es würde Herbst werden. Folglich müsste Großbritannien an der Europawahl am 26. Mai teilnehmen. Macht das was? Ist unschön, ist kompliziert, ist aber nur eine Konsequenz aus der Unfähigkeit der Konservativen, sich mit sich selbst zu einigen. Wäre sicherlich besser als der Irrsinn organisierter Verantwortungslosigkeit der Exzentriker.


Mir gefällt dieser Antrag. Großbritannien könnte noch einmal darüber nachdenken, was es will. Europa könnte die Abwanderung eines wichtigen Mitgliedslandes verhindern helfen. Und es wäre eine schöne Pointe der Geschichte, eine britische Pointe.

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