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Staatsminister Roth (SPD) über das Urteil in Polen: "Stimmt mich traurig"


Umstrittenes Urteil in Polen
"Das wäre für uns sehr bedrohlich"

InterviewVon Lisa Becke

09.10.2021Lesedauer: 4 Min.
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Demonstrierende in Warschau fordern den Polexit: Ein polnisches Gericht hat Teile des EU-Rechts für unvereinbar mit polnischem Recht erklärt.Vergrößern des Bildes
Demonstrierende in Warschau fordern den Polexit: Ein polnisches Gericht hat Teile des EU-Rechts für unvereinbar mit polnischem Recht erklärt. (Quelle: Maciej Luczniewski/imago-images-bilder)

Wie gravierend ist das polnische Urteil zum EU-Recht und was heißt es für die Gemeinschaft? Im Gespräch zeigt sich Europa-Staatsminister Michael Roth besorgt. Aber eine Sache stimmt ihn hoffnungsvoll.

Am Wochenende wollen zahlreiche Menschen in Polen gegen ein umstrittenes Urteil auf die Straße ziehen: Das Verfassungsgericht des EU-Mitgliedslandes hat am Donnerstag entschieden, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien – und damit das nationale über das europäische Recht gestellt. Das lang erwartete Urteil stellt einen Eckpfeiler der europäischen Rechtsgemeinschaft infrage. Die kann nur funktionieren, wenn sich alle Mitgliedsländer gemeinsamen Regeln unterordnen.

Es ist eine weitere scharfe Biegung des Weges, der das Land immer weiter von den europäischen Grundsätzen entfernt. Die EU weiß dem bislang nur wenig entgegenzusetzen. Michael Roth (SPD) ist Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Im Interview erklärt er, was die Europäische Union nun tun sollte, ob jetzt der "Polexit" ansteht und warum ein solcher sehr bedrohlich wäre.

Herr Roth, was dachten Sie als Erstes, als Sie die Nachricht von der Entscheidung in Polen gehört haben?

Das Urteil des polnischen Bundesverfassungstribunals stimmt mich sehr traurig. Es hat das vereinte Europa in eine sehr, sehr ernste Situation gebracht. Die EU ist eben nicht nur ein Binnenmarkt, sondern vor allem und zuerst eine Gemeinschaft der Werte und des Rechts.

Was besorgt Sie an diesem Urteil?

Seit Jahren sehen wir in der EU eine gefährliche Entwicklung, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit stehen unter Druck. Dieses Urteil aus Warschau verschärft die Situation. Polen droht sich immer weiter von unserem Wertefundament zu entfernen. Es entzieht der EU faktisch die gemeinsame Geschäftsgrundlage. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass es zu einer solchen weiteren Eskalation zwischen der EU und Polen nicht gekommen wäre.

Können Sie das ausführen?

Dass es gelegentlich zu Diskussionen zwischen nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof kommt, sollte nicht verwundern. Nur weil man sich zu einer Rechtsgemeinschaft bekennt, heißt das ja nicht, dass das alles ohne Kontroversen abläuft.

Auch gegen Deutschland laufen derzeit Vertragsverletzungsverfahren. Trotzdem käme niemals ein deutsches Verfassungsorgan auf die Idee, das Kernprinzip – nämlich den Vorrang des europäischen vor nationalem Recht – umfassend infrage zu stellen. Bei missliebigen und unangenehmen Themen kann nicht einfach ein Gericht sagen: Die passen uns nicht, deshalb scheren wir uns jetzt nicht länger um das EU-Recht.

Genau das hat Polen aber jetzt getan …

Nur so kann man die bisherigen Verlautbarungen aus dem polnischen Verfassungsgericht heraus interpretieren. Eine Gemeinschaft, ein Team, kann aber nur dann funktionieren, wenn Regeln eingehalten werden. Und zwar von allen. Die Rechtsgemeinschaft als Ganzes ist also schwer bedroht.

Also ist das Urteil ein Angriff auf uns alle?

Das Urteil rüttelt an einem der Grundpfeiler der Rechtsgemeinschaft, die uns als Europäerinnen und Europäer nicht entzweien darf, sondern verbinden muss. Schließlich werden alle Bürgerinnen und Bürger der EU geschützt – und zwar unabhängig davon, wo sie leben.



Was wird die Europäische Union jetzt gegen die Entwicklungen in Polen tun? Seit Jahren sieht sie ja eher dabei zu, wie das Mitgliedsland den Rechtsstaat untergräbt.

Da muss ich die EU aber auch mal in Schutz nehmen. Wer hätte es vor Jahren für möglich gehalten, dass wir mal in eine solch dramatische Situation geraten? Die Verfassungsmütter und -väter des vereinten Europas hätten sich eine solche Krise vermutlich niemals vorstellen können. Die EU hat in den vergangenen Jahren die verfügbaren Instrumente durchaus zu nutzen versucht, beispielsweise das Artikel-7-Verfahren ...

... nach diesem kann die EU feststellen, dass in einem Mitgliedsland die Gefahr einer schweren Verletzung der EU-Werte besteht. Die Handhabe der EU ist aber stark begrenzt.

Weil das so ist, wurden während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zwei neue Instrumente geschaffen. Wir haben mittlerweile einen Rechtsstaat-Check im Rat, dem sich alle Mitgliedsstaaten unterziehen müssen. Dann haben wir den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus im EU-Haushalt eingeführt: Auf Vorschlag der EU-Kommission können Mitgliedstaaten Gelder gekürzt werden, wenn die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit dort verletzt werden.

Wird die EU die neuen Instrumente in diesem Fall auch einsetzen?

Es geht ums Ganze. Es ist Aufgabe der Kommission als Hüterin der Verträge, die Rechtsordnung der EU entschieden zu verteidigen. Wir unterstützen sie dabei. Die Europäische Kommission hat am Donnerstag in ihrer Stellungnahme erklärt, dass alle vorhandenen Mittel geprüft werden, damit der Vorrang des europäischen Rechts, auch von Polen, zwingend eingehalten wird.

Was will Polen mit diesem Urteil eigentlich erreichen? Der Vorsitzende der polnischen PiS-Partei und Vizeregierungschef Kaczyński triumphierte nach der Urteilsverkündung: Die EU habe in Sachen Justizwesen "nichts zu sagen".

Ich will nicht spekulieren. Wir wissen aber selbst, dass es schon seit längerer Zeit Streit zwischen der EU und Polen gibt, gerade auch im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz, aber auch Medienfreiheit und Medienvielfalt. Es gibt das Artikel-7-Verfahren gegen Polen, das bereits seit Jahren läuft. Auch EU-Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds wurden noch nicht ausgezahlt, weil die Kommission ernsthafte Zweifel an der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in Polen hat.

Viele in Polen sehen das Urteil als einen ersten Schritt des Landes aus der EU heraus, der "Polexit" habe begonnen ...

Das wäre für die EU und für uns sehr bedrohlich, denn wir haben ein allergrößtes Interesse daran, dass Polen in der Mitte der Europäischen Union fest verankert ist.

Aber wir hören in der aktuellen Diskussion in Polen auch viele kritische Stimmen aus Opposition und Zivilgesellschaft. Es gibt in dem Land eine sehr harte und kontroverse Auseinandersetzung mit dem Urteil.

Ich habe großes Vertrauen in die quicklebendige und proeuropäische polnische Zivilgesellschaft. Ihr gilt meine Sympathie und Solidarität. Ich hoffe deshalb, dass das Urteil nicht das letzte Wort aus Warschau war.

Herr Roth, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Michael Roth am 08.10.2021
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