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Abschied von der Macht: Politikerinnen Ardern und Sturgeon als Vorbild


Abschied von der Macht
Wenn nicht mehr genug im Tank ist

  • Gerhad Spörl
MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

Aktualisiert am 27.02.2023Lesedauer: 4 Min.
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Zwei Frauen nehmen den Hut: Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon (l.) und die Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern.Vergrößern des Bildes
Zwei Frauen nehmen den Hut: Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon (l.) und Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern. (Quelle: imago-images-bilder)

Neuseelands Premier Jacinda Ardern und die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon geben freiwillig ihre Ämter auf. Was man daraus lernen kann.

Manchmal ist es ja so, dass etwas Bemerkenswertes passiert, aber nicht gegen weltbewegende Ereignisse bestehen kann und deshalb ungenügend gewürdigt wird. Das Versäumnis will ich heute wettmachen und über zwei Frauen schreiben, die vor Kurzem Ungewöhnliches taten: Sie legten ihr Amt freiwillig nieder.

Es begann mit Jacinda Ardern, die ihren Rückzug damit begründete, dass ihr die Energie fehle, die Tatkraft für das Amt der Ministerpräsidentin von Neuseeland. Ihr folgte wenige Tage später Nicola Sturgeon, deren Funktion die Schotten "First Minister" nennen, wobei sich, nebenbei gesagt, die genderfreie englische Sprache aufs Schönste bewährt.

Zwei Frauen gestehen sich und der Welt ein, dass sie nach Jahren in herausragenden Ämtern erschöpft sind, seelisch wie körperlich. Sie ziehen die Konsequenzen und treten zurück. Sie verzichten auf Macht. Sie nehmen Abschied, eher leise, als wäre es selbstverständlich, und bitten um Verständnis. Ohne Außendruck den Rückzug einzuleiten, ist unüblich.

Das Gegenteil ist Normalität. Konrad Adenauer wäre am liebsten auch noch nach seinem Tod Bundeskanzler geblieben. Helmut Kohl verpasste den richtigen Zeitpunkt, was niemanden verwunderte. Gerhard Schröder sah noch eine Chance zum Weiterregieren, als da keine mehr war. Angela Merkel ist nur eine bedingte Ausnahme, da sie schon 2017 gehen wollte, sich aber zum überlangen Bleiben überreden ließ.

Sie war die richtige Frau in einem schrecklichen Augenblick

Jacinda Ardern, eine linke Politikerin aus der Labour Party, war 37 Jahre alt, als sie 2017 Ministerpräsidentin von Neuseeland wurde. Im Jahr darauf bekam sie ihr drittes Kind und saß nach sechs Wochen wieder am Schreibtisch. Kurz darauf brachte ein Rechtsextremist 51 Menschen in zwei Moscheen in Christchurch um. Jacinda Ardern fand angemessene Worte, sie war die richtige Frau in einem schrecklichen Augenblick.

Plötzlich schaute die Welt auf sie und bewunderte ihre Haltung, ihren Charakter. Plötzlich war sie eine Ikone der Linken, die sich in Amerika oder England oder Deutschland jemanden wie sie wünschten. Fünfeinhalb Jahre lang war Jacinda Ardern Premierministerin ihres herrlichen Landes. "Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe. So einfach ist das", begründete sie ihren Rücktritt. Natürlich sah sie dabei nicht glücklich aus.

Nicola Sturgeon erlitt den Brexit, der ihr Land noch mehr von England entfremdete. Schottland ist proeuropäisch gesinnt, aber ohnmächtig gegen die radikalisierten britischen Konservativen. Die Schotten würde schon lange gerne die britische Vormundschaft abschütteln, jetzt noch mehr. Die linksliberale Ministerpräsidentin ist das Herz und die Seele der Weg-von-London-Bewegung.

Acht Jahre lang hat sie dieses Amt ausgeübt, das ihr nach und nach die Lebensenergie aussaugte. Neuseeland und Schottland sind keine Weltmächte, schon wahr. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bat weder Wellington noch Edinburgh um Waffen oder Munition oder Panzer. Beide Länder liegen im Windschatten der Geschichte. Dennoch kommt diesen beiden Frauen das Verdienst zu, dass sie in Freimut über das Schwinden der Kraft reden, das jedermann ereilt, so machtversessen er oder sie auch sein mag.

Wem die Luft zum Atmen knapp wird, muss sich zunächst selber klarmachen, dass es in ihm brodelt. Vermutlich vergeht einige Zeit, bis das Gefühl der Unrast, das jagende Herz beim Aufwachen mitten in der Nacht, die aufsteigende Angst, die gelegentliche Antriebslosigkeit zu einem unentwirrbaren Gemütsknäuel wird. Allmählich dringt die innere Not ins Bewusstsein und schreit nach Konsequenzen.

Das Schwerste ist das Eingeständnis: Ich kann nicht mehr

Vermutlich gingen Ardern und Sturgeon erst einmal Kompromisse ein, strichen Termine aus dem übervollen Kalender, leiteten kleine Veränderungen ein, beanspruchten mehr Privatheit im Tagesablauf, über den die Mitarbeiter bestimmen, und das mag sogar Wirkung gezeitigt haben, wenigstens für eine gewisse Zeit. Denn eine so endgültige Entscheidung wie der Rücktritt ist ein Prozess, der sich quälend hinzieht, bevor er in die Einsicht mündet, es geht nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich will auch nicht mehr so wenig von mir selber haben, von meinem Kind, von meinem Mann.

Am Ende steht die Pressekonferenz, auf der sich der komplexe Gemütsprozess in wenigen klaren Sätzen auflöst. Was bleibt zurück? Die Trauer um den Verlust eines Amtes, auf das sie energisch und zielsicher hingearbeitet hatten. Die Befreiung aus der Tretmühle. Die Rückgewinnung des funktionsfreien Ichs. Jacinda Ardern ist 42 Jahre alt, Nicola Sturgeon 52, da geht noch einiges, keine Frage.

Zwei Frauen treten zur Überraschung ihrer Landsleute den Rückzug an. Chapeau! Aber warum thematisieren sie, worunter Männer genauso leiden, ohne es sich und anderen einzugestehen, geschweige denn die Konsequenzen zu ziehen?

Männer haben mehr Allmachtsphantasien

Vermutlich haben weniger Frauen als Männer diese Allmachtsphantasien, die zum Anstreben und Ausüben von Macht gehören. Vielleicht schauen Frauen öfter nach innen, prüfen sich strenger, sind überhaupt kritischer im Umgang mit sich. Vielleicht ist es häufiger so, dass Frauen Macht zum Machen benutzen und nicht als Selbstzweck verstehen, woraus ja fast zwangsläufig die Notwendigkeit zur Machtsicherung fließt, die auch jede Menge Energie bindet.

Timing ist nicht alles in der Politik, aber ohne Timing ist alles nichts. Nun kennen wir zwei Beispiele für die Einsicht in die Notwendigkeit, das Amt niederzulegen. Freiwillig. Aus eigenem Recht. Das bleibt im Gedächtnis der Öffentlichkeit. Und damit stehen die Apostel der Machtversessenheit ab jetzt unter dem Zwang, ihre Verweildauer in Ämtern zu rechtfertigen. Dafür haben die zwei bemerkenswerten Frauen aus Neuseeland und Schottland gesorgt.

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