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Russland: "Es ist klar, dass der Kreml Nawalny als Geisel sieht"


Umstrittenes Gesetz
Nun ist Putin hinter Nawalnys Unterstützern her

  • David Schafbuch
Von David Schafbuch

09.06.2021Lesedauer: 4 Min.
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Alexej Nawalny auf einem Bildschirm bei einer Anhörung in Petuschki: Der Kremlkritiker wurde von einem Krankenhaus zurück in eine Strafkolonie verlegt.Vergrößern des Bildes
Alexej Nawalny auf einem Bildschirm bei einer Anhörung in Petuschki: Der Kremlkritiker wurde von einem Krankenhaus zurück in eine Strafkolonie verlegt. (Quelle: Anna Ustinova/imago-images-bilder)

Alexej Nawalny ist nach längerer Behandlung zurück in der Strafkolonie. Doch das russische Regime hat es längst nicht mehr nur auf ihn abgesehen. Das nächste Ziel sind seine Unterstützer.

Gesund sieht er noch immer nicht aus. Die jüngsten Bilder zeigen Alexej Nawalny am Montag mit kahlrasiertem Kopf in einem Käfig, die Hände lehnen an Gitterstäben. "Wie ein Oppositionsführer in Putins Russland aussieht", kommentiert Ilya Yashin, oppositioneller Regionalpolitiker, auf Twitter. Nawalny ist zugeschaltet in einer Gerichtsanhörung, weil er gegen seine Haftbedingungen geklagt hatte: In Zeitungen, die er lesen wollte, wurden zuvor offenbar Artikel ausgeschnitten, einen mitgebrachten Koran durfte er nicht nutzen.

Doch der Kremlkritiker zog die Klage zurück: Mittlerweile könne er neben dem Koran auch in einer Bibel lesen, eine Zensur finde nicht statt. "Wir haben alles erreicht", kommentierte Nawalny sarkastisch, wie der Internetsender "Doschd" berichtete. Gleichzeitig wurde bekannt, dass er zurück muss in die Strafkolonie nach Pokrow. Rund eineinhalb Monate, nachdem er in ein Krankenhaus verlegt und dort wegen seines Hungerstreiks behandelt wurde.

Geburtstagsgrüße aus dem Straflager

"Nawalny nutzt seine Bekanntheit, um sich einige Freiheiten zu erstreiten", erklärt Fabian Burkhardt vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg t-online. Anders als herkömmliche Häftlinge könne er Aufmerksamkeit auf Missstände lenken. Burkhardt glaubt trotzdem, dass der Kremlkritiker sich in keinem guten Zustand befindet: "Die Spätfolgen seiner Vergiftung hat Nawalny vermutlich noch gar nicht ausgestanden." Die Haftbedingungen in der Strafkolonie seien hart, bei Nawalny bestehe Fluchtgefahr, weshalb er nachts regelmäßig geweckt werde und sich nur schwer erholen könne.

Die große Belastung wollte sich Russlands bekanntester Regimekritiker zuletzt aber nicht anmerken lassen. An seinem 45. Geburtstag fasste er mit kämpferischen Worten auf Instagram die Ereignisse des letzten Jahres zusammen: Ein "Bonusleben" sei das, was er seit dem 20. August vergangenen Jahres führe.

Auf einem Flug vom sibirischen Tomsk nach Moskau wurde Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet und später in der Berliner Charité behandelt. Sprechen und Laufen habe er neu lernen müssen. Nach Recherchen mehrerer Medien wurde im Dezember der russische Inlandsgeheimdienst FSB für den Anschlag verantwortlich gemacht. Nawalny telefonierte wenig später mit einem der mutmaßlichen Agenten, der die Tat gestand.

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Nach der Rückkehr in seine Heimat wurde er umgehend festgenommen. Ein "comicartiges KZ, das Big Brother gleicht" nennt er die Strafkolonie. Dennoch bemühe er sich, Gefühle wie Wut oder Rache nicht in sich aufkommen zu lassen. Er versuche immer erst jeden Menschen zu verstehen, selbst diejenigen, die er im ersten Moment am liebsten erwürgen würde. Stattdessen gehe es ihm darum, "mit dem zweiten Gedanken mit allen Kräften diesen Menschen zu verstehen, ihm zu verzeihen und sogar (bitte bezeichnet mich nicht als pervers), sogar ein bisschen zu lieben", teilte Nawalny mit.

Umstrittenes Gesetz tritt in Kraft

Die Person, bei der ihm diese Liebe wohl am schwersten fällt, hatte wohl nicht zufällig an seinem Geburtstag ein neues Gesetz unterzeichnet. Wladimir Putin billigte eine neue Regelung, mit der Kandidaten von Wahlen ausgeschlossen werden können, die mit "extremistischen oder terroristischen" Organisationen zusammenarbeiten. Gleichzeitig hatten Gerichtsvollzieher Wohnräume Nawalnys nach Geld und Wertgegenständen durchsucht. Laut eines Gerichtsbeschlusses müsse er noch umgerechnet fast 330.000 Euro Schadenersatz zahlen.

Das neue Gesetz könnte weitreichende Folgen haben für alle Unterstützer des Oppositionellen: Es gilt als wahrscheinlich, dass das Gericht seine Anti-Korruptions-Organisation als "extremistisch" einstuft, wie die Terrorgruppen Islamischer Staat oder Al-Qaida. Dadurch könnten alle Nawalny-Unterstützer, die im September für die zweite russische Parlamentskammer (Staatsduma) kandidieren, von der Wahl ausgeschlossen werden.

Putin ändert Strategie

Allerdings könnten die Folgen noch deutlich weitreichender sein. "Das Gesetz ist bewusst schwammig formuliert", sagt Fabian Burkhardt. Es sei denkbar, dass noch deutlich mehr Menschen von der Wahl ausgeschlossen werden. Denn die Regelung gilt auch rückwirkend, wohl nicht ohne Grund: Das Nawalny-Team hatte für die Regionalwahlen im vergangenen Jahr eine App entwickelt, die in jedem Wahlkreis Gegenkandidaten zu Mitgliedern der Putin-Partei "Einiges Russland" empfiehlt. Auch Kandidaten, die nicht zur Nawalny-Gruppe gehören, wurden hier gelistet. Burkhardt befürchtet, dass auch sie von den Regelungen betroffen sein könnten.

Mit dem Gesetz reagiert das Putin-Regime zum einen auf den geringen Rückhalt im eigenen Land. Fabian Burkhardt beziffert die aktuellen Zustimmungswerte auf etwa 30 Prozent: "Für die Machthaber eines autoritären Regimes ist das sehr wenig." Gleichzeitig habe spätestens die vergangene Duma-Wahl gezeigt, dass ein Strategiewechsel erforderlich ist. Früher habe man mehr unabhängige Kandidaten zugelassen und anschließend einige Ergebnisse zurechtgebogen. Die letzte Parlamentswahl habe allerdings an vielen Orten bereits zu so knappen Ergebnissen geführt, dass man nun möglichst wenige Gegenkandidaten zulassen will.

Freilassung nicht in Sicht

Eine Untersuchung des russischen Investigativmediums "istories" zeigt allerdings, dass der Weg für unabhängige Kandidaten schon vor dem neuen Gesetz stark erschwert war. In den vergangenen 14 Jahren sollen russische Behörden insgesamt 120.000 Kandidaten von Wahlen ferngehalten haben. Gleichzeitig fand man heraus, dass die Hürden für unabhängige Kandidaten im Laufe der Zeit immer höher wurden: Durften 2003 noch 60 Prozent von ihnen an der Wahl teilnehmen, waren es 2016 nur noch 8 Prozent.

Von außen macht Alexej Nawalny allerdings nicht den Eindruck, als würden ihn die Maßnahmen gegen ihn und seine Organisation beeindrucken. Vielmehr führt er sein Machtspiel mit dem Kreml laut Fabian Burkhardt auch in der Haft fort. Deutschland und Europa hätten momentan kaum Hebel, um die Situation zu verändern. "Kurzfristig gibt es kein Mittel, um Nawalny freizubekommen", glaubt Burkhardt.

Denkbar sei höchstens, dass ihn Putin gegen Gefälligkeiten von anderen Staaten freilässt. "Es ist klar, dass der Kreml Nawalny als Geisel sieht." Doch zu Deals ist Nawalny nicht bereit, genauso wenig will er nach einer Freilassung das Land verlassen: "Sein Ziel bleibt es, eines Tages russischer Präsident zu werden." Seine Botschaften gelangen in jedem Fall weiter an die Öffentlichkeit: Am Dienstag äußerte sich erstmals auch seine Tochter Daria in einer öffentlichen Rede während einer Preisverleihung im Namen ihres Vaters.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Interview mit Fabian Burkhardt am 8.6.2021
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