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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Konflikt um Kaschmir Droht jetzt ein neuer Krieg?

Die Eskalation in Kaschmir bereitet vielen Sorgen. Denn es streiten sich zwei Atommächte.
Seit Jahrzehnten ist die Region Kaschmir im westlichen Himalaja zentrales Streitthema zwischen den Atommächten Indien und Pakistan. Die jüngsten Angriffe Indiens auf Ziele in Pakistan und im pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs gelten als Reaktion auf einen Terroranschlag in der Unruheregion am 22. April. Dabei wurden nahe der Stadt Pahalgam 26 Menschen – vorwiegend indische Touristen – getötet. Die Regierung in Neu-Delhi wirft Pakistan eine Beteiligung vor, Islamabad weist das zurück.
Am Mittwoch kündigte der pakistanische Premierminister Shehbaz Sharif an, "zu einem Zeitpunkt, an einem Ort und auf eine Weise" militärisch auf die indischen Angriffe zu reagieren. "Die pakistanischen Streitkräfte sind ordnungsgemäß ermächtigt worden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen", hieß es in einer Mitteilung.
- Ankündigung mit Eskalationspotenzial: Indien will Pakistan die Lebensader abschnüren
Kommt es nun zu einem großen militärischen Konflikt zwischen den beiden Atommächten? Nein, glaubt der Politikwissenschaftler und Südasienexperte Pierre Gottschlich von der Universität Rostock im Gespräch mit t-online.
Experte: Beide Länder müssen "Signal der Stärke" senden
Zwar seien die indischen Angriffe auf Pakistan erheblich heftiger gewesen als in vergleichbaren Situationen in der jüngeren Vergangenheit. Dennoch sei die Attacke "nichts, was wir in diesem Konflikt nicht in anderer Form schon gesehen haben", sagt der Experte.
Derzeit gehe es beiden Regierungen primär darum, der eigenen Bevölkerung "Zeichen der Stärke" zu signalisieren. "Beide Staaten müssen glaubhaft erklären können, siegreich aus dieser Situation herausgekommen zu sein", sagt Gottschlich. Indien habe dieses Ziel mit den Angriffen in der Nacht auf Mittwoch gewissermaßen erreicht.
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Das zeige sich auch im symbolischen Namen der indischen Militäroperation, erklärt Pierre Gottschlich. "'Sindoor', der Name der Militäroperation, steht für die zinnoberrote Farbe, die bei Hindu-Hochzeiten auf dem Haaransatz der Frau aufgetragen wird." Das sei ein Zeichen dafür, dass Indien mit den Angriffen die Gerechtigkeit für die Witwen der Opfer des Terroranschlags wiederhergestellt habe. "Ich glaube: von indischer Seite müssen wir keine weitere Eskalation mehr befürchten", sagt der Politikwissenschaftler.
Besonderes Augenmerk liegt jetzt auf der von Premierminister Sharif angekündigten pakistanischen Reaktion auf die Angriffe. Denn die indische Erzählung unterscheidet sich stark von dem, was Pakistans Regierung hinsichtlich der Angriffe kommuniziert. "Laut Indien wurden vor allem Terrorcamps in Pakistan angegriffen", sagt Gottschlich.
Ein pakistanischer Gegenschlag steht noch aus
Relevant sei, dass Indien betont habe, keine Infrastruktur der pakistanischen Armee angegriffen zu haben. Die Botschaft sei klar: "Indien richtet seine Angriffe nicht gegen den pakistanischen Staat, sondern gegen Terrorgruppen, die auf pakistanischem Staatsgebiet agieren", erklärt Gottschlich.
Die Erzählung der pakistanischen Seite sei derweil eine andere. Dort werde berichtet, Indien habe auch zivile Strukturen angegriffen, darunter Moscheen, sagt Gottschlich. "Laut pakistanischer Seite gab es nach jetzigem Stand 26 zivile Todesopfer – das ist ein anderes Narrativ als von der indischen Seite."
Gottschlich geht aber auch angesichts der Tatsache, dass beide Länder Atomwaffen besitzen, nicht von einer großflächigen Eskalation des Konflikts aus: "Beiden Ländern ist bewusst, dass die jeweils andere Seite über Nuklearwaffen verfügt."
Auch in der Vergangenheit sei ein Nuklearschlag selbst während schwerer Krisen keine Option gewesen, erklärt Gottschlich. "Nach den großen Terrorangriffen in Mumbai 2008 oder der Eskalation in den Jahren 2001 und 2002 ist die ultimative Eskalationsstufe ein Tabu geblieben."
Deshalb ist der Politikwissenschaftler der Uni Rostock "vorsichtig optimistisch", dass der Konflikt nicht eskaliert. "Die Statements beider Seiten lassen – wenn man zwischen den Zeilen liest – rationale Zurückhaltung hinsichtlich eines nuklearen Angriffs erwarten."
Auch China hat kein Interesse an einem großen Krieg
Dazu kommt, dass auch die anderen Mächte in der Region einen großen Krieg verhindern wollen – allen voran China, das eigene geopolitische Interessen in Kaschmir verfolgt. Sonst stehe das Reich der Mitte zwar fest an der Seite Pakistans. "Trotzdem hat es die indischen Angriffe als 'bedauerlich' bezeichnet. Diese Wortwahl hätte auch deutlich drastischer ausfallen können", sagt Gottschlich. Das könne man als Zeichen interpretieren, dass China im Falle einer weiteren Eskalation auf Pakistan einwirken könnte, um die Gefahr eines Nuklearschlags zu verringern.
Die Tatsache, dass beide Länder über Atomwaffen verfügen, sorgt allerdings für interessante Perspektiven, so Gottschlich. "In der Politikwissenschaft gibt es die sogenannte Abschreckungstheorie. Die besagt, dass, wenn ein Staat Atomwaffen besitzt, er quasi unangreifbar wird, weil jeder Angreifer damit rechnen muss, dass nuklear zurückgeschlagen wird." Deswegen würden sich potenzielle Angreifer doppelt überlegen, ob sie eine Nuklearmacht wirklich attackieren wollen.
Indien und Pakistan haben allerdings bereits einen konventionellen Krieg im Jahr 1999 gegeneinander geführt. "Bei der Kargil-Krise tauschten Pakistan und Indien Kampfhandlungen aus", erklärt Gottschlich. "In der Retrospektive bezeichnen einige Beobachter diesen Konflikt als Krieg – und damit würde er die Abschreckungstheorie widerlegen." Auch dafür liefert der Experte eine Erklärung: "Man könnte sagen, dass konventionelle Kriege wieder führbar werden, weil Nuklearwaffen garantieren, dass sie nicht eskalieren, sondern begrenzt bleiben." Die nächsten Tage dürften also entscheidend werden.
- Eigene Recherche
- Telefonat mit Pierre Gottschlich
- Mitteilung des pakistanischen Premierministers
- Mitteilung des indischen Premierministers