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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bericht über Schießbefehl in Gaza "Es gab keine Warnschüsse – wir feuerten direkt auf sie"

Die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen hungert. Israel kontrolliert einen Teil der Essensausgabe – seine Soldaten sollen gezielt auf Hungernde geschossen haben.
Israelische Soldaten sollen in den vergangenen Wochen auf Befehl ihrer Kommandanten gezielt auf Menschenmengen bei Hilfslieferungen im Gazastreifen geschossen haben. Das berichtet die israelische Zeitung "Haaretz" am Donnerstag unter Berufung auf Aussagen aktiver und ehemaliger Armeeangehöriger. Demnach hätten die Einsatzkräfte das Feuer eröffnet, obwohl keine akute Gefahr von den Menschen ausging.
Ein Soldat sprach gegenüber "Haaretz" von einem "Töten im Routinebetrieb" und einer "völligen Erosion" ethischer Maßstäbe. In seinem Einsatzgebiet seien "täglich bis zu fünf Menschen getötet" worden – darunter Zivilisten, die in aller Frühe versuchten, einen Platz in der Schlange vor einem der vier Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) zu bekommen, die die Verteilung humanitärer Hilfe koordiniert und von den USA und Israel unterstützt wird.
Zivilisten als "feindliche Macht"
"Es ist ein Schlachtfeld", berichtet der Soldat. "Die Palästinenser werden wie eine feindliche Macht behandelt: Es gibt keine Massenkontrolle, keine Warnschüsse, kein Tränengas – nur Beschuss mit allen vorhandenen Waffen: mit schweren Maschinengewehren, Granatwerfern und Mörsern." Wenn das Feuer stoppt, sei das für die Menschen an den Hilfszentren das Signal, sich vorsichtig zu nähern. "Wir kommunizieren über das Feuer aus unseren Gewehren", sagt der Soldat.
Die Hilfszentren wurden Ende Mai von Israel mit Unterstützung evangelikaler Gruppen aus den USA eingerichtet. Ziel: Lebensmittelversorgung für Hunderttausende Notleidende in Gaza. Doch laut "Haaretz" verlaufe die Verteilung chaotisch – und häufig tödlich. Aus den Recherchen der Zeitung ergeben sich mindestens 19 Fälle, in denen IDF-Soldaten auf unbewaffnete Zivilisten an den Ausgabestellen für humanitäre Hilfe geschossen haben sollen.
Dabei hätten nicht nur einfache Soldaten das Feuer auf Zivilisten eröffnet, sondern auch befehlshabende Kommandeure. Das vorgegebene Ziel sei laut Aussage der Soldaten die "Gebietssicherung" gewesen. Insbesondere in der Nacht und am frühen Morgen seien Zivilisten gezielt erschossen worden, erzählt der Soldat der "Haaretz": "Wir feuern frühmorgens, wenn sich Leute aus Hunderten Metern nähern. Manchmal stürmen wir sie auch einfach frontal an – obwohl keine Bedrohung besteht." Der Mann führt weiter aus: "Das Vorgehen ist moralisch unhaltbar."
Ihm sei kein einziger Fall von Gegenfeuer bekannt. Weiterhin erklärte der Soldat, die Aktivitäten in seinem Dienstbereich würden als Operation "Gesalzener Fisch" bezeichnet werden – der Name der israelischen Version des Kinderspiels "Donner, Wetter, Blitz".
Die interne Kritik scheint zu wachsen
Die israelische Öffentlichkeit bekäme von den Vorgängen im Gazastreifen nichts mit, berichten IDF-Offiziere der "Haaretz". Ihnen zufolge sei die Armee zufrieden damit, dass die von Israel legitimierten Hilfszentren eine Beendigung internationaler Unterstützung für das israelische Vorgehen im Palästinensergebiet verhindert hätten. Insbesondere seit dem Krieg mit dem Iran sei es der Armee gelungen, den Gazastreifen in einen Nebenschauplatz zu verwandeln – das öffentliche Interesse daran sei deutlich gesunken.
Intern wächst offenbar die Kritik am Vorgehen der Armee. In einem nicht öffentlichen Treffen wies laut "Haaretz" das Büro des Militärstaatsanwalts jüngst die Darstellung zurück, es handele sich bei den Todesfällen um Einzelfälle. Ein beteiligter Jurist betonte: "Es geht nicht um einige wenige Tote – wir sprechen über Dutzende Zivilisten täglich." Zudem äußerten mehrere Offiziere Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Einsätze.
Auch private Unternehmen töten in Gaza
Ein weiteres Problem seien außerdem die privaten Unternehmen, die die zerstörten Häuser im Gazastreifen abreißen sollen. "Heute erhält jeder private Unternehmer, der in Gaza mit technischer Ausrüstung arbeitet, 5.000 Schekel (etwa 1.250 Euro) für jedes Haus, das er abreißt", sagte ein Kriegsveteran. "Sie machen ein Vermögen. Aus ihrer Sicht ist jeder Moment, in dem sie keine Häuser abreißen, ein Verlust an Geld, und die Streitkräfte müssen ihre Arbeit sichern. Die Auftragnehmer, die wie eine Art Sheriff agieren, reißen ab, wo immer sie wollen, und zwar entlang der gesamten Front."
Der Soldat fügte hinzu, dass die Abrissunternehmen zusammen mit einer kleinen Zahl an Sicherheitskräften in der Nähe von Verteilungsstellen oder entlang der von Hilfslieferwagen genutzten Routen arbeiten. "Wenn sich die Arbeiter selbst schützen wollen, kommt es zu Schießereien, bei denen Menschen getötet werden."
Dies geschehe auch in Transitgebieten, die Palästinenser zur Flucht in die Zonen nutzen, die die israelische Armee als "sicher" bezeichnet. "Wir sind diejenigen, die näher an sie herangerückt sind und dann beschlossen haben, dass sie eine Gefahr für uns darstellen", sagt der ehemalige Soldat.
Ein General mit zweifelhaftem Ruf
Als Verantwortlichen für die gezielte Tötung der palästinensischen Zivilisten machen mehrere Gesprächspartner der "Haaretz" den Brigadegeneral Jehuda Wach aus, den Kommandanten der 252. IDF-Division.
Gegen Wach läuft bereits eine Untersuchung der Armee, weil er die Sprengung des Türkischen Krankenhauses im Gazastreifen ohne Autorisierung befohlen haben soll. Außerdem gilt Wach als führender Kopf hinter den Tötungen palästinensischer Zivilisten im sogenannten Netzarim-Korridor. Hier wurden die Opfer ausnahmslos als Terroristen gezählt, selbst wenn sie noch Kinder waren.
Wir feuern auf Menschen, die nur Reis holen wollen – das ist nicht zu rechtfertigen.
Offizier der israelischen Armee zu "Haaretz"
Die Kritik der Soldaten richtet sich neben Jehuda Wach vor allem gegen Janiw Asor, den Oberbefehlshaber des Südkommandos, dem die 252. IDF-Division untersteht. Generalmajor Asor sei trotz mehrfacher Hinweise auf Kriegsverbrechen nicht eingeschritten, um Wach zu stoppen.
Die israelische Regierung reagierte heftig auf die Veröffentlichung des Berichts in der "Haaretz". Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz veröffentlichten am Freitag eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie den Artikel der Zeitung als "Blutverleumdung" bezeichneten. Die "böswilligen Unwahrheiten" zielten darauf ab, die israelische Armee in "ein schlechtes Licht" zu rücken. Die IDF sei die "moralischste Armee der Welt". Israels Soldaten hätten keinen Befehl, auf unschuldige Zivilisten zu schießen, heißt es weiterhin.
Auch das israelische Militär erklärte, es habe niemals Anweisung gegeben, gezielt auf Zivilisten zu schießen. Vielmehr habe man die humanitären Zonen abgesichert, um die Verteilung zu ermöglichen. Einige Vorfälle würden untersucht, man habe außerdem die Infrastruktur im Gazastreifen verbessert – etwa durch neue Wege und Absperrungen.
Nach Informationen von "Haaretz" wurden allerdings bislang kaum disziplinarische Maßnahmen ergriffen – obwohl der militärinterne Prüfmechanismus bereits mehrfach eingeschaltet wurde. Ein Offizier sagte zum Schluss: "Wir feuern auf Menschen, die nur Reis holen wollen – das ist nicht zu rechtfertigen."
- haaretz.com: "IDF soldiers ordered to shoot deliberately at unarmed Gazans waiting for humanitarian aid" (kostenpflichtig) (Englisch)
- haaretz.com: "IDF soldiers expose arbitrary killings and rampant lawlessness in Gaza’s Netzarim Corridor" (kostenpflichtig) (Englisch)
- haaretz.com: "IDF investigating if commander demolished nonfunctioning hospital in Gaza without approval" (kostenpflichtig) (Englisch)
- timesofisrael.com: "IDF confirms probing troops' fire on aid-seeking Gazans; denies that it's an order from above" (Englisch)
- jpost.com: "IDF strongly rejects damning report claiming military targets civilians" (Englisch)
- n-tv.de: "Israelische Soldaten erhielten Schießbefehl gegen Hungernde in Gaza"
- X-Profil des Staates Israel