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Corona-Notbremse bei Inzidenzwert 100: So tricksen einige Landkreise jetzt


100 über 100
Wie sich Landkreise um die "Corona-Notbremse" herumtricksen


Aktualisiert am 16.03.2021Lesedauer: 5 Min.
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Eine Anzeigetafel weist in Ludwigsburg auf die Ausgangssperre hin (Archivbild): Nicht überall in Deutschland wird die beschlossene "Notbremse" angewandt.Vergrößern des Bildes
Eine Anzeigetafel weist in Ludwigsburg auf die Ausgangssperre hin (Archivbild): Nicht überall in Deutschland wird die beschlossene "Notbremse" angewandt. (Quelle: Arnulf Hettrich/imago-images-bilder)

Weil Bund und Länder das Unheil kommen sahen, bauten sie in ihren letzten Corona-Beschluss eine "Notbremse". Nun halten sich immer mehr Landkreise nicht daran. Wie begründen sie das?

In Thüringen sind seit Montag wieder Kosmetik und Fußpflege erlaubt. Eine neue Verordnung, die zum Wochenstart in Kraft trat, erweitert das Angebot an Dienstleistungen im Freistaat auch um Solarien sowie Buchläden, Bibliotheken und Kinderschuhgeschäfte. Zwar gehen die Öffnungen mit strengen Auflagen einher – sie wirken dennoch fragwürdig angesichts hoher Infektionszahlen, für die doch eigentlich erst vor Kurzem eine "Notbremse" eingeführt wurde.

Thüringen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von aktuell 168 ist nur ein Beispiel, wie großzügig der von Bund und Ländern einhellig beschlossene Rückfallmechanismus inzwischen von einigen interpretiert wird. Mehrere Landkreise machten in den vergangenen Tagen Schlagzeilen, weil sie sich den Verordnungen ihrer jeweiligen Landesregierungen widersetzten bzw. sie in ihrem Sinne auslegten. Denn keineswegs ist der rechtliche Rahmen überall so klar abgesteckt worden, wie es der Bund-Länder-Beschluss einmal vorsah.

Dabei lässt die Regelung, auf die sich die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin am 3. März geeinigt hatten, eigentlich keinen Spielraum für Interpretationen: Wo anhaltend mehr als 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen kommen – was Stand Montag in 117 Landkreisen und kreisfreien Städten der Fall war – greift die "Notbremse". Wörtlich heißt es im Beschluss:

"Steigt die 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner an drei aufeinander folgenden Tagen in einem Bundesland oder einer Region auf über 100, treten ab dem zweiten darauffolgenden Werktag die Regeln, die bis zum 7. März gegolten haben, wieder in Kraft (Notbremse). Danach wird die Möglichkeit zu privaten Zusammenkünften wieder auf den eigenen Haushalt und eine weitere Person beschränkt. Kinder bis 14 Jahre werden dabei nicht mitgezählt."

Wer ist zuständig?

Wenige Tage später ist der Beschluss in der Praxis bereits verwässert worden. Mehrere Landkreise, obwohl Corona-Hotspots, zogen nicht die "Notbremse", sondern verzögerten allenfalls ein bisschen das Tempo.

Rechtlich ist die Sache kompliziert: Zuständig für die Umsetzung der Corona-Maßnahmen nach Paragraph 28 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sind im Wesentlichen die Gesundheitsämter, somit also die Landkreise und Kommunen. Gleichzeitig räumt unter anderem Paragraph 32 IfSG den Landesregierungen das Recht ein, Maßnahmen per Verordnung anzuweisen und somit die Zuständigkeit an sich zu ziehen.

Auf den zuvor genannten Paragraph 28 bezog sich auch die Stadt Pirmasens, als sie mit ihrer Allgemeinverfügung vom 12. März die Vorgaben der Landesregierung unterlief. Obwohl die Sieben-Tage-Inzidenz in der rheinland-pfälzischen Stadt mehr als drei Tage bei über 100 lag – am Montag markierte sie mit 154 den Spitzenwert im Bundesland –, blieben die Geschäfte weiter offen. Zwar wurde unter anderem die maximale Kundenzahl verringert – Maßnahmen wie eine nächtliche Ausgangsbeschränkung oder eine 15-Kilometer-Begrenzung, wie sie die Corona-Bekämpfungsverordnung von Rheinland-Pfalz in diesem Fall vorsieht, wurden jedoch nicht ergriffen. Der Pirmasenser Oberbürgermeister Markus Zwick (CDU) erklärte, eine gänzliche Schließung der Geschäfte "wäre aufgrund der besonderen Situation vor Ort unverhältnismäßig und rechtswidrig".

Landrat: Kein Problem, wenn sich alle an die Regeln halten

In Brandenburg scherten vergangene Woche gleich zwei Landkreise aus dem Bund-Länder-Konsens aus: Elbe-Elster und Oberspreewald-Lausitz, mit Sieben-Tage-Inzidenzen von knapp 177 und 165 (Stand Montag) die Corona-Hotspots im Bundesland. Christian Heinrich-Jaschinski (CDU), Landrat von Elbe-Elster, erklärte zur Begründung, neue Einschränkungen seien überflüssig, "wenn die geltenden Regelungen beachtet werden".

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Der Landrat führte aus, dass die meisten Infektionen auf private Zusammenkünfte und Feiern sowie Nachlässigkeiten beim Arbeitsschutz zurückgingen. Einschränkungen für Geschäfte, Kitas oder Schulen hätten auf das Infektionsgeschehen vergleichsweise wenig Einfluss, wären aber mit gravierenden Nebenwirkungen verbunden.

Im Landkreis Oberspreewald-Lausitz begründete Landrat Siegurd Heinze (parteilos) die Entscheidung gegen einen Lockdown schlicht damit, dass gerade erst gelockert wurde: "Wir beabsichtigen nach all den Wochen des scharfen Lockdowns in OSL und nunmehr wenigen Tagen erster Lockerungen aktuell noch nicht, eine Allgemeinverfügung mit schärferen Corona-Regeln zu erlassen."

Brandenburg schwächte "Notbremse" ab

Die Landesregierung in Potsdam reagierte verärgert. Sprecher Florian Engels wies darauf hin, dass die Kreise ab der 100er-Grenze aufgefordert seien, geeignete Maßnahmen wie verschärfte Kontrollen oder die Verhängung von Bußgeldern zu ergreifen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Landesregierung selbst aus dem 100er-Beschluss von Anfang März ausgebrochen war und eigenmächtig das Limit für die "Notbremse" verdoppelt hatte.

In der Brandenburger Eindämmungsverordnung heißt es lediglich, dass Landkreise und kreisfreie Städte ab einer Inzidenz von 100 weitergehende Maßnahmen nach Infektionsschutzgesetz ergreifen "sollen". Konkrete Schritte? Fehlanzeige. Eine echte "Notbremse" mit klaren Vorgaben zu Kontaktbeschränkungen, Einzelhandel oder Schulen greift erst ab einer Inzidenz von 200.

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Ob dies den Entscheidungsträgern in Elbe-Elster und Oberspreewald-Lausitz als Anstoß diente? Inzwischen sieht man in Potsdam jedenfalls Handlungsbedarf. Weil sich die Inzidenz landesweit schnell der 100 nähert, will das Kabinett von Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) die Lockerungen offenbar wieder zurücknehmen. Noch in dieser Woche soll es dazu eine Sondersitzung des Kabinetts geben, wie Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) erklärte. Auf einer Online-Pressekonferenz sagte sie laut n-tv: "Wir werden auf jeden Fall reagieren."

Seibert: Bundesregierung steht zum Beschluss

Die Bundesregierung drückte am Montag ihr Unverständnis über die Alleingänge aus und drängte die Länder dazu, sich an die Abmachung vom 3. März zu halten. "Wenn man Beschlüsse fasst, geht man immer davon aus, dass sie dann auch Realität werden", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Die Bundesregierung stehe zu diesem Beschluss, aber die Umsetzung liege bei den Ländern.

Seibert ergänzte: "Wir erkennen als Bundesregierung die Gefährlichkeit der jetzt herrschenden Situation an, und das sollte jeder. Steigende Inzidenzen, steigende Fallzahlen, insbesondere auch in der jüngeren Bevölkerung, kein Rückgang mehr der Belegung der Intensivbetten – das sind ungute Entwicklungen, auf die wir alle zusammen reagieren müssen."

Bayern nimmt Lockerungen zurück

In anderen Teilen der Bundesrepublik wird die "Notbremse" derweil konsequent angewendet. In Bayern etwa können wegen steigender Corona-Fallzahlen die Geschäfte mittlerweile nur noch in 15 der 96 bayerischen Landkreise und kreisfreien Städte öffnen.

In Regensburg, Landshut und mehreren anderen größeren Städten gilt nun die "Notbremse" mit wieder verschärften Beschränkungen, weil an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Inzidenz von mehr als 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten wurde. In 37 Kreisen und Kommunen sind die Geschäfte laut Handelsverband Bayern ganz zu. In 44 weiteren, in denen die Inzidenzwerte zwischen 50 und 100 liegen, ist "Click & Meet" erlaubt – ein Ladenbesuch nach Terminvereinbarung.

Auch in Mannheim in Baden-Württemberg liegt die Inzidenz mit derzeit 109 über dem Grenzwert, weshalb hier ab Dienstag die "Notbremse" gezogen wird. Kunden dürfen dann auch mit Reservierung nicht mehr die Läden betreten. Auch körpernahe Dienstleistungen wie Maniküre müssen ihren Betrieb wieder schließen.

Verwendete Quellen
  • Land Brandenburg:
  • Bundesregierung:
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