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HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Bundestagswahl 2021: Schafft endlich die Briefwahl ab!


Relikt der Vergangenheit
Schafft die Briefwahl ab!

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 06.09.2021Lesedauer: 4 Min.
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Kolumnist Christoph Schwennicke "Ungefähr aus der Zeit des Postillons Spahrbier stammt die Briefwahl"Vergrößern des Bildes
Kolumnist Christoph Schwennicke "Ungefähr aus der Zeit des Postillons Spahrbier stammt die Briefwahl" (Quelle: imago-images-bilder)

Es gibt gute Gründe für die Briefwahl, nein: Es gab gute Gründe. In einer Echtzeitdemokratie hat sie ausgedient – zumindest in ihrer heutigen Form.

Erinnert sich noch jemand an Walter Spahrbier? Den kleinen, vor liebenswertem Stolz platzenden Postboten, der in Wim Thoelkes Show "Der große Preis" die männliche Glücksfee geben durfte? Jedes Mal in einer anderen historischen Uniform, auf die ihn der Showmaster rituell als erstes ansprach.

Ungefähr aus der Zeit des Postillons Spahrbier stammt die Briefwahl zur Bundestagswahl. Sie ist 1957 eingeführt worden, zunächst als Ausnahme für Kranke, Urlauber und Sonntagsarbeiter, die sonst keine Möglichkeit gehabt hätten, ihre Stimme als Wähler geltend zu machen.

Aus der Ausnahme ist ein fester Bestandteil der Bundestagswahl geworden. Mehr als ein Drittel aller Wählerinnen und Wähler haben davon 2017 Gebrauch gemacht. Dieses Mal werden es abermals mehr sein, denn Corona kommt auf den allgemeinen Trend obendrauf. Es wäre kein Wunder, läge der Anteil der Briefwähler dieses Mal deutlich über 50 Prozent.

Ein Restant der langsamen Welt von gestern

Na und? Macht die Wahl bequemer, bewahrt den Wahlsonntag ausflugshalber davor, in eine Zeit vor dem Wahlgang und eine danach zerrissen zu werden. Kann man eigentlich nichts dagegen haben, möchte man meinen.

Doch!

Es spricht fast alles dafür, sich von dieser Form der Wahlbeteiligung schleunigst zu verabschieden. Sie ragt als Restant der langsamen Welt von gestern, der Welt des Walter Spahrbier, in die schnelle Welt von heute. Und läuft Gefahr dabei, das Wahlergebnis nicht zu präzisieren, sondern zu verzerren. Nein, läuft nicht Gefahr: Sie verzerrt das Wahlergebnis.

Christoph Schwennicke ist Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren als politischer Journalist, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung" und den "Spiegel". Zuletzt war er Chefredakteur und Verleger des Politmagazins "Cicero".

Wie alles andere in unserem Leben waren Wahlkämpfe vor 20 Jahren ungleich langsamer als heute. Und sie dauerten viel länger. Allmählich begannen sie zum Jahreswechsel, beschleunigten sich im Frühjahr und gingen in den Endspurt nach der Sommerpause, die alle vier Jahre keine war.

Und so allmählich wie der Wahlkampf Fahrt aufnahm, so vergleichsweise träge reagierten auch die Geigerzähler der Demokratie. Die Kurven der Meinungsforschung bewegten sich langsam, die grundsätzlichen Bindungen an die Parteien waren stärker als das Oberflächengekräusel, das der Wahlkampf erzeugte.

Heute dagegen: Alles wogt und wallt und schnappt. Alles ist fluide und flüchtig. Noch im Mai hatte die Umfragelinie der Grünen die der CDU auf hohem Niveau auf ihrem Weg nach oben geschnitten. Es ging nur mehr um die Frage, ob Annalena Baerbock auf ihrem Weg ins Kanzleramt noch jemand stoppen könnte. Und wenn, dann wäre dieser Jemand allenfalls Armin Laschet, aber nimmermehr Olaf Scholz. Jetzt, knapp drei Wochen vor der Wahl, ist Baerbock abgeschlagen und Laschet muss sehen, dass er einigermaßen an den Fersen von Scholz bleibt. Und was es noch nie gab: Dass bei zwei der drei Kanzlerkandidaten vier Wochen vor der Wahl ernsthaft über deren Austausch zugunsten eines anderen Kandidaten diskutiert wird.

All diese Momentaufnahmen und Wallungen der Echtzeitdemokratie entscheiden heute über den Wahlausgang. Ein dämliches Lachen in Erftstadt, ein stupide zusammenkopiertes Buch, ein Onlineportal zum anonymen Melden von Steuersündern eines Parteikollegen in einem Bundesland: Alles sorgt dafür, dass die Amplituden der Wallungsdemokratie sofort nervös ausschlagen wie die Leistungsanzeiger an einem High-End-Verstärker.

Das Timing passt vorne und hinten nicht

Der Briefwähler aber, er (oder sie) hat schon gewählt. Das Gewalle und Gewoge passiert, während sein Umschlag schon auf dem Tisch der auszuzählenden Stimmen liegt. Man könnte das so machen. Wenn alle anderen Geschwindigkeiten auch dieser analogen Langsamkeit der Briefwahl entsprächen. Wenn zeitgleich mit dem Beginn der Briefwahl alle weitere Demoskopie verboten wäre. (Wie es mit nicht ganz so langem Vorlauf auch einmal war). Wenn es keine Duelle oder Trielle im Fernsehen gäbe, die inzwischen einen maßgeblichen Einfluss auf den Wahlausgang in unserer Stimmungsdemokratie nehmen.

Aber das ist nicht so und wird auch nicht so kommen. In diese Richtung wird nicht synchronisiert werden, das steht fest. Den Fortschritt und die Beschleunigung wird die Briefwahl nicht aufhalten. Also muss sie modernisiert werden. Mit dem Tempo der Zeit synchronisiert werden. Digitalisiert werden. Und auf einen kurzen Zeitraum, sagen wir auf zwei, drei Tage vor der Wahl beschränkt werden.

Es ist nachgerade grotesk, dass der Wahl-o-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung erst dreieinhalb Wochen vor der Bundestagswahl aufgeschaltet wird, die Briefwahl aber schon sechs Wochen vor der Bundestagswahl anläuft. Hier passt etwas vom Timing hinten und vorne nicht zusammen.

Die Briefwahl war ein halbes Jahrhundert lang eine gute Sache. Aber gute Sachen werden immer wieder von besseren Sachen abgelöst. Man nennt das Fortschritt. Wenn es möglich, selbstverständlich und sicher ist, stattliche Geldbeträge digital mit Onlinebanking zu überweisen, sollte das für die Stimmabgabe genauso sicher möglich sein. Walter Spahrbier war in seinem wirklichen Leben Geldbriefträger in Hamburg-Lokstedt. Die gibt es auch nicht mehr.

Ich werde übrigens so oder so weiter sonntags ins Wahllokal gehen. Ich mag diesen Akt. Den einsamen Moment in der Kabine, den Augenblick, wenn der Zettel in die Kiste gleitet und die Wahlhelferin wieder das Stück Pappe auf den Schlitz legt. Aber ich höre ja auch Vinylplatten über einen High-End-Verstärker mit diesen beiden beleuchteten, im Rhythmus der Musik zuckenden Zeigern.

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