Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Allergische Reaktionen auf Merz Ein Kanzler als Zumutung

Für viele aus der woken Linken sind Friedrich Merz und seine Mitstreiter in der Regierung der Untergang der Moderne. Woher kommt eigentlich diese maßlose allergische Reaktion?
Meistens geht es mit Wolfram Weimer los. Weil ich beim Magazin "Cicero" der Nachnachfolger des neuen Kulturstaatsministers war, sprechen mich dieser Tage ganz viele Leute im Berufsumfeld und im Bekanntenkreis auf ihn an. Weimer ist gewissermaßen der Kristallisationspunkt, die stellvertretende Hassfigur der neuen Regierung bei der aufgeklärten Linken und im woken Milieu. Die naturgemäß deutlich linkslastige Kulturbranche bebt, zittert und schäumt. In diesen Gesprächen hat man den Eindruck, da kommt jetzt das Böse an sich ins Kanzleramt. Um es in zwei Bandnamen zu sagen: Merz und Weimer – die Böhsen Onkelz folgen auf Ton Steine Scherben, die Weimers Vorgängerin Claudia Roth in einem früheren Leben erfolgreich in den Ruin gemanagt hat.
So gut, wie alle annehmen, kenne ich Wolfram Weimer gar nicht. Ich war auch noch nie bei seinem legendenumwaberten Polit-Wirtschaftsgipfel am Tegernsee. Aber wir haben als Kollegen immer ein sehr anständiges, von gegenseitigem Respekt getragenes Verhältnis gehabt. Und aus dieser Kenntnis heraus kann ich sagen: Ja, Wolfram Weimer ist ein Konservativer. Das ist aber weder verboten noch strafbewehrt, soweit ich weiß. Und etwas kann man noch hinzufügen: Er hat diesen politischen Ort, jawohl. Aber schätzt und respektiert auch und gerade andere Standpunkte. Das hat er jenen voraus, die über ihn pesten und teufeln. Er ist im Unterschied zu ihnen ein Liberaler, ein Mann, der das Plurale hochhält. Die erste Titelgeschichte von "Cicero", die Premiere des Magazins, hatte er einem Autor namens Gerhard Schröder überlassen, mitsamt einem beinahe hagiografischen Cover des damals angehenden SPD-Kanzlers, gemalt vom Kanzlerfreund Jörg Immendorf.

Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!"
Dieser regelrechte Hass, diese fast physische Abwehrreaktion dieses Milieus schlägt auch dem Kanzler selbst entgegen. Er entfacht angeblich wieder das fossile Feuer in diesem Land, alle Länder um uns herum überholen uns bald bei den regenerativen Energien, wahrscheinlich, denkt man beim Zuhören, schickt ihm sein Innenminister Alexander Dobrindt jeden Morgen erst einmal zwei frisch abgewiesene Asylbewerber zur persönlichen Misshandlung. Der Rohrstock wird wieder als Lehrmittel an den Schulen eingeführt. Überhaupt: Reaktionäre Umtriebe, wohin man schaut.
Woher kommt diese allergische Reaktion auf dieser Seite des politischen Spektrums auf Friedrich Merz und Protagonisten seiner Regierung? Darüber habe ich lange nachgedacht. Weil diese Reaktion so unverhältnismäßig ist. Oder man sie jedenfalls so empfinden kann.
Hier eine Antwort als Angebot: Weil in diesem Land seit 26 Jahren Rot-Grün regiert hat. Und große Teile des politisch interessierten Publikums das demnach als den unveränderlichen Naturzustand begriffen haben.
Mehr als ein Vierteljahrhundert
26 Jahre? Ist er jetzt endgültig verrückt geworden? Okay, da kann man erst mal stutzen. Die Rechnung dazu geht so: nach 16 Jahren Helmut Kohl hatte 1998 Gerhard Schröder mit einem tatsächlichen Rot-Grün für sieben Jahre regiert. Daraufhin folgten 16 Jahre Angela Merkel, dem Namen nach natürlich kein Rot-Grün, aber die Kanzlerin verströmte dennoch zeit ihres politischen Lebens etwas sehr Grünes. Sie segelte so gesehen unter falscher Flagge. Diese false flag kam gerade im linksliberalen Spektrum ausgesprochen gut an. Gerade beim polit-publizistischen Kommentariat aus diesem Spektrum wurde Merkel dafür nachgerade verehrt und wird das dort teilweise bis heute. (Aus Gründen, die sich bei Lichte betrachtet nicht recht erschließen, wenn man sich den Zustand des Landes anschaut, das sie nach ihrer Kanzlerschaft hinterlassen hat, aber sei‘s drum.) Dann folgten bekanntlich drei Jahre Ampel, die zum Verdruss (und richtig wahrgenommen) von FDP-Chef Christian Lindner im Kern ein Rot-Grün mit liberalem Stützrädchen war.
Und nun ist 26 Jahre nach Helmut Kohl (das Befreiungsgefühl war seinerzeit ebenso groß wie der Horror vor Merz heute) einer ins Kanzleramt gekommen, der tatsächlich konservativ grundiert ist. Das ist etwas, das mehr als die Hälfte der Wahlbevölkerung als legitim bis wünschenswert erachtet, jene Hälfte, die in ihrem Frust und ihrer Verbitterung leider sogar bei der AfD politisch Zuflucht gesucht hat. Während das linksgrün aufgeklärte Milieu es seinerseits wie eine Kampfansage begreift und dabei in seinem Widerwillen jedes Maß vermissen lässt.
Etwas mehr innere Liberalität wäre wünschenswert und geboten. Franz Müntefering, der große alte Mann der modernen Sozialdemokratie, hat einmal gesagt, in Deutschland sei es seit jeher so gewesen: Mal sind die einen dran, dann wieder die anderen. Und auch wenn man sich im Wahlkampf hart attackiert, so ist doch der Grundkonsens da, dass das Land in den Händen der anderen auch nicht untergeht.
Bitte verbal abrüsten
Es wäre gut, wenn diesem Politikverständnis wieder mehr Raum gegeben würde. Alles andere macht nur die Ränder stark. In den Ländern um Deutschland herum sind die gewachsenen, traditionellen konservativen Parteien schon verschwunden und durch schwierige, deutlich rechtsnationaler ausgerichtete Parteien ersetzt worden. Hierzulande kann das noch verhindert werden. Indem die Union und die Sozialdemokraten wieder beide zu Kräften kommen. Ein Land mit einer vernünftigen Balance in der politischen Mitte: Das müsste doch auch jenen am Herzen liegen, die jetzt so allergisch auf Merz und seine Böhsen Onkelz reagieren.
Deshalb der Appell, oder ein dringender Wunsch: Bitte verbal etwas abrüsten und die stille Übereinkunft teilen: Das Land geht nicht unter, wenn es nach bald einem Vierteljahrhundert wieder einmal von den Konservativen geführt wird. Und dann sind irgendwann ja auch mal wieder die anderen dran. Sonst nämlich kommen die ganz Falschen an die Macht. Die, in deren Händen das Land ganz sicher nicht gut aufgehoben ist.
- Eigene Überlegungen