Corona-Chaos in Ischgl Dieser Prozess könnte Kanzler Kurz gefährlich werden
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Für den Corona-Ausbruch in Ischgl will politisch niemand die Verantwortung übernehmen. Doch nun beginnt ein erster Prozess, der auch Kanzler Kurz betreffen könnte. Es ist wohl erst der Anfang.
Sollen sie, oder sollen sie nicht? Am 12. März 2020 sitzen Hans-Harald Lippisch und seine Partnerin am Flughafen Hannover und warten auf das Boarding für den Flug nach München, als den Unternehmer die Nachricht eines Freundes erreicht: Ischgl wird dichtgemacht wegen Corona. Von München aus will das Paar per Mietwagen für ein paar Tage ins Aprés-Ski-Eldorado in den Tiroler Alpen reisen – jetzt zögern sie. Lippisch ruft im Hotel in Kappl an, sieben Kilometer von Ischgl entfernt, die Rezeption gibt Entwarnung: Hier läuft alles weiter.
Einen Tag später, am Freitag, den 13. März, bricht in und um Ischgl das Chaos aus. Lippisch und seine Partnerin fahren wie Tausende andere Touristen oben am Berg Ski, als das Hotel eine Mail aufs Handy schickt: Sofort runterkommen, das Tal wird abgeriegelt. Just in diesem Moment fallen die Seilbahnen aus, eine Betriebsstörung. Unten flüchten schon die ersten Touristen und Saisonarbeiter aus dem Dorf – und nehmen das Virus mit nach Hause. Wie Recherchen von t-online wenig später belegen, wird Ischgl zur Virus-Drehscheibe Europas. Auch Lippisch und seine Frau werden erkranken, insgesamt lassen sich mehr als zehntausend Covid-Fälle auf Ischgl zurückführen. Der Ballermann der Alpen wird zum Ground Zero der Pandemie.
Wer die Verantwortung trägt, darum wird im Prinzip seit dem 14. März 2020 gestritten. Eine Untersuchungskommission entdeckte Fehler auf allen Ebenen, vom Amtsarzt bis ins Bundeskanzleramt – nur geradestehen wollte dafür bislang niemand.
Ab Freitag sprechen nun die Richter: Mit der ersten Amtshaftungsklage tritt die juristische Aufarbeitung in die entscheidende Phase ein. Es soll ein Musterprozess werden, dem Hunderte weitere folgen könnten, es geht um Millionensummen. Und indirekt auch um die politische Verantwortung: In der Anklageschrift tauchen prominente Namen auf, darunter auch Bundeskanzler Sebastian Kurz.
Verbraucherschützer drohen mit Sammelklage
Am Freitag wird zunächst der Fall des bekannten österreichischen Journalisten Hannes Schopf verhandelt. Der 72-Jährige hatte sich im März 2020 in Ischgl mit Corona infiziert, "infolge des katastrophalen Missmanagements der zuständigen Behörden", wie es in der Anklageschrift heißt. Schopf verstarb am 10. April, seine Witwe und der gemeinsame Sohn verlangen insgesamt fast 100.000 Euro Schadensersatz von der Republik Österreich.
Mitverantwortlich seien der Bundeskanzler, Innenminister Karl Nehammer und der damalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober – die Anklage hofft, dass sie alle in den Zeugenstand beordert werden. Rund 6.000 Geschädigte aus aller Welt haben den österreichischen Verbraucherschutzverband VSV kontaktiert, mehr als die Hälfte davon aus Deutschland. Peter Kolba, Chef des VSV, strebt eine Sammelklage an. Derzeit werden die Verfahren noch einzeln behandelt, rund einhundert könnten in den nächsten Wochen beginnen.
Vor Gericht sind derzeit 15 Klagen eingegangen, darunter auch die von Hans-Harald Lippisch.
Der Unternehmer aus Laatzen und seine Freundin schlagen sich am 13. März zu Fuß Richtung Hotel durch, die Ski stellen sie einfach an einem Supermarkt ab. Eine Kellnerin nimmt sie schließlich im Auto mit zum Hotel, kurz vor 18 Uhr checken die beiden aus, setzen sich in ihren Mietwagen – und stehen sofort im Stau. Zehn Stunden brauchen sie für die 20 Kilometer aus dem Tal heraus. Im Radio hören sie, dass Polizisten die Abreise kontrollieren. Lippisch lacht: "Am Ende kamen zwei Polizisten mit Maske, haben uns zwei Mars-Riegel und zwei Flaschen Wasser ins Auto geschmissen, und das war's."
Zu Hause in Laatzen bei Hannover geht Lippisch vorsichtshalber erst einmal nicht in seine Firma, ein Glücksfall: In der Woche nach seiner Rückkehr wird der heute 60-Jährige krank und positiv auf Corona getestet. Erst zu Ostern kann er seine Arbeit wieder aufnehmen. "Das Hotel hätte uns doch sagen müssen, dass wir gar nicht mehr kommen sollen", sagt Lippisch. Er hat sich den Klagen des VSV angeschlossen und verlangt nun von der Republik Österreich Verdienstausfall, Schmerzensgeld und Entschädigung für die entstandenen Mehrkosten.
Kanzler Kurz handelte ohne Zuständigkeit
Im sogenannten "Rohrer"-Bericht ist der Freitag, der 13., auf 287 Seiten dokumentiert. Die Untersuchungskommission befragte Augenzeugen und Politiker, und auch wenn sie keine Bewertung trifft, lässt sich festhalten: Die lokalen Behörden haben trotz dringender Warnungen viel zu lange abgewartet, die mächtige Seilbahner-Lobby noch viel zu lange nur ans Geschäft gedacht, die Landespolitik gezögert – und auch die Bundesebene war wenig hilfreich, um es vorsichtig zu formulieren.
Wenn es um die Frage geht, wer das Abreisechaos ausgelöst hat, in dem sich das Virus in dichtgepackten Gondeln und Bussen weiter verteilen konnte, lautet die Antwort im Bericht immer wieder: die Pressekonferenz des Bundeskanzlers.
Um 14 Uhr trat Sebastian Kurz vor die Medien und verkündet die Quarantäne über St. Anton und das Paznauntal – "ohne unmittelbare Zuständigkeit, überraschend und ohne Bedachtnahme auf die notwendige substantielle Vorbereitung", wie es im Bericht heißt. Der Bundeskanzler habe damit "eine sinnvolle epidemiologische Kontrolle behindert". Bis heute hat Kurz den Fehler nicht eingestanden, auf eine Anfrage von t-online zu seiner folgenreichen Entscheidung reagierte das Kanzleramt nicht.
Laut "Profil" hat sogar Landeshauptmann und ÖVP-Parteifreund Günther Platter den Kanzler in einer Zeugenaussage belastet. Die Staatsanwaltschaft Innsbruck ermittelt gegen fünf Lokalpolitiker wegen "fahrlässiger Verbreitung einer übertragbaren Krankheit", in Platters Vernehmung soll er die Verantwortung auf Sebastian Kurz geschoben haben. Der Kanzler gab auch dazu keine Stellungnahme ab. "Ein verschämtes Pingpong" zwischen Landeshauptmann und Bundeskanzler, so nennt es der Innsbrucker Politberater Peter Plaikner. "Man versucht eigentlich, das Thema aus den Schlagzeilen zu bringen", sagte er t-online.
"Alles richtig gemacht"
Wegducken, abstreiten, herunterspielen: Das war von Anfang an der Dreiklang in der Krisenkommunikation um Ischgl. Legendärer Höhepunkt war ein Interview des Tiroler Gesundheitslandesrates Bernhard Tilg (ÖVP) in der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes, der ZiB2. Ganze elf Mal brachte Tilg dabei einen Spruch unter, der es in Österreich zu einem geflügelten Wort gebracht hat: "Die Behörden haben alles richtig gemacht." In seiner Erzählung waren die Tiroler Opfer – erst einer unbeherrschbaren Ausnahmesituation, dann einer unfairen Öffentlichkeit.
Selbst als die Touristiker in Ischgl schon leise Fehler einräumten und an Sicherheitskonzepten tüftelten, bediente die mächtige Tiroler Seilbahnlobby noch den Mythos. Als der Bund im Februar 2021 wegen steigender Zahlen in Tirol eine Reisewarnung für das Bundesland aussprach, spottete Seilbahner-Chef Franz Hörl über den "Rülpser aus Wien", Wirtschaftslobbyist Christoph Walser drohte: "Wenn auch nur ansatzweise was aus Wien kommt, werden die uns so richtig kennenlernen."
"Dieser rustikale Stil war lange typisch Tirol", sagt Politberater Peter Plaikner. "Teilweise wird er immer noch gepflegt – ohne zu erkennen, dass es die falsche Tonalität ist für Krisensituationen und man sich damit eher lächerlich macht." Im Auftreten der Touristiker sieht er "beinhartes Lobbying" für eine Branche, die in Tirol jeden dritten Euro verdient und wichtiger – und mächtiger – ist als die Automobilindustrie in Deutschland.
Zähe Prozesse statt Runder Tisch
In Wien wird am Freitag höchstwahrscheinlich erst einmal eine Grundsatzfrage geklärt: Ist die Republik überhaupt haftbar zu machen für die Infektionen von Tausenden Skitouristen? Und kann es wirklich eine Sammelklage geben? Die Fälle seien letztlich "schwer vergleichbar", erklärt Gerichtssprecherin Dr. Beatrix Engelmann im Gespräch mit t-online – der eine sei gerade erst angereist, die andere schon länger in Ischgl gewesen. Einer schwer erkrankt, der nächste nur leicht.
Der Verbraucherschutzverein wollte die Causa Ischgl ohnehin ganz anders lösen: In einem offenen Brief an den Bundeskanzler schlug VSV-Chef Peter Kolba einen runden Tisch vor, um eine jahrelang andauernde Prozesswelle zu vermeiden. Mit einer ähnlichen Konstruktion konnten zum Beispiel die Hinterbliebenen der 155 Todesopfer beim Brand der Gletscherbahn in Kaprun im Jahr 2000 entschädigt werden, damals flossen 13,9 Millionen Euro. Doch die Hoffnung auf eine außergerichtliche Lösung für Ischgl, sie scheint dahin: "Den Brief habe ich jetzt vor einem Jahr geschrieben", sagt Kolba. "Keine Reaktion."
- Gespräch mit Hans-Harald Lippisch, Unternehmer und Kläger gegen die Republik Österreich in der Causa Ischgl
- Gespräch mit Peter Plaikner, Medien- und Politikberater aus Tirol
- Gespräch mit Peter Kolba, Obmann des Österreichischen Verbraucherschutzvereins VSV
- Gespräch mit Dr. Beatrix Engelmann, Mediensprecherin des Wiener Landesgerichtes für Zivilrechtssachen
- Bericht der unabhängigen Expertenkommission "Management Covid-19-Pandemie Tirol" ("Rohrer-Bericht")
- Offener Brief des VSV an Bundeskanzler Sebastian Kurz
- Profil: "Landeshauptmann Platter beschuldigt Kurz in Causa Ischgl" (vom 3.8.21)