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Union und SPD: Haben Merz und Klingbeil sich das genau überlegt?


Tagesanbruch
Haben sie sich das genau überlegt?

  • Daniel Mützel
MeinungVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 05.05.2025 - 08:42 UhrLesedauer: 7 Min.
SPD-Co-Parteichefin Saskia Esken.Vergrößern des Bildes
Von ihrem Co-Vorsitzenden Klingbeil nicht in der Regierung erwünscht: SPD-Chefin Saskia Esken. (Quelle: Matthias Bein/dpa/dpa-bilder)
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Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,

es ist so weit: In Deutschland vollzieht sich der lang erwartete Machtwechsel. In den nächsten Stunden und Tagen werden die protokollarischen Weichen für die künftige Regierungstruppe gestellt:

  • am Montagmorgen die Vorstellung der SPD-Ministerinnen und -Minister,
  • um 12 Uhr erfolgt die Unterzeichnung des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD,
  • am Dienstag findet die Kanzlerwahl statt,
  • sowie die Ernennung durch den Bundespräsidenten,
  • und die Vereidigung von Kanzler und Kabinett im Bundestag,
  • schließlich am Dienstag um 15 Uhr die Machtübergabe von Olaf Scholz an seinen Nachfolger Friedrich Merz im Bundeskanzleramt. Der CDU-Chef wird anschließend das große Kanzlerbüro im siebten Stock des Dienstsitzes beziehen.

Damit endet die lähmende Zwischenphase, die im Herbst 2024 mit dem Bruch der Ampelkoalition begann. Ein halbes Jahr lang befand sich die Republik in einem Zustand politischer Schockstarre: Während sich die Wirtschaftskrise zuspitzte und globale Konflikte eskalierten, gönnte sich Europas größte Volkswirtschaft eine politische Atempause.

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Die Menschen in Deutschland erlebten einen Wahlkampf, der streckenweise wie eine Karikatur wirkte, und Kanzlerkandidaten, die als politisch Amputierte an den Start gingen und wie erwartet vom Wähler abgestraft wurden. Das Resultat: Die AfD erlebte nach dem Scheitern der Ampel ihr zweites Konjunkturprogramm. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die unermüdlichen Demoskopen die Rechtspartei zur neuen Umfragekönigin erklärten.

Dass der gefühlte Ausnahmezustand der letzten Monate endet, bedeutet jedoch keineswegs, dass nun Ruhe einkehrt in den politischen Betrieb – so sehr man das allen Beteiligten wünschen würde. Auch die Bürgerinnen und Bürger hätten eine Phase der Ruhe verdient: frei von Dauerzoff, unerfüllbaren Versprechen und unnötiger politischer Schärfe.

Der Politikbetrieb kann im Modus der Dauererregung eigentlich nur Enttäuschung produzieren. Man kann den zwei Hauptprotagonisten von Schwarz-Rot, dem designierten Kanzler Friedrich Merz (CDU) und seinem Vize Lars Klingbeil (SPD), daher nur gratulieren, dass sie den Fehler der Ampel nicht wiederholen wollen: Denn die war ihrer eigenen Erzählung von der "Fortschrittskoalition" auf den Leim gegangen.

Union und SPD verzichten sogar ganz auf eine Erzählung. Die schwarz-rote "Vernunftskoalition" setzt auf Pragmatismus pur und die Politik des Möglichen. Das Lametta bleibt im Schrank, von Aufbruchseuphorie ist nichts zu spüren. Selbst der "Politikwechsel", den die CDU im Wahlkampf versprochen hatte, scheint mittlerweile zu groß gedacht. Stattdessen gibt es auf Pressekonferenzen lange Gesichter (mit Ausnahme von Markus Söder) und noch längere Problembewältigungslisten.

"Das ist jetzt nicht die Zeit für Euphorie", lautet folgerichtig das Motto des schwarz-roten Oberkommandierenden und thought leader der künftigen Bundesregierung, Joachim-Friedrich Merz.

Und doch: So verständlich es ist, mit einer gewissen Demut an die monumentalen Aufgaben der nächsten vier Jahre heranzugehen – so ganz risikofrei ist es nicht. Dass Gesellschaften in Zeiten großer Erschütterungen verstärkt nach Halt und Orientierung suchen, ist eine Binse. Dass die Welt im Umbruch ist – Ukraine-Krieg, Trump, Chinas Aufstieg, Klimakrise –, weiß jeder, der alle paar Wochen eine Zeitung aufschlägt.

Eine Regierung, die sich als reine Problemlösertruppe versteht, aber keine sinnstiftende Erzählung bietet, hinterlässt jedoch ein Vakuum, das andere bereitwillig füllen. Weltweit sind rechte Parteien vor allem dort erfolgreich, wo sie nicht nur vermeintliche oder tatsächliche gesellschaftliche Missstände anprangern, sondern diese auch zu identitätspolitischen Konflikten aufladen.

Niemand hat das besser verstanden als Donald Trump. Der US-Präsident hat seinen treuesten Anhängern erfolgreich eingetrichtert, dass die andere Seite ihre Lebensweise vernichten will und nur er, Trump, sie retten könne. Eine Taktik, so perfide wie klug: Wer glaubt, die eigene Existenz zu verteidigen, kann auf Fakten und Verfassungstreue keine Rücksicht mehr nehmen.

In den USA lässt sich beobachten, welche Akteure den politischen Raum kapern, wenn die demokratische Mitte symbolisch entkernt ist, ihre sinnstiftenden Ressourcen aufgebraucht sind oder sie keine attraktive Erzählung mehr anzubieten hat, die über die Lösung von Einzelproblemen hinausgeht. Frei nach Tocotronic: Pure Vernunft kann niemals siegen. Nicht in diesen aufgeheizten Zeiten.

Noch ist die AfD ein ganzes Stück davon entfernt, ein Millionenheer gutgläubiger Anhänger hinter sich zu scharen, das der offenen Zerschlagung des Systems begeistert zujubelt. Aber die schwarz-roten Koalitionäre werden damit rechnen müssen, dass die radikalisierte Weidel-Truppe alles daran setzen wird, schwarz-rote Erfolge zu zerreden und weiter am Fundament dieser Republik zu sägen.

So charmant-einfach die Idee auch klingt: Doch "gutes Regieren" alleine reicht selten, um politische Legitimität herzustellen oder verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Der Kampf um die Hearts and Minds darf nicht alleine der Opposition überlassen werden – auch die demokratische Mitte muss ihn aktiv führen. Man muss sein Produkt nicht gleich als Lebensentwurf verkaufen, wie es heutzutage jede zweite Schuh- oder Autowerbung tut. Aber ein bisschen Lametta, Zuversicht und – ja – Selbstvertrauen in die eigene Arbeit könnten auch der nächsten Regierung nicht schaden.


Wer wird SPD-Minister?

Die Sozialdemokraten haben sich Zeit gelassen. Eine Woche später als CDU und CSU präsentiert die SPD ihr Regierungsteam. Am Montagmorgen informiert die SPD-Spitze zunächst die Parteigremien, anschließend auch die Öffentlichkeit. Es geht um sieben Kabinettsposten und zwei Staatsministerämter (Ostbeauftragter und Integrationsbeauftragte). Aus Klingbeils Umfeld heißt es, der Parteivorsitzende setze bei der Besetzung vor allem auf "neue Gesichter der Sozialdemokratie", die zugleich mehrheitsfähig seien und die Fleißigen im Land repräsentierten.

Drei Personalien galten schon in der vergangenen Woche als gesetzt: SPD-Chef Lars Klingbeil wird Finanzminister und Vizekanzler, Boris Pistorius bleibt Verteidigungsminister, Bärbel Bas wird Arbeits- und Sozialministerin.

Auch für die vier weiteren Ressorts ist die Entscheidung nun gefallen:

  • Neuer Umweltminister wird der bisherige Ostbeauftragte Carsten Schneider (49 Jahre)
  • Überraschung im Bauministerium: Die Nachfolgerin von Klara Geywitz wird Verena Hubertz. Die 37-jährige Unternehmerin aus Rheinland-Pfalz ist seit 2021 im Bundestag, leitete dort als stellvertretende Vorsitzende die Fraktion der Sozialdemokraten.
  • Neue Justizministerin wird die Rechtswissenschaftlerin und derzeitige Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz, Stefanie Hubig (56).
  • Um das Entwicklungsministerium war in den vergangenen Tagen Streit ausgebrochen. Zwar verwaltet das BMZ einen vergleichsweise kleinen Etat (elf Milliarden) und steht in der politischen Nahrungskette im unteren Drittel. Aber die Bundesbehörde mit Hauptsitz in Bonn wurde offenbar zum Zankapfel zwischen zwei mächtigen Sozialdemokratinnen: Wie die "Bild" berichtete, wollte Parteichefin Saskia Esken die bisherige Ministerin Svenja Schulze aus ihrem Amt drängen, um es selbst zu übernehmen. So zumindest die Version, die Schulze SPD-Kollegen erzählt haben soll. Die Esken-Seite bestreitet das.
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Die Personalie Esken hat vor allem in den vergangenen Wochen die Sozialdemokraten gespalten. Aus der zweiten und dritten Reihe der SPD wurde Esken regelrecht zum Abschuss freigegeben, einzelne forderten offen ihren Rücktritt. Sogar ihr Heimatverband Baden-Württemberg ließ Esken fallen und nominierte sie nicht mehr für den Parteivorsitz.

Auch die SPD-Spitze hielt sich auffallend zurück mit Solidaritätsadressen für die schikanierte Parteifreundin. Zwar nannte Klingbeil die parteiinterne Demontage "beschämend", aber auch er nannte kein einziges Argument dafür, was er an Esken schätzt und ob er sie weiterhin für einen Topposten geeignet hält.

Aber Esken hat nicht nur starke Nerven, sondern noch immer Unterstützer in der SPD. "Wenn Saskia Esken kein Ministeramt bekommt, wird der Shitstorm in der SPD größer, als wenn sie eines bekommt", prophezeite ein führender Sozialdemokrat am Wochenende.

Dieser parteiinterne Shitstorm könnte sich nun einstellen. Denn wie nun bekannt wurde, wird Esken kein Ministeramt in der künftigen schwarz-roten Regierung erhalten. Auch die bisherige Ministerin Schulze muss gehen. Stattdessen wird die 35-jährige Reem Alabali-Radovan das Entwicklungsministerium übernehmen, wie die SPD am Montagmorgen bekannt gab.

Alabali-Radovan gilt in der Sozialdemokratie als Hoffnungsträgerin. Sie hatte sich in der Ampel-Regierung schon als Integrationsbeauftragte einen Namen gemacht. Ihren Posten übernimmt nun die in Russland geborene Nathalie Pawlik (32), ebenfalls SPD. Und auch das zweite SPD-Staatsministeramt wird weiblich besetzt: Die neue Ostbeauftragte der Bundesregierung wird die 38-jährige SPD-Bundestagsabgeordnete Elisabeth Kaiser.

Neben den Kabinettsmitgliedern stellt Klingbeil die Spitze der Fraktion neu auf. Der nächste Fraktionschef heißt Matthias Miersch, bislang Generalsekretär, wie t-online aus Parteikreisen erfuhr. Hubertus Heil geht somit leer aus. Und auch der Parteivorsitz soll neu aufgestellt werden: Klingbeil, der weiter Parteichef bleiben will, hat womöglich schon eine Nachfolgerin für Esken als Co-Vorsitzende im Auge. Wie es in der SPD heißt, könnte es auf die künftige Arbeitsministerin Bärbel Bas hinauslaufen.

Die künftigen SPD-Chefs hätten damit beide Regierungsämter. Ein Malus? "Ja", sagt ein Spitzengenosse hinter vorgehaltener Hand. Der Antrieb, die Partei nach ihrer Serie an Wahlniederlagen grundlegend zu erneuern, könnte dadurch gebremst werden, so der Genosse. "Aber irgendwas ist immer."


Was steht an?

Hefte raus, Klassenarbeit: Um 12 Uhr unterzeichnen die Spitzen der Koalitionsparteien CDU, SPD und CSU feierlich den Koalitionsvertrag. Das 144-seitige Dokument ist der Grundstein der Regierungsarbeit für die nächsten vier Jahre. Ort der Unterzeichnung ist der Gasometer in Berlin-Schöneberg.


Goodbye Olaf: Mit den Beatles, Bach und dem Soul-Klassiker "Respect" von Otis Redding wird Olaf Scholz am Montagabend bei einem großen Zapfenstreich der Bundeswehr als Bundeskanzler verabschiedet. Ein passender Musikwunsch: "Respekt" hieß Scholz' Wahlkampfslogan im Jahr 2021, mit dem er Kanzler wurde. Mit der Militärzeremonie nach Sonnenuntergang (21 Uhr) im Fackelschein werden vor dem Verteidigungsministerium in Berlin traditionell alle Kanzler, Bundespräsidenten, Verteidigungsminister und hochrangige Militärs bei ihrem Ausscheiden geehrt.


Lesetipps

Wie kam es zum Zivilisationsbruch des Holocaust? Bis heute gehen Historiker dieser Schlüsselfrage nach. Finden sich in Aussagen eines ranghohen SS-Mörders aus dem Jahr 1977 Hinweise dazu? Mein Kollege Marc von Lüpke hat nachgeforscht.


Selten musste ein Kanzler mit so vielen Bällen jonglieren wie Friedrich Merz, in der Innen- wie Außenpolitik. Er muss darauf hoffen, dass die Konjunktur in eine Wachstumsperiode übergeht wie damals bei Angela Merkel, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl.


Russland steigert seine Militäraktivitäten entlang der Nato-Ostflanke. Gleichzeitig stellt der Kreml seine Truppen nahe der finnischen Grenze neu auf. Was es damit auf sich haben könnte, erklärt der Militärexperte Emil Kastehelmi meinem Kollegen Simon Cleven.


In Rumänien liegt der 38-jährige George Simion bei den Präsidentschaftswahlen in Führung. Warum der Rechtsextremist und Trump-Fan zum Problem nicht nur für die Europäische Union, sondern auch für die Nato werden könnte, lesen Sie hier.


Ich wünsche Ihnen einen schönen Start in die Woche.

Ihr Daniel Mützel
Reporter im Hauptstadtbüro
Twitter: @DanielMuetzel

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Mit Material von dpa.

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