Militär gegen Regierung Jetzt begehrt sein wichtigster General auf

Premier Netanjahu drängt auf eine vollständige Einnahme Gazas. Doch ausgerechnet sein Armeechef warnt: Der Preis dafür wäre zu hoch – für Israels Soldaten, die Geiseln und das ganze Land.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat sich durchgesetzt – zumindest vorerst. Nach wochenlangen internen Debatten hat das israelische Sicherheitskabinett einem Plan zur Einnahme der Stadt Gaza zugestimmt. Der Beschluss markiert einen Wendepunkt im fast zweijährigen Gaza-Krieg, der durch den brutalen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst wurde.
Doch hinter den Kulissen tobt ein offener Machtkampf: Zwischen Regierung und Militärführung ist ein tiefer Graben entstanden – über Strategie, Verantwortung und die Frage, wie viele Menschenleben Israel zu riskieren bereit ist.
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"Die Besetzung des Gazastreifens würde Israel in ein schwarzes Loch ziehen – mit der Verantwortung für zwei Millionen Palästinenser, einem jahrelangen Säuberungseinsatz, der Gefahr von Guerillakrieg und – am gefährlichsten – einer Bedrohung für die Geiseln." Mit diesen Worten soll Generalstabschef der Israelischen Streitkräfte (IDF) Eyal Zamir in einer Kabinettssitzung vor Netanjahus Plänen gewarnt haben. Ein Satz, der die ganze Tiefe des Zerwürfnisses zwischen Militär und Regierung offenlegt.
Tausende protestieren gegen Netanjahus Kurs
Zamir ist nicht allein mit seiner Sorge. Auch Familien der noch immer in Gaza festgehaltenen Geiseln protestieren offen gegen Netanjahus Konfrontationskurs. "Wer von einem umfassenden Abkommen spricht, marschiert nicht in den Gazastreifen ein und bringt Geiseln und Soldaten in Gefahr", sagte Einav Zangauker, deren Sohn Matan seit dem Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 in der Gewalt der Terroristen ist.
Tausende Israelis gingen am Donnerstag erneut gegen die Pläne der Regierung auf die Straße. Oppositionsführer Jair Lapid der liberalen Partei Jesch Atid warnt, der geplante Vormarsch in Gaza werde "dazu führen, dass alle Geiseln sterben".
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Trotzdem hält der Premier an seinem Kurs fest – unterstützt von ultrarechten Ministern wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, die ein kompromissloses Vorgehen gegen Hamas fordern. Die Entscheidung des Sicherheitskabinetts beinhaltet fünf Prinzipien: darunter die militärische Kontrolle über Gaza, die vollständige Entwaffnung der Hamas und der Aufbau einer neuen Zivilverwaltung. Wer diese kontrollieren soll, bleibt unklar. Netanjahu selbst erklärte in einem Interview mit Fox News, Israel wolle das Gebiet nicht dauerhaft besetzen, sondern an "arabische Kräfte" übergeben, "die es verantwortungsvoll verwalten" sollen.
Doch in der israelischen Armee wächst der Widerstand. Zamir machte deutlich, dass er seine Einschätzungen weiter offen äußern werde. Eine Kultur der Meinungsverschiedenheit sei "ein untrennbarer Teil der Geschichte des Volkes Israel" sowie "ein wesentlicher Bestandteil der Organisationskultur der israelischen Streitkräfte", sagte Zamir. "Wir werden unsere Positionen weiterhin ohne Angst, sachlich, unabhängig und professionell vertreten."
Berichten zufolge war das Verhältnis zwischen Netanjahu und seinem General in den vergangenen Tagen so angespannt, dass der Premier ihm nahelegte, zurückzutreten – eine Drohung, die Zamir zurückwies. Die öffentliche Attacke von Netanjahus Sohn Yair, der dem General gar einen "versuchten Militärputsch" vorwarf und behauptete, er sei "durch und durch kriminell", verschärfte die Spannungen zusätzlich. Angeblich stritten sich Yair und der Ministerpräsident deswegen.
Verteidigungsminister Israel Katz verteidigte den IDF-Chef hingegen. Er sagte laut "Times of Israel": "Ich habe Eyal Zamir für das Amt empfohlen, und der Ministerpräsident und die Regierung haben meine Empfehlung gebilligt."
Kriegsziel als politisches Kalkül?
Offiziell geht es um das Ziel, die radikal-islamische Hamas zu zerschlagen und die verbliebenen 50 Geiseln zu befreien. 20 von ihnen sollen noch am Leben sein.
Doch Kritiker werfen Netanjahu vor, den Krieg strategisch zu verlängern – auch, um seine fragile rechtsreligiöse Koalition zusammenzuhalten. Die ursprünglichen Warnungen der IDF-Führung, ein Vormarsch nach Gaza-Stadt würde die Geiseln in akute Gefahr bringen, wurden offenbar ignoriert. Stattdessen setzt man auf militärischen Druck, auch als Verhandlungstaktik.
Tatsächlich scheint der Vorstoß zeitlich kalkuliert: Nach dem Scheitern monatelanger indirekter Gespräche mit der Hamas über eine Waffenruhe spekulieren israelische Medien, dass der neue Militäreinsatz die Islamisten an den Verhandlungstisch zwingen soll. Vermittler wie Ägypten und Katar stünden laut israelischem TV-Sender N12 bereits in engem Kontakt mit Hamas-Führern.
Ein Plan ohne "Tag danach"
Was der israelischen Führung jedoch weiterhin fehlt, ist ein klares Konzept für die Zeit nach dem Militäreinsatz. Wie soll Gaza ohne Hamas, aber auch ohne israelische Besatzung, regiert werden? Arabische Staaten lehnen Netanjahus Idee einer Übergangsverwaltung durch "arabische Kräfte" ab. Ein jordanischer Regierungsvertreter erklärte, nur legitime palästinensische Institutionen könnten die Verantwortung übernehmen – nicht von außen eingesetzte Verwalter.
Gleichzeitig warnt die internationale Gemeinschaft vor einer humanitären Katastrophe. UN-Diplomat Miroslav Jenca sprach von möglichen "katastrophalen Folgen für Millionen Palästinenser". Laut Satellitendaten seien bereits 70 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen zerstört oder schwer beschädigt, in Chan Junis und Rafah sogar bis zu 90 Prozent.
Hilfsorganisationen warnen vor einer akuten Hungersnot, die Lage sei "außer Kontrolle". Zwar hat Israel die Einfuhr von Hilfsgütern ausgeweitet. Viele Lieferungen erreichen die Bedürftigen aber nicht, sie werden von teils bewaffneten Gruppen in Gaza geplündert.
Der nächste Schritt ist ein politischer – oder ein fataler
Mit der Entscheidung zur Einnahme von Gaza-Stadt hat Netanjahu eine Schwelle überschritten. Doch ohne Rückhalt der eigenen Militärführung könnte der Plan nicht nur gefährlich, sondern unhaltbar werden. "Das, worauf Kabinett und Regierung zusteuern, wird dazu führen, dass alle Geiseln sterben", warnt Oppositionspolitiker Jair Lapid – und trifft einen wunden Punkt: Die moralische Legitimation dieses Krieges steht auf dem Spiel.
In Bezug auf den Plan der Hamas und Israels fügte Lapid hinzu: "Das ist genau das, was die Hamas wollte: dass Israel in dem Gebiet gefangen bleibt, ohne ein Ziel zu haben, ohne das Bild für den Tag danach zu definieren, in einer sinnlosen Besatzung, von der niemand versteht, wohin sie führt."
Die nächsten Tage werden zeigen, ob die militärische Eskalation zu neuen Verhandlungen führt – oder ob sich Israels Regierung in eine Sackgasse manövriert, aus der es kein Zurück mehr gibt.
- The Jerusalem Post: "'Exactly what Hamas wanted': Lapid, opposition slam Netanyahu's decision to occupy Gaza City" (englisch)
- Times of Israel: "IDF chief says dissent ‘vital,’ ahead of fateful meeting on Gaza occupation plan" (englisch)
- Jüdische Allgemeine: "Medien: Heftiger Streit zwischen Premier und Armeechef"
- ynetnews.com: "Full conquest of Gaza will jeopardize hostages, IDF chief tells Cabinet" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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