Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch So dringend war es noch nie

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
ein Loblied auf den Anstand: Das klingt irgendwie nach den Fünfzigerjahren. Nach Zucht und Ordnung, nach obrigkeitlicher Hygiene, nach der Wäscheleine deutscher Tugend. Pustekuchen! Im Jahr 2025 ist Anstand topaktuell, denn es braucht ihn dringender denn je – nicht nur im alltäglichen Umgang, nicht nur in der Politik und in der Wirtschaft. Auch im Journalismus.
Die Welt steht vielerorts in Flammen. Der Krieg in der Ukraine frisst Generationen, Mister Trump tobt wie eine Flipperkugel durch den Porzellanladen der Diplomatie, im Nahen Osten opfern Zyniker den letzten Rest Menschlichkeit auf dem Altar der Macht, und in Mitteleuropa verwandelt die Erderhitzung milde Gefilde in Glutöfen. Im spanischen El Granado ist gestern der 60 Jahre alte europäische Juni-Hitzerekord gebrochen worden: 46 Grad Celsius herrschten dort. Hierzulande werden diese Woche bis zu 39 Grad erwartet, vielerorts kühlt es nachts nicht mehr unter 20 Grad ab. Und Juli und August kommen erst noch. Die Welt wird wilder, heißer, anstrengender.
Mittendrin hetzen wir Journalisten von News zu News: rastlos, übermüdet, aufgerieben zwischen Reichweitendruck, Algorithmen-Automatisierung und Reputationsverlust. Wieder erlebt die Medienlandschaft einen Umbruch – aber diesmal vollzieht er sich viel schneller als jeder Wandel zuvor.
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Die Transformation von Print zu Online war ein Pipifax im Vergleich zu den Herausforderungen, denen Journalisten heute ausgesetzt sind. Krisenzermürbte Leser wenden sich massenhaft ab und geben den Nachrichtenkonsum auf. Digitalkonzerne reißen sich mit raffinierten Tricks die Werbebudgets unter den Nagel. Firmen und Politiker senden lieber Propaganda auf Social Media, als sich kritischen Interviews zu stellen. Künstliche Intelligenz übernimmt das Schreiben von Texten, Planen von Terminen, Redigieren von Reportagen. Man ist eher Realist als Pessimist, wenn man den Journalismus in seiner Existenz bedroht sieht. Aber es gibt Hoffnung für Medienschaffende und Mediennutzer. Sie manifestiert sich in einem Wort: Anstand.
Gerade jetzt braucht es aufrichtigen Journalismus mehr denn je. Ein Wertegerüst hilft dabei. Ins Heute transferiert, ist Anstand keine sittliche Resteverwertung des Bürgertums, sondern ein rebellischer Akt. Wer heute anständig berichtet, leistet Widerstand. Gegen den Algorithmus, der Leser in Filterblasen einsperrt. Gegen die Jagd auf "Breaking News", die längst gebrochen sind, bevor jemand sie versteht. Gegen die Scharfmacher, Schwarz-Weiß-Maler und Abonnentenjäger, die Wetterberichte in Thriller und politische Debatten in Schlachten verwandeln, die Menschen mit kleinen Geldbeuteln durch Bezahlschranken vom Informationsfluss abschneiden.
Anstand bedeutet nicht Kuscheljournalismus, nicht flauschige Meinungsneutralität im Wortschaumbad. Er bedeutet vielmehr radikale Nüchternheit, wo andere hyperventilieren. Präzision, wo die Versuchung zur Spekulation groß ist. Und Verantwortung – nicht nur für das, was man sagt, sondern auch für das, was man verschweigt. Anständige Journalisten verstehen sich als Dazwischenrufer, nicht als Lautsprecher. Als Erklärer, nicht als Evangelisten. Als Gesprächspartner der Leser, nicht als Angstmacher.
In einem Land, dessen politische Landschaft zentrifugal auseinanderstiebt, braucht es Medien, die sich nicht dem Extrem verschreiben – weder dem linksidentitären Oberlehrer noch dem rechtspopulistischen Empörungsblöker. Die alte, liberale Mitte ist kein modischer Ort. Aber ein dringend benötigter. Erst recht, weil sie unbequem und manchmal sogar gefährlich ist. Wer in der Mitte steht, wird von allen Seiten beschimpft – genau das ist das Gütesiegel des anständigen Journalismus.
Der anständige Journalismus ist der unmodische. Der sich auf seine Wurzeln besinnt. Der nicht gefallen will, sondern erklären. Der nicht missioniert, sondern informiert. Der Widerspruch nicht als Störung, sondern als Lebenszeichen der Demokratie begreift. Der neben dem Einerseits auch das Andererseits sucht.
"Anständig. Informiert": So lautet deshalb die neue Botschaft des Nachrichtenportals t-online, die ab heute bundesweit auf Plakatwänden und digitalen Videowänden erscheint. Ein Begriff, der beim ersten Hören wie das Werbemotto eines Knigge-Museums klingen mag – doch bei näherer Betrachtung eine topaktuelle Verortung definiert. Es geht um nichts Weniger als die Wiederherstellung eines gesellschaftlichen Konsenses: der Überzeugung, dass man mit Fakten nicht beliebig umgehen kann. Dass es etwas gibt, das über Klicks, Auflagen und Quoten hinausgeht. Und, dass Vertrauen sich nicht von Algorithmen herbei programmieren lässt, sondern tägliche Arbeit im Dienst der Aufrichtigkeit erfordert.
Diese Arbeit nehmen wir bei t-online sehr ernst. Wir scheuen keine Mühen, um Sie rund um die Uhr schnell, verlässlich und umfassend über alles zu informieren, was in der Welt, in Deutschland und im Regionalen geschieht. In klarer Sprache, die Unschärfe und Überheblichkeit möglichst vermeidet. Die jederzeit klar zwischen Textgattungen trennt: hier der Bericht, dort die Meinung. Wir verzichten auf die im deutschen Thesenjournalismus so beliebten "Features", die den Lesern im Federkleid der Analyse die allein seligmachende Meinung eines Journalisten unterjubeln. Wir vermeiden das verkappte Framing hinter vermeintlicher Objektivität. Wir entsagen dem "Man-wird-doch-noch-sagen-dürfen", das am Ende nur das Echo der eigenen Blase ist.
"Haltung" lautet das Lieblingswort deutscher Journalistenlehrer und auch vieler Chefredakteure. Doch allzu oft verschleiert es nur die eigene Dialogunfähigkeit. Wer "Haltung zeigen" will, meint nicht selten die Selbstgerechtigkeit in der Wohlfühlgemeinschaft. So kommt es, dass viele Journalisten AfD-Wähler lieber beschimpfen, anstatt sich mit diesen zu unterhalten und nach den Gründen ihrer Parteipräferenz zu fragen. Dass es viele Redakteure vorziehen, am wohltemperierten Schreibtisch Schmähkommentare gegen Flüchtlinge zu verfassen, statt sich in Afrika oder Arabien anzusehen, wie das Leben in Armut, Hitze und Terror wirklich ist.
Wahre Haltung zeigt sich nicht im Recht haben, sondern im Zweifel – wenn man berichtet, was einem selbst widerstrebt. Wenn man einen Skandal nicht mitmacht, obwohl er Klicks verspricht. Wenn man ein Zitat weglässt, das zwar saftig, aber sinnentstellt ist. Echte Haltung bedeutet: Auch dann sauber zu bleiben, wenn es keiner merkt. Anständige Journalisten sind nicht moralische Hochstapler – sie sind geduldige Realisten. Aufklärer in einer Welt der Dunkelmänner.
Wir alle in diesem Land sind umzingelt vom digitalen Unsinn. Deepfakes tanzen auf Bildschirmen, während Clowns im Anzug die Weltpolitik ruinieren. Trotzdem bleiben viel zu viele Demokraten passiv. Das ist riskant. Die Demokratie ist kein Naturzustand, sondern eine Dauerbaustelle. In diesem Sinne verstehen wir bei t-online uns als Bauarbeiter. In der enormen Reichweite unseres Portals sehen wir nicht nur ein Geschäftsmodell, sondern auch eine Verpflichtung: Wer Millionen Menschen informiert, darf sich keine Schlampigkeit leisten – weder orthografisch noch moralisch. Und sollte dabei dennoch die Lust bewahren: am Staunen, am Unerhörten, am Abseitigen, auch am Klatsch. Denn Zerstreuung ist kein Luxus, sondern eine Überlebensstrategie. In einer Welt, in der Typen wie Trump, Musk und Putin den Takt vorgeben, braucht es kleine Fluchten. Nur zurückkommen sollte man dann auch wieder, sonst machen die Ichlinge unbeobachtet, was sie wollen.
Der heutige Journalismus hat einen schweren Stand. Er soll informieren und aufklären, unterhalten und hinterfragen, verifizieren und inspirieren, Orientierung geben und dabei auch noch gut aussehen. Ein Pflichtenheft, dem nicht mal Superman gerecht würde. Kein Journalist ist unfehlbar, aber Journalisten, die zu ihren Fehlern stehen, sind glaubwürdig. So gesehen ist Anstand kein Relikt, sondern eine Entscheidung, die t-online von anderen Medien abgrenzt. Eine bewusst gewählte Transparenz, die verletzlich macht, und zugleich ein Bollwerk gegen den Unsinn. Ein Stoppschild für das allzu Laute, Billige, Kalkulierte. Und ein Vorfahrtsschild für mündige Leser.
Anständige Journalisten trauen ihrem Publikum etwas zu: die Wahrheit, auch wenn sie unbequem ist. Auch wenn sie im Plural daherkommt, denn jeder Mensch hat seine eigene Perspektive. Ambivalenz ist schwer auszuhalten. Wem es gelingt, der erfährt mehr über die Welt.
Dafür möchte ich Sie an diesem Montagmorgen gewinnen: Für die Erkenntnis, dass Anstand nicht nur eine Tugend ist. Er ist auch ein Werkzeug. Wer es gebraucht, verdient kein Schulterklopfen, aber Aufmerksamkeit. Und, mit etwas Glück, auch Vertrauen. In diesem Sinne freue ich mich, wenn Sie uns als Leserinnen und Leser von t-online in diesen wilden Zeiten die Treue halten.
Was steht an?
Machtkampf in der Türkei: Dreieinhalb Monate nach der Festnahme des führenden Oppositionspolitikers Ekrem Imamoğlu entscheidet ein Gericht in Ankara über die mögliche Absetzung des neuen Parteichefs der CHP. Die Richter könnten den 2023 abgehaltenen Kongress der Linksnationalisten, auf dem Özgür Özel gewählt wurde, für "absolut nichtig" erklären. In diesem Fall erwarten Beobachter eine Zerreißprobe in der wichtigsten Oppositionspartei.
Im spanischen Sevilla beginnt die vierte UN-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung. Dabei soll ein neuer globaler Finanzrahmen ausgehandelt werden, um die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen – etwa Armuts- und Hungerbekämpfung, Klimaschutz und Gesundheit – trotz Spardrucks zu erreichen.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius reist nach Dänemark. Die dänische Armee arbeitet mit der Bundeswehr eng bei der Überwachung des Ostseeraums der Nato zusammen. Zudem zählt die Regierung in Kopenhagen zu den entschlossensten militärischen Unterstützern der Ukraine.
Der Deutsche Wetterdienst veröffentlicht seine Bilanz für den Juni. Auch hierzulande könnte es einen neuen Hitzerekord geben.
Lesetipps
Seit drei Monaten ist Bundestagspräsidentin Julia Klöckner die mächtigste Frau in der deutschen Politik. Im Interview mit meinen Kolleginnen Annika Leister und Heike Vowinkel erklärt sie, was sie unter Anstand versteht.
Eine exklusive Studie für unsere Redaktion zeigt: Die Stimmung im Land ist schlecht – allerdings gilt das nicht für alle Gruppen gleichermaßen. Auch bei der Frage nach der Verantwortung der Medien und der Bedeutung von Anstand gibt es Unterschiede, berichtet mein Kollege Julian Fischer.
Kriege, Inflation, Migration: Viele Menschen fühlen sich angesichts der Nachrichtenlage ohnmächtig und überfordert. Warum das gefährlich ist und was trotzdem Hoffnung macht, erklärt der Sozialpsychologe Andreas Zick im Gespräch mit Heike Vowinkel und Philipp Michaelis.
Ohrenschmaus
Es ist der Tag der Freiluftkonzerte: Altpopper Robbie Williams heizt in Hannover ein, die Altrocker von AC/DC füllen das Berliner Olympiastadion. Ich habe mich entschieden (und nehme unvermeidliche Alterserscheinungen auf und vor der Bühne in Kauf).
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen ausreichend Abkühlung zum Wochenstart – und bedanke mich beim Tagesanbruch-Fanklub in Eschborn, wo ich mich gestern sehr wohlgefühlt habe. Morgen schreibt Ihnen unser Chefreporter Johannes Bebermeier.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.