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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sozialpsychologe warnt "In Krisenzeiten zersplittern Gesellschaften"

Kriege, Inflation, Migration – viele Menschen fühlen sich angesichts der Nachrichtenlage ohnmächtig und überfordert. Warum das gefährlich ist und was trotzdem Hoffnung macht, erklärt der Sozialpsychologe Andreas Zick.
Was hält die Gesellschaft zusammen, was treibt sie auseinander? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Andreas Zick seit vielen Jahren, führt dazu Erhebungen durch und sucht nach Erklärungen. Wer wissen will, wie es dem Land und seinen Menschen geht, sollte sich daher an den Bielefelder Sozialpsychologen wenden. Obwohl das Semester für den Hochschulprofessor noch läuft und sein Terminkalender gut gefüllt ist, nimmt er sich an einem Nachmittag Ende Juni viel Zeit für ein Gespräch über den emotionalen Zustand des Landes.
t-online: Herr Zick, ganz spontan: Was ist für Sie typisch deutsch?
Andreas Zick: Typisch deutsch sind sicher die Sprache und die Geschichte – aber auch der Umgang mit Regeln. Wir sind sehr ordnungsorientiert. Menschen mit Migrationsgeschichte sagen mir oft: Ihr Deutschen habt für alles ein Formular. Und: Ihr meckert viel, seid aber auch sehr leistungsorientiert – sogar in Sachen Integration. Der Drang, alles mit Zahlen und Fakten zu belegen, ist auch so ein typisch deutsches Merkmal.
Okay, wir fassen mal zusammen: Sprache, Geschichte und Ordnungs- und Zahlenliebe. Gibt es darüber hinaus auch Werte, die uns verbinden?
Studien zeigen: Soziale Beziehungen stehen bei uns sehr weit oben. Familie, Freundschaften, das Bedürfnis nach sozialem Zusammenhalt und Sicherheit – das spielt für viele eine große Rolle. Und gemeinsam etwas schaffen wollen. Das ist zwar nicht exklusiv deutsch, aber es hat in unserem Land eine kulturelle Prägung. Konsens ist zudem ein wichtiger Wert für uns, aber auch für unsere Demokratie. Sie basiert auf dem Prinzip des konstruktiven Interessensausgleichs und der Konfliktlösung.

Zur Person
Andreas Zick ist seit 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und seit 2008 Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Bielefeld. Seit 2019 ist er auch Sprecher für den Standort Bielefeld des Forschungsinstituts "Gesellschaftlicher Zusammenhalt". Er ist zudem Gründungsmitglied des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung. Seit 2014 kommt unter seiner Leitung alle zwei Jahre die "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung heraus, einer Erhebung zu rechtsextremen Einstellungen in der deutschen Gesellschaft.
Viele Menschen haben aktuell das Gefühl, dass diese Normen und Werte bröckeln.
Ja, das beobachten wir auch in unseren Studien. Besonders in Zeiten von Krisen wächst die Wahrnehmung, dass der Wertekonsens zerbricht. Es gibt tatsächlich eine zunehmende Distanzierung von zentralen demokratischen Normen – etwa der Anerkennung der Gleichheit und Würde aller Menschen. Viele Menschen sagen: Diese Werte kenne ich, aber sie sind nicht oder nicht mehr mein Anliegen. Es fehlt die Bereitschaft, sich aktiv für diese Normen einzusetzen.
Wie erklärt sich das?
Ein zentrales Stichwort ist: Überforderung. Wir leben in einer Zeit, in der sich globale Krisen überlappen – Corona, Inflation, Klimawandel, Kriege. Diese Krisen erreichen uns in Hochgeschwindigkeit und sind miteinander verknüpft. Viele Menschen erleben sich nicht mehr als handlungsfähig – sie verlieren ihre Selbstwirksamkeit.
Viele Menschen erleben sich nicht mehr als handlungsfähig
andreas Zick
Welche Folgen hat das?
Wenn Menschen das Gefühl haben, dass alles zu kompliziert wird, dass sie selbst nichts mehr ausrichten können, dann orientieren sie sich an denen, die einfache Antworten bieten und sie orientieren sich auf ihre unmittelbare Umgebung. Das haben wir ganz stark in der Corona-Zeit erlebt. Da haben sich Parallelgesellschaften herausgebildet, Menschen, die sich in ihre Milieus und Blasen in ihrer Region zurückgezogen haben. In Krisenzeiten zersplittern Gesellschaften.
Wie groß ist der Anteil der Politik an diesem Überforderungsgefühl?
Groß. Wenn Politik anfängt, sich in Krisenzeiten gegenseitig auch noch Überforderung und Kontrollverlust vorzuwerfen, wie es die Ampel zuletzt getan hat, dann verliert sie das Vertrauen der Menschen. Das ist ein Katalysator für Populisten, die ohnehin im Hintergrund das Geschäft mit der Angst betreiben und etwa Bücher zum Kontrollverlust des Staates publizieren. Geht das Vertrauen der Menschen in die Lösungsfähigkeit der Politik verloren, investieren sie es in einfache, teils auch autoritäre Alternativen. Rechtspopulisten profitieren davon. Sie versprechen Identität statt Komplexität. Das erleben wir im Moment mit dem Erstarken des Rechtspopulismus.
Wie sollte Politik dann stattdessen darauf reagieren?
Sie muss den Menschen vielmehr vermitteln: Wir arbeiten an einem gemeinsamen Projekt, wir haben Ideen und Lösungen. Überhaupt spielt Kommunikation eine zentrale Rolle. Politik muss besser erklären, was sie warum und wie macht. Sie muss dahin gehen, wo die Menschen sind – vor Ort, aber auch in die sozialen Netze.
Aber gerade die etablierten Parteien beherrschten bislang die digitale Welt nicht sonderlich gut.
Und das ist ein Problem. Die sozialen Medien beschleunigen Prozesse der Polarisierung. Sie setzen Narrative, bevor politische Kommunikation überhaupt greifen kann. Und sie verstärken den Eindruck von Kontrollverlust. Denn extreme Inhalte haben es im Netz leichter. Wir sehen derzeit einen Kipp-Effekt bei den Jüngeren, die rücken nach rechts, ihre Zustimmung zur Demokratie als System nimmt ab.
Und das liegt an den digitalen Medien?
Zumindest liegt der Schluss nah. Denn Jugendstudien zeigen: Besonders junge Menschen sind medienkompetent, lassen sich aber stark von Inhalten beeinflussen. Sie durchschauen zwar teils die Mechanismen der sozialen Medien, folgen ihnen aber trotzdem, weil sie es lustig finden. Deshalb ist es für die etablierten Parteien so wichtig, auch diese Medien professionell zu bespielen. Aber sie müssen auch vor Ort präsent sein.
Sie meinen, mit mehr Bürgerdialogen? Aber das machen etliche Politiker ja bereits.
Ja, aber die Effekte sind immer latent. Deshalb muss das ein Langfrist-Projekt sein. Mal ein paar Bürgerdialoge machen, reicht nicht. Die AfD ist stark geworden durch Pegida, durch regelmäßiges Vor-Ort- und Ansprechbar-Sein. Außerdem fehlt es in der Politik an Zukunftsbildern. Rechtspopulisten schauen zurück und versprechen eine weichgespülte Welt der Vergangenheit, die es so in Wirklichkeit gar nicht gab. Dem muss etwas entgegengesetzt werden: Wir brauchen ehrliche und vertrauenswürdige Zukunftsbilder, die zugleich so gestaltet sind, dass Menschen den Eindruck haben, ich kann einen Teil davon umsetzen.
Was meinen Sie damit konkret?
Nun, man kann es wie Angela Merkel machen und sagen, wir sind pragmatisch, machen Tagesgeschäft und fahren auf Sicht. Mit ihrem Pragmatismus ist es ihr zwar gelungen, so über lange Zeit das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und zu halten. Aber das reicht nicht mehr aus. Das merken wir jetzt. Merkel hat nicht erklärt, wie Deutschland in fünf, zehn oder zwanzig Jahren aussehen soll und wie wir da hinkommen. Sie hat keinen Generationenvertrag gemacht, etwa in der Klimapolitik. Da musste erst das Bundesverfassungsgericht sagen: So geht das nicht. Und das gilt auch in vielen anderen Bereichen, ob bei der Rente oder im Gesundheitssystem.
Oder bei der Migration.
Genau. In Deutschland wird mit Migration immer nur tagesaktuell umgegangen, es gibt keine längerfristige Planung. Dabei wäre es gerade in diesem Bereich dringend notwendig. Die Wirtschaft klagt, sie brauche Zehntausende zusätzliche Arbeitskräfte jedes Jahr. Es fehlt eine zentrale Stelle, etwa ein Ministerium, das mit politischen Modellen und Szenarien für eine Einwanderungsgesellschaft arbeitet und ein Zukunftsbild entwirft: Wie viel Migration wollen, wie viel brauchen wir? Welche Kapazitäten haben die Kommunen? Und wo und wie kann Zugehörigkeit entstehen? Integration ist kein Automatismus – sie braucht politische Gestaltung, sozialen Raum und Dialog über Unterschiede.
Integration ist kein Automatismus
Andreas Zick
Haben wir im Moment nicht eher das Problem, dass kein Unterschied gemacht wird zwischen Geflüchteten und Arbeitsmigranten?
Es stimmt, das muss getrennt betrachtet werden. Aber dann, wenn Geflüchtete da sind, auch schneller wieder zusammen gedacht werden. Wir müssen viel schneller in einen Modus kommen, in dem wir überlegen, was bedeuten eine Million ukrainische Flüchtlinge? Was wollen wir mit ihnen und wie erreichen wir das, was wir mit ihnen wollen, möglichst schnell.
Warum wird das bislang nicht gemacht?
Immerhin wird das jetzt langsam angegangen, etwa indem die Hürden zur Arbeitsaufnahme gesenkt wurden. Aber das hat viel zu lange gebraucht und steht weiterhin nicht im Fokus.
Wie erklären Sie sich diese Trägheit?
Weil man damit keine Wahlen gewinnt. Mit Abschiebung, Eingrenzung und Grenzkontrollen dagegen gewinnt man im Moment Wahlen.
Aber wenn die Kommunen sagen, wir können nicht mehr aufnehmen, braucht es ja offenbar Begrenzung. Das ist dann doch auch Teil der Frage, wie Migration gesteuert wird.
Ja, das stimmt. Aber gleichzeitig müssen wir uns doch auch Gedanken darüber machen, wie wir die Menschen, die hier sind, integrieren. Darüber wird viel zu wenig geredet. Dabei wäre es für das Gefühl des Zusammenhalts sehr wichtig. In unseren Studien sagt jede zweite befragte Person, der Zusammenhalt der Deutschen sei gefährdet. Von denen wiederum ist die Mehrheit offen für Vorurteile und Ausgrenzung. Aber in einer modernen Demokratie ist so ein exklusives Verständnis von Zusammenhalt fatal.
Nur wie kann das gelingen: Wie kann eine Einwanderungsgesellschaft eine Idee davon bekommen, was sie zusammenhält?
Darüber bräuchten wir eine große Debatte jenseits des Völkischen. Ein Zukunftsforum. Im Moment fühlen sich viele Menschen marginalisiert, auch in der Mehrheitsgesellschaft schwindet der Zusammenhalt. Und zugleich sagen Menschen mit Migrationsgeschichte: Die Frage, was typisch deutsch ist, beantwortet ihr, ohne uns einzubeziehen. Das schafft Spannungen. Gleichzeitig gibt es in der Mehrheitsgesellschaft Unsicherheit darüber, wie viel Veränderung man aushalten muss. Aber genau da beginnt Integration: bei der Aushandlung gemeinsamer Werte.
Und was darf, muss dabei die Mehrheitsgesellschaft von Migranten erwarten?
Respekt vor den Grundwerten unserer Demokratie – vor allem Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Vielfalt. Aber auch hier gilt: Wir müssen diese Werte vermitteln und erlebbar machen. In unseren Projekten gehen wir oft in Geflüchtetenunterkünfte und reden mit den Menschen – über Geschlechterrollen, Freiheit, Regeln. Integration gelingt nur, wenn beide Seiten sich bewegen. Und wenn deutlich gemacht wird: Ein Zusammenhalt für nur Volksdeutsche kann und wird nicht die Zukunft sein, das gefährdet demokratische Prinzipien.
Mal anders gefragt: Was stabilisiert eine Gesellschaft dann in Krisenzeiten?
Verlässliche Institutionen, funktionierende lokale Strukturen – und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Der Zusammenhalt wächst, wenn Menschen nachvollziehen können, dass anderen geholfen wird und sie selbst Teil davon sind. Wir sehen das bei Spendenaktionen, bei Engagement in Krisenzeiten wie nach der Ahrtalflut. In der akuten, auch technischen Krisenbewältigung sind wir gut. Was dann aber fehlt, ist ein nachhaltiger sozialer Kompass in der Krisenpolitik, also dass auf die sozialen gesellschaftlichen Folgen geschaut wird und wie diesen begegnet werden kann.
Was macht Ihnen trotz der Krisen und geschilderten Entwicklungen Hoffnung?
Die Stärke unserer Demokratie, unserer Zivilgesellschaft, unserer Institutionen. Wir haben viel erreicht – das sollten wir uns bewusst machen und darüber reden. Wir müssen viel öfter positiv über unser Land sprechen. Denn am Ende ist es diese Erzählung, die uns trägt und zusammenhält.
- Interview mit Andreas Zick