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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Netanjahu hat alles aufs Spiel gesetzt

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Sollte man ein Schlagwort für die vergangenen Tage wählen, wäre es Drama. Raketen fliegen, Bomben fallen, Drohnen detonieren – ein neuer Krieg hat begonnen, und es ist schwer zu sagen, wie er enden wird. Israel versucht, im Iran das Regime weg- und das Atomprogramm kaputtzubomben. Die Mullahs schlagen mit den verbliebenen Mitteln so hart wie möglich zurück. Über allem schwebt der amerikanische Donald wie eine dunkle Wolke, von der niemand weiß, ob sich aus ihr im nächsten Moment ein verheerendes Gewitter entlädt oder sie nach ein bisschen Donnergrollen harmlos abzieht.
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Stürmische Zeiten also. Die Eilmeldungen fliegen einem nur so um die Ohren, da kann man schon mal die Orientierung verlieren. Lassen Sie uns deshalb heute Morgen den Kompass herausholen und die Position neu bestimmen: Wie sieht die nähere Umgebung aus? Und kann man in der Ferne Umrisse erkennen?
Einige Orientierungspunkte sind schon bekannt. Israel, aber auch sonst so ziemlich alles, was Beine hat, würde das iranische Atombombenbauprogramm lieber heute als morgen aus der Welt schaffen. Saudi-Arabien und die Golfstaaten halten sich zwar mit hörbarem Applaus zurück. Insgeheim jedoch wären sie gottfroh, wäre die Gefahr der Horrorwaffe nebenan gebannt. Auch die Europäer wären erleichtert, die Amis sowieso. Alle wissen: Ein nuklear bewaffneter Iran gäbe seinen Nachbarn den Startschuss für den eigenen Spurt zur Bombe. Geld und Technologie sind auf der Arabischen Halbinsel keine Hürden. Selbst stoischen Gemütern tritt beim Gedanken an eine atomwaffenstarrende Golfregion der Schweiß auf die Stirn.
Zu den Orientierungspunkten gehört aber auch der Konsens, dass Israel die iranische Atomtechnologie nicht final vernichten kann. Nahe der heiligen Stadt Ghom, in Fordo, surren die Zentrifugen zur Urananreicherung vergraben unter einem Berg, geschützt von mindestens 80 Metern Fels, innen verstärkt mit Beton. Darunter geht es in noch tiefere Etagen. Eine zweite Anlage, bei der niemand so ganz genau weiß, was sich darin befindet, ist nahe den Atomanlagen von Natans in den Fels gemeißelt und noch schwerer zu knacken.
"Nur mit amerikanischer Hilfe" lautet die übliche Formulierung, mit der die einzige Option zum Angriff auf diese Bunker beschworen wird. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die 13 Tonnen schwere Superbombe MOP, die nur US-Bomber durch die Gegend schleppen können, vermag die nukleare Höhle von Fordo vielleicht zu zerstören – vielleicht aber auch nicht. Sicher sein kann sich da niemand. Für die Hallen unter dem anderen Berg, nahe Natans, ist das nicht so kompliziert: Da darf man das "vielleicht" durch "wird nichts" ersetzen (hier sieht man übrigens so eine Bombe explodieren).
Die richtige Frage lautet deshalb nicht, ob der Iran in diesem Krieg seine Fähigkeit zum Atombombenbau verliert – sondern für wie lange. Stand jetzt gehen Experten von Monaten, vielleicht einem halben Jahr, vielleicht auch einem ganzen aus, um das der Iran zurückgeworfen worden ist. Wirklich genau kann man die Uhr erst stellen, nachdem die Schlacht vorüber ist und der Rauch sich verzogen hat. Über die Chancen, mit einer rein militärischen Lösung einen atomwaffenfreien Iran sicherzustellen, machen sich aber selbst die Israelis offenbar keine Illusionen. Sie peilen ein anderes Ziel an: den Sturz des Teheraner Regimes.
Wie heikel das ist, lässt sich erahnen, sobald man sich ins Gedächtnis ruft, warum die Mullahs mit der Bombe überhaupt geliebäugelt haben. Langsam, beharrlich, über Jahrzehnte hat sich das Regime an eine eigene Nuklearwaffe herangerobbt. Aller blutrünstigen Rhetorik zum Trotz, mit der die iranische Propaganda die Vernichtung des zionistischen Erzfeindes herbeifaselt, gehen die vermeintlichen Fanatiker nicht fanatisch vor. Vielmehr sind sie von nüchternem Kalkül und ihrem eigenen Sicherheitsbedürfnis getrieben.
Denn Israels Premier Netanjahu ist nicht der Erste, der zum Sturz des Regimes aufruft. Schon US-Präsident George W. Bush wollte im Nahen Osten die Regierungen austauschen, als würde er fürs eigene Wohnzimmer ein paar neue Möbel bestellen. Saddam im Irak? Musste weg. Die Mullahs nebenan? Sollten als Nächste erledigt werden. Der irre Diktator in Nordkorea? Bitte hinten anstellen, aber jeder kommt dran. "Achse des Bösen" nannten Bush und seine Krieger das zusammengewürfelte Feindbild und krempelten die Ärmel hoch.
Die Falken in Washington legten zwar schon zum Start ihrer Aufräumaktion – bei der Invasion des Irak – eine Bruchlandung hin, womit sich die hochfliegenden Pläne erledigten. Aber vergessen haben die anderen Herrschaften auf der Warteliste die Bedrohung aus dem Westen nicht. Nordkorea zündete fünf Jahre später zum ersten Mal unterirdisch eine Atombombe. Auch die Iraner gaben Gas. Bisher hat der Ajatollah an der Spitze es dabei belassen, das Land an die ultimative Waffe so nah wie möglich heranzuführen, ohne den entscheidenden letzten Schritt zu riskieren. Aber die Option wollte er haben. Sie sollte die Lebensversicherung gegen den Umsturzversuch von außen sein – genau dagegen also, woran Netanjahu sich jetzt versucht.
Die israelische Perspektive ist natürlich eine andere, und das ist berechtigt. Die Herrschenden im Iran haben in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass sie mit ebenso harten Bandagen gegen Israel vorgehen, wie umgekehrt auch Netanjahu es tut – ruchlos, wenn es sein muss. Zugleich demonstrierte Teheran, dass es versteht, wie Abschreckung funktioniert. Die Iraner haben die verbündete Hisbollah im Libanon an die Leine gelegt, statt sie zur Attacke auf Israel aufzustacheln, denn die Drohkulisse eines Angriffs war für die iranischen Strippenzieher nützlicher als deren Verpuffung in einem Krieg. Es war Netanjahu, der den Showdown suchte – und diesen gewann. In Teheran braucht man niemandem zu erklären, dass die bloße Anbahnung eines Nuklearschlags gegen Israel sogleich das Ende des iranischen Regimes in einer Pilzwolke nach sich zöge. Die Mullahs und ihre Militärs wissen genau, worauf sich der einzige Nutzen einer Atombombe für sie beschränkt: Er dient nur dazu, dass ihnen niemand auf die Robe rückt.
Wer in Israel lebt, hat allerdings die Aufrufe zur Vernichtung des Judenstaats im Ohr und die Bilder vom Massaker am 7. Oktober 2023 vor Augen. Auf die Vernunft derer, die regelmäßig Drohungen von sich geben, möchte man sich da lieber nicht verlassen. Für mehr Sicherheit, nämlich durch vorbeugende Gewaltanwendung, hat Netanjahu nun alles aufs Spiel gesetzt. Er kann hoffen, aber er kann nicht planen, dass das Regime in Teheran kollabiert. Sollte es die Krise überstehen, haben die Iraner ihre Lektion gelernt. Die Zeit der Mehrdeutigkeit ist dann vorbei. Netanjahu hat gepokert, nun kommen die Karten auf den Tisch. Entweder die Mullahs verschwinden. Oder die Bombe kommt.
Luftschläge auf Kiew
Während die Welt gebannt auf die Eskalation in Nahost blickt, überzieht Russland die Ukraine mit immer massiveren Luftschlägen. Jüngster Tiefpunkt waren die Attacken auf Kiew in der Nacht zu Dienstag: Während der erneut düpierte ukrainische Präsident Selenskyj auf dem G7-Gipfel in Kanada vergeblich darauf hoffte, bei US-Präsident Trump Gehör zu finden, schlugen in der Hauptstadt seines Landes Hunderte Drohnen und Raketen ein. Unter anderem wurde ein neungeschossiges Hochhaus von einem Marschflugkörper getroffen. Die Zahl der Todesopfer ist Behördenangaben zufolge auf 27 gestiegen. Der israelische Angriff auf das iranische Mullah-Regime wirkt sich aber nicht nur in Form von Aufmerksamkeitsentzug für die Ukraine und Ausbleiben neuer US-Sanktionen gegen Russland aus. Auch die militärische Hilfe ist betroffen: So wurde eine von der Ukraine bei den USA georderte Lieferung von 20.000 Drohnen-Abwehrraketen offenbar nach Israel umgeleitet. Zudem könnte der Anstieg des globalen Ölpreises dem Kreml höhere Exporterlöse bescheren und Putins Kriegskasse füllen.
Ein schwacher Trost: Zumindest im Norden der Front, in der Umgebung der Großstadt Sumy, ist es den Landesverteidigern wohl gelungen, den russischen Vormarsch fürs Erste zu stoppen.
Steinmeier in Japan
Schon zum vierten Mal in seiner Amtszeit besucht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Japan. Nachdem er gestern zum Auftakt in Tokio von Kaiser Naruhito empfangen wurde, stehen heute Treffen mit Ministerpräsident Shigeru Ishiba und dessen Vorgänger Fumio Kishida auf dem Programm. Da ein Schwerpunkt der dreitägigen Reise auf der Vertiefung von Kooperationen in Forschung und Technologie liegen soll, wird das Staatsoberhaupt von CSU-Forschungsministerin Dorothee Bär und einer Wirtschaftsdelegation begleitet. Im kulturellen Teil der Visite ist ein Gespräch mit dem Schriftsteller Haruki Murakami geplant. Abends geht es weiter nach Osaka, wo der Bundespräsident den deutschen Nationentag der Weltausstellung Expo 2025 eröffnet.
Ohrenschmaus
An manchen Tagen erscheint die Vergangenheit schöner als die Gegenwart. So wie heute.
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Zum Schluss
Alte nehmen, Junge geben.
Ich wünsche Ihnen trotz der düsteren Weltlage einen hellen Tag. Manchmal liegt das Glück ja schon im Kleinen. Den ersten Sonnenstrahlen am Morgen oder einem freundlichen Gruß des Nachbarn. Wer selbst lächelt, erntet öfter Freundlichkeit.
In diesem Sinne herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.