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Hitlers Plastik Pollopas: Der Kunststoff, den die Nationalsozialisten schätzten


Kunststoff Pollopas
Das war Hitlers Plastik

Von Kay Meiners

05.09.2021Lesedauer: 5 Min.
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Adolf Hitler und verschiedene Produkte aus Pollopas (Bildcollage t-online): Die Geschichte dieses Kunststoffes beschreibt ein neues Buch.Vergrößern des Bildes
Adolf Hitler und verschiedene Produkte aus Pollopas (Bildcollage t-online): Die Geschichte dieses Kunststoffes beschreibt ein neues Buch. (Quelle: Kay Meiners/imageBroker)

Ein Farbwunder zog in den Dreißigerjahren in deutsche Küchen ein. Möglich machte es der Kunststoff Pollopas. Den auch die Nationalsozialisten schätzten. Ein neues Buch erzählt die Geschichte.

Ludwig König ist ein Mann mit seltsamen Gewohnheiten. An den fortschrittlichen Kölner Werkschulen soll er eine junge Schülerschaft im Geist der Moderne zu Künstlern und Gestaltern für die Industrie ausbilden. So jemanden möchte man sich als Schöngeist vorstellen.

Aber König, der hier seit 1930 beschäftigt ist, benimmt sich wie ein Offizier. Die Tür zum Klassenzimmer schlägt er immer wieder mit solcher Gewalt zu, dass sie aus dem Rahmen springt und jemand aus der Klasse sie schließen muss. "Unmöglich", so wird Herbert Schuffenhauer, einer der Schüler, das noch Jahrzehnte später nennen.

Projekt Zukunft

An anderen Tagen kauft dieser merkwürdige Lehrer frische Blumen für die Schule – und bittet die Verkäuferinnen, sie ihm mit fünf Metern Abstand hinterherzutragen. Richard Riemerschmid, Werkbund-Mitbegründer und seit 1926 Schuldirektor in Köln, hat den Kauz in die Domstadt geholt, die jetzt unter Bürgermeister Konrad Adenauer modernisiert wird.

Was man an König schätzt, ist seine Expertise für die Kunst- und Gebrauchskeramik. Sein guter Ruf gründet auf den Entwürfen für die renommierte Karlsruher Majolika-Manufaktur, die nach seinen Ideen erfolgreich Gefäße und Tierfiguren herstellt.

Nicht weit entfernt von Köln, in Troisdorf bei Bonn, befindet sich damals die Zentralverwaltung der Dynamit Nobel AG, mit einem Chemiewerk groß wie ein Stadtteil. Auch hier wird an der Zukunft gebaut. Chemiker versuchen, die Elemente des Periodensystems zu neuen Riesenmolekülen zusammenzusetzen: Kunststoffen.

Im Konzernverbund der Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG, kurz I.G. Farben, ist das Troisdorfer Werk der Pionierbetrieb für die Arbeit mit diesen neuartigen Werkstoffen. Weil die Sieger nach 1918 Rüstungsbeschränkungen für Deutschland erlassen haben, muss sich die Firma, die sonst gut von Munition und Sprengstoff lebt, um zivile Produkte kümmern. Könnte man nicht aus Kunststoff Haushaltswaren herstellen?

Von der Kunst zur Chemie

Seit dem 19. Jahrhundert ist bekannt, dass sich Harnstoff und Formaldehyd zu einer neuen Substanz verbinden – aber der Prozess ist noch nicht verstanden, die großtechnische Produktion schwierig. Es gibt viele Patente. Manche werden nur eingereicht, um zu verschleiern, welcher Weg wirklich zum Ziel führt.

Doch seit Ende der 1920er-Jahre steht dann eine brauchbare neue Generation von Harnstoffharzen bereit, die in allen Farben eingefärbt werden kann und attraktiver ist als das bis dahin bekannte Bakelit, das nur in düsteren, wenig attraktiven Farben produziert wird. Damit ist jetzt Schluss.

Ein jüdischer Unternehmer aus Wien hat die Nase vorn: Fritz Pollak, Inhaber der bedeutendsten chemischen Fabrik der kaiserlich und königlichen Monarchie, der gemeinsam mit dem Chemiker Kurt Ripper ein Kunstharz entwickelt, das er "Pollopas" nennt. Die Wortmarke spielt auf seinen Familiennamen an, aber auch auf den Opal, jenen Edelstein, der in allen Farben des Regenbogens funkelt.

Pollak glaubt, ein "organisches Glas" entdeckt zu haben – etwa das, was wir heute als Plexiglas kennen. Aber sein Glasersatz ist zu spröde. Pollak überlegt, ob es sich nicht besser als Pressstoff einsetzen lässt – als Material, das pulverisiert und mit Füllstoffen wie Holzmehl versetzt, in großen Stahlpressen mit Hitze und Druck in Form gebracht wird.

Eine Sinfonie der Technik

In diesem Moment klopft die I.G. Farben an und erwirbt eine Lizenz, um Haushaltswaren daraus zu machen. Den eigenen Ingenieuren traut das Unternehmen die Entwurfsarbeit nicht zu. Zu groß ist das Risiko, den Geschmack des Publikums zu verfehlen. Denn für jedes Produkt muss eine eigene Pressform gebaut werden.

Ein Künstler muss her, der das Plastik in die deutsche Küche bringt. Die Wahl fällt auf jenen Ludwig König, dem sein Förderer Riemerschmid die Ideen des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes, einer "Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen", vermittelt hat. Die Reform-Organisation, die das Niveau der Warenkultur und damit das kulturelle Niveau insgesamt heben soll, propagiert Prinzipien wie die schlichte, zweckmäßige Form, Materialgerechtigkeit und Langlebigkeit.

So weit so gut, wäre da nicht ein Problem: Zum Credo der Werkbündler gehört die Scheu vor synthetischen Werkstoffen, die als billige Surrogate verschrien sind. Chemische Hexenküchen sind den meisten ein Graus, die das Wahre, Schöne und Gute suchen. Aber König sind diese Dogmen egal. Er macht sich ans Werk, zeichnet, metzt, baut Modelle aus Holz oder Gips. Ehe er sich versieht, ist aus dem Werkschullehrer einer der ersten Industriedesigner in der jungen, kunststoffverarbeitenden Industrie geworden.

Nichts zum Wegwerfen

Als 1931 die Pollopas-Waren auf den Markt kommen, werden sie beinahe ein Flop. Wer kann sich schon mitten in der Weltwirtschaftskrise neues Geschirr kaufen? Doch die I.G. Farben sind finanzkräftig, sie haben einen langen Atem und geben nicht auf. Als König 1933 seine Professur an den Werkschulen verliert, arbeitet er freiberuflich weiter und verdient besser als in den Jahren zuvor. Pollopas wird Hitlers Plastik.

In den Jahren nach der Machtübernahme 1933 läuft es entsprechend besser. Als der Erfinder des Materials, Fritz Pollak, 1938 vor den Nazis aus Wien fliehen muss und in die USA emigriert, spuckt das Pollopas-Werk beachtliche Mengen aus. König gibt den Produkten, die er entwirft, einen dezidiert technischen Charakter.

Seine Eierbecher, Salatbestecke oder Stövchen sind Botschafter einer neuen Zeit, ungewohnt leicht, ihr einziger Schmuck ist die Farbe. Anders als die amerikanischen Streamline-Formen, die man als futuristische Verheißung lesen kann, entscheiden die Deutschen sich für nüchterne, stereometrische Grundformen.

Die Kunden sind bereit, für das Plastik mehr zu zahlen als für andere Werkstoffe. Während eine Zuckerdose aus Pressglas für 40 Reichspfennig und aus Porzellan für 50 Reichspfennig zu haben war, kostet sie aus Kunststoff 1,95 Reichsmark. Die Käufer gehören zu einer jungen, technikaffinen Elite, die auf der Suche nach Lifestyle-Produkten ist. Pollopas ist ebenso langlebig und nicht zum Wegwerfen gemacht.

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Den Nazis gefällt das Material

Die braunen Machthaber stören sich nicht am modernen Material – sie lassen eine "gemäßigte" Moderne zu und nutzen sie propagandistisch. In der "Volksgemeinschaft" ist nicht nur Platz für Eichenholz und bäuerliche Keramik, sondern auch für Kunststoffe. Sie gelten als hochwertige "deutsche" Werkstoffe, aus denen man sogar Parteitagsabzeichen macht.

Die Rohstoffe basieren nicht auf Erdöl, sondern stammen aus der heimischen Kohleindustrie. Deutsche Wälder liefern Zellstoff als Füllmaterial. Zu den Olympischen Spielen 1936, ein propagandistisches Großereignis für die Nationalsozialisten, kommt dann ein "Olympia-Becher" auf den Markt. Werbetafeln zeigen die Gegenstände aus Pollopas neben Albert Speers deutschem Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1937.

Das Geschäft im Fachhandel kommt in Schwung. Erst als 1939 der Krieg beginnt und Kunststoffe kriegswichtige Werkstoffe wie Metalle ersetzen sollen, ist die Angst vor dem Ersatzstoff wieder da. Die aus dem Ersten Weltkrieg stammt.

Auch im zweiten Weltenbrand kommt die Mangelwirtschaft wieder zurück. Die Verheerungen des Krieges und der Kunststoff-Boom der Nachkriegsjahre werden in der Folge die Erinnerung an das erste deutsche Plastikwunder und die frühen Kunststoffdesigner vollständig tilgen.

Ludwig König stirbt 1974 völlig vergessen und dem Alkohol zugeneigt in Dachau. Es ist ein Tod profan wie sein Leben. Zur "kulturellen Verpflichtung" der Industrie befragt, hat König einst der Werkbund-Zeitschrift "Die Form" geantwortet: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass."

Zum Weiterlesen:
Kay Meiners: Material für eine neue Zeit. Produktdesign aus Pollopas, Salenstein 2021

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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