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"Schicksalstag" 9. November? Hitler täuschte sich gewaltig


"Schicksalstag" 9. November?
"Und damit irrte sich Hitler gewaltig"

  • Lena Treichel
InterviewVon Marc von Lüpke und Lena Treichel

Aktualisiert am 09.11.2023Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Mauerfall 1989, Revolution 1918 und brennende Synagoge 1938 (Bildcollage: t-online): Der 9. November spiegelt die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert.Vergrößern des Bildes
Mauerfall 1989, Revolution 1918 und brennende Synagoge 1938 (Bildcollage: t-online): Der 9. November spiegelt die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. (Quelle: Pictures from History/imagebroker/imago-images-bilder)

Mauerfall 1989, aber auch Pogrome 1938 – der 9. November ist berühmt wie berüchtigt in der deutschen Geschichte. Aber warum ist er kein Feiertag? Das erklärt Experte Wolfgang Niess.

t-online: Herr Niess, seit 1990 haben wir Deutschen den 3. Oktober als Nationalfeiertag. Emotionen löst dieses Datum aber bei den wenigsten Bürgerinnen und Bürgern aus. Warum?

Wolfgang Niess: Das ist kein Wunder. Denn der 3. Oktober war bis dahin in der deutschen Geschichte ein völlig unauffälliger Tag, er wurde allein aus verwaltungstechnischen Gründen ausgewählt. Und zwar wollte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 die Wiedervereinigung so schnell wie möglich abschließen. Und der 3. Oktober war eben der frühestmögliche Termin.

Wenn Helmut Kohl etwas mehr Geduld aufgebracht hätte, wäre ein historisch wesentlich bedeutsamerer Tag als Nationalfeiertag denkbar gewesen – und zwar der 9. November. Der Tag, an dem etwa 1989 auch die Berliner Mauer fiel. Ein Tag, der aber auch zu den dunkelsten im 20. Jahrhundert gehört: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen.

Und genau darin lag das Problem. Es gab Befürchtungen, dass beim Jubel über die Einheit die Untaten des 9. November 1938 in Vergessenheit geraten könnten, wenn man den 9. November zum Nationalfeiertag machen würde. Also traf man eine vollkommen bürokratische Entscheidung. Es war aber keineswegs so, dass der 9. November nicht erörtert worden ist. Bilder aus dieser Zeit zeigen etwa, wie junge Aktivisten die Schilder an der Straße des 17. Juni überkleben. Und zwar mit dem Schriftzug "Straße des 9. November".

Gleichwohl haben wir heute einen nationalen Feiertag, dem viele Deutsche jedes Jahr aufs Neue mehr oder weniger leidenschaftslos entgegensehen.

So ist es leider. Eine französische Journalistin hat mir einmal ihr Unverständnis gebeichtet, warum wir Deutschen einen Nationalfeiertag haben, der keinerlei Emotionen hervorruft.

Was ließe sich tun? Haben Sie einen Vorschlag?

Die Angelegenheit ist kompliziert. Wir müssen den 9. November aber gar nicht zum gesetzlichen Feiertag machen. Ebenso könnte er zum Nationalen Gedenktag erklärt werden, an dem aber viel mehr getan werden müsste als jedes Jahr zum 27. Januar.

Sie spielen auf den "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" an.

Genau. Für den 9. November als Gedenktag schwebt mir etwas anderes vor. Und zwar, dass etwa in allen Schulen Projekte zu den historischen Ereignissen durchgeführt werden, wie das ja die Kultusministerkonferenz schon 2009 empfohlen hat. Auch Kirchen und Gewerkschaften könnten neben der Politik größere Aktivitäten durchführen.

Wolfgang Niess, geboren 1952, ist promovierter Historiker und Experte für die Geschichte der Revolution von 1918/19. Niess war Redakteur bei Süddeutschem Rundfunk und Südwestrundfunk. Er ist Autor zahlreicher Radio- und Fernsehsendungen, Aufsätze und Buchpublikationen zu Themen der Zeitgeschichte. Kürzlich erschien mit "Der 9. November. Die Deutschen und ihr Schicksalstag" sein neuestes Werk.

Sprechen wir nun grundsätzlich darüber, warum der 9. November und die ihn umgebenden Tage in der Geschichte Deutschlands so berühmt, aber auch so berüchtigt sind. Am Beginn stand der 9. November 1918.

Es war der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, der am Ende einer siegreichen Revolution in Berlin die Republik ausgerufen hat. Kurz darauf hat Karl Liebknecht es ihm dann mit der Ausrufung der Sozialistischen Republik gleichgetan. Für Deutschland war dieses Ereignis revolutionär, es sollte von einer Monarchie zur Republik werden, zu einer parlamentarischen Demokratie.

Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Lasten des Versailler Vertrags hatte die junge Weimarer Republik denkbar schlechte Startbedingungen.

Das kann man wohl sagen. Nicht zuletzt kam es im Januar 1919 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den gemäßigten Kräften um den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert und radikalen Linken, die zum Teil eine Räterepublik nach sowjetischem Vorbild errichten wollten, zum größeren Teil aber vor allem mehr Demokratie in Militär und Wirtschaft erreichen wollten. Bei großen Teilen des Bürgertums führte das zu einer panischen Angst vor dem Bolschewismus. Noch gefährlicher waren allerdings Putschversuche von rechts, die es sehr früh gab.

In dieser Situation hat es der 9. November nicht einmal in der Weimarer Republik zum Nationalfeiertag gebracht.

Der Widerstand und die Ablehnung der Demokratie waren selbst in Teilen des Bürgertums und erst recht aufseiten der politischen Rechten gewaltig. Wir können es uns heute kaum noch vorstellen, aber damals wurden Politiker wie der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger oder Reichsaußenminister Walther Rathenau von Rechtsextremisten ermordet.

1923 unternahm dann ein bis dahin fast unbekannter Politiker namens Adolf Hitler in München den Versuch, die Demokratie zu beseitigen.

Das Jahr 1923 war außerordentlich schwierig für die Weimarer Republik. Das Ruhrgebiet war von Frankreich und Belgien besetzt worden. Der passive Widerstand gegen diese Besetzung führte zu einer Hyperinflation, die Angst davor wirkt noch bis heute nach. In diesem Klima kam es am 8. und 9. November 1923 zum sogenannten Hitlerputsch in München.

Warum ausgerechnet dort?

Bayern war damals geradezu ein Eldorado des Rechtsextremismus, es verstand sich als selbsternannte "Ordnungszelle" des Reichs. Alles im Gegensatz zu Berlin, das als "marxistisch" und "verjudet" galt. Angehörige der Organisation Consul, der Gruppe, die für die Morde an Erzberger und Rathenau verantwortlich zeichnete, konnten sich sicher sein, in Bayern auf keinen Fall verfolgt zu werden.

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Das lag vor allem an Gustav Ritter von Kahr, der als Generalstaatskommissar in Bayern nahezu ungehindert schalten und walten konnte.

Von Kahr dachte, dass man Deutschland von Bayern aus wieder auf den im Wortsinn "rechten" Weg bringen müsste. Am Abend des 8. Novembers 1923 fand im Münchner Bürgerbräukeller eine Veranstaltung statt, bei der er über die Notwendigkeit einer nationalen Diktatur sprach. Hitler erschien dann dort ebenfalls mit vielen seiner Anhänger, denn Kahr und Konsorten schien plötzlich der Mut zum Sturz der Demokratie verlassen zu haben.

Worauf sie Hitler wieder zum Putschversuch einzuschwören versuchte.

Das ist ihm zunächst auch gelungen. General Erich Ludendorff, der frühere "Kriegsheld" und Demokratiegegner, hat Hitler kräftig dabei unterstützt. Die Verständigung wurde auf offener Bühne zelebriert und von der versammelten bayerischen Prominenz gefeiert.

Die Einigkeit hat aber nicht lange gehalten.

Nein. Im Laufe der Nacht distanzierte sich Kahr von Hitler und erklärte, die Verständigung sei nur zum Schein und wegen Hitlers Drohung mit einer Pistole erfolgt. Am Morgen des 9. Novembers standen die Putschisten dann relativ hilflos da. Und beschlossen, symbolisch in die Münchner Innenstadt zu ziehen. Sie wussten allerdings selbst nicht so recht, was sie da wollten.

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Es kam dann zum Feuergefecht mit Polizeikräften, das Opfer forderte.

Beinahe wäre es um Hitler selbst geschehen gewesen, eine Kugel verfehlte ihn um wenige Zentimeter – und tötete stattdessen seinen Kumpanen Max Erwin von Scheubner-Richter. Vier Polizisten, ein Schaulustiger und 13 Nationalsozialisten kamen während des Kampfes um.

Dieses Ereignis sollte für die Nationalsozialisten geradezu kultischen Charakter erhalten.

Die erschossenen Nazis wurden zu Märtyrern stilisiert. Es begann schon nach der Neugründung der NSDAP 1925. Wer den "Völkischen Beobachter" am 9. November aufschlug, las die Namen der Toten. Nach der Machtübernahme Hitlers gab es dann jedes Jahr große Veranstaltungen in München. Es ging jeweils schon am 8. November los, Hitler sprach dann vor den "Alten Kameraden", am 9. November wurde der Marsch auf die Feldherrnhalle nachgespielt. Bis zum 10. November erstreckte sich dieses Theater. Das waren Inszenierungen, die ihresgleichen suchten.

Und vor allem den 9. November als Gründungsdatum der deutschen Demokratie nationalsozialistisch deformierten.

Auch das war ein Ziel der Nationalsozialisten.

Allerdings wusste sich ein Mann namens Georg Elser am 8. November diesen Heldenkult der Nazis um den 9. November 1923 zunutze zu machen.

Georg Elser war ein bemerkenswerter Mann. Am 8. November 1939 verübte er mit einer Bombe im Bürgerbräukeller ein Attentat auf Hitler. Oder besser gesagt, er versuchte es. Denn Hitler verließ die Veranstaltung 13 Minuten zu früh. Wäre der "Führer" länger geblieben, wie all die Jahre davor, wäre er ein toter Mann gewesen.

Was ist das Besondere an Georg Elser, einem Widerstandskämpfer, der viele Jahrzehnte wenig gewürdigt worden ist?

Elser war Schreiner von Beruf, er machte sich schon recht früh wenige Illusionen darüber, dass Hitler Europa in einen Krieg stürzen würde. Und er war entschlossen, es zu verhindern. Allein das macht seine Biografie so außergewöhnlich. Auch wenn er leider gescheitert ist.

Nun müssen wir aber einmal von 1939, dem Jahr des Elser-Attentatsversuchs, ein Jahr zurückspringen. Zu den Novemberpogromen von 1938.

Novemberpogrome ist ein ganz treffender Ausdruck, denn nicht erst in der Nacht vom 9. auf den 10. November kam es zu den Gewalttaten gegen Juden, die dann zynisch als "Reichskristallnacht" bezeichnet worden sind. Genau genommen planten die Nationalsozialisten schon seit dem Frühjahr "loszuschlagen", ganz anders als 1936 ...

... als der Schweizer Nationalsozialistenführer Wilhelm Gustloff durch einen jüdischen Studenten ermordet wurde?

Genau. Aber 1936 fanden die Olympischen Spiele in Deutschland statt. Eine schlechte internationale Presse konnte sich Hitler damals nicht erlauben. Deswegen wurden antisemitische Aktionen von hoher Stelle verboten.

1938 galt das offenbar nicht mehr ...

Nein. In Paris hatte ein junger Mann jüdischer Herkunft namens Herschel Grynszpan am 7. November einen Anschlag auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath verübt. Diese "Gelegenheit" wollte sich vor allem Propagandaminister Joseph Goebbels nicht entgehen lassen. Das Propagandaministerium sorgte mit seinen Kontakten nach Hessen dafür, dass es schon wenige Stunden nach der Tat zu antisemitischen Aktionen kam. So konnte Goebbels dann am Abend des 9. Novembers gegenüber Hitler erklären, dass sich der "Volkszorn" gegenüber den Juden schon geäußert hätte.

Aber es waren vor allem die Nationalsozialisten selbst, vor allem in Form der SA, die Synagogen in Brand setzten, jüdische Geschäfte demolierten und Juden misshandelten.

Ja, aber es haben sich durchaus auch "normale" Menschen an den Pogromen beteiligt. Eine Mehrheit lehnte diese Aktionen jedoch ab. Nicht unbedingt, weil sie Mitleid mit den Juden hatten, sondern weil so viele Werte zerstört worden sind und es so offen gewalttätig zuging. Die SS hat eine ganz andere Vorgehensweise gewählt: Rund 30.000 Juden wurden bald in Konzentrationslager verschleppt.

Vom 9. November wird immer wieder auch als "Schicksalstag" der Deutschen gesprochen. Sollten wir in der Erinnerung diesen Begriff nicht endlich überwinden? Es ist wenig Schicksalhaftes in der Geschichte.

Der Begriff hat sich eingebürgert und wird sich wohl noch eine Weile halten. Aber ich zeige in meinem Buch ja deutlich, welche Zusammenhänge es zwischen den Daten von 1918 bis 1939 gibt. Dass ausgerechnet am 9. November 1989 die Mauer fiel, war dann eher Zufall oder eine glückliche Fügung.

Womit wir nun auch das letzte große historische Ereignis rund um den 9. November erwähnt haben. Wie sollen wir nun aber mit diesem Tag umgehen?

Für mich symbolisiert der 9. November den langen deutschen Kampf um die Demokratie, der von einem furchtbaren Rückfall in die Barbarei unterbrochen wurde, am Ende aber doch erfolgreich war. Ich bin dafür, ihn zu einem Nationalen Gedenktag zu machen. Jedes Jahr am 9. November sollten wir an unsere Geschichte erinnern und zeigen, für welche Werte wir einstehen: für Freiheit und Gleichheit, für Demokratie und Pluralismus, gegen Rassismus und Antisemitismus. Besonders an diesem Tag sollten wir uns auch bewusst machen, welche Verantwortung Deutschland für seine jüdischen Mitbürger und für die Sicherheit des Staates Israel trägt. Und nicht zuletzt ruft der 9. November uns auch deutlich in Erinnerung, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist.

Noch befindet sich der 9. November allerdings in einem politisch-gesellschaftlichen Schwebezustand. Sollten wir Demokraten ihn nicht schnell endgültig besetzen, bevor es andere tun? Die AfD propagiert in Ostdeutschland durchaus erfolgreich die Parole "Wende 2.0".

Das ist ein wichtiger Punkt. Im letzten Herbst hat die AfD im Landtag Hessens beantragt, den 9. November zum Feiertag zu machen. Für mich war es eine Art historisches Déjà-vu, ich fühlte mich daran erinnert, wie Hitler damals den 9. November zum Tag des Gedenkens an die nationalsozialistischen "Märtyrer" der Bewegung gemacht hat. Aber dann fiel mir noch etwas anderes ein, was Hitler getan hat.

Was wäre das?

Als Diktator hat Hitler zur Erinnerung an seinen Putschversuch 1923 einst Briefmarken ausgeben lassen. "Und ihr habt doch gesiegt", stand darauf. Und damit irrte sich Hitler gewaltig. Zumindest langfristig. Denn die Demokratie hat am Ende gesiegt. Und sie wird siegreich bleiben, wenn wir wachsam sind.

Herr Niess, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Wolfgang Niess per Video
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