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Berlin-Marathon: 82-jährige Frau läuft jeden 5. Tag einen Marathon


82-Jährige hält ungewöhnlichen Rekord
Die Frau, die jeden fünften Tag einen Marathon läuft


Aktualisiert am 25.09.2022Lesedauer: 7 Min.
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"Man muss es nur wollen": Sigrid Eichner in ihrer "Hall of Fame".Vergrößern des Bildes
"Man muss es nur wollen": Sigrid Eichner in ihrer persönlichen "Hall of Fame" (Quelle: Antje Hildebrandt)

Sie rannte vor einem Bären weg und bei 58 Grad durchs Death Valley. Keine andere Frau ist so viele Marathons gelaufen wie Sigrid Eichner. Wie macht sie das?

Medaillen, alles voller Medaillen. Wenn es etwas gibt, das begreifbar macht, warum es Marathon-Läufer gibt, die Sigrid Eichner wie eine Ikone verehren, dann ist das ein Blick in ihr Arbeitszimmer. Die Medaillen hängen dort dicht an dicht an einer Wand, Klassiker aus Metall zwischen fancy stuff aus den USA, wie einem Paar Flipflops aus Messing , ein Souvenir an den Marathon 2012 in Fort Lauderdale im US-Bundesstaat Florida.

Es sind so viele Auszeichnungen, dass die Wand dahinter komplett verschwindet. 978 Medaillen sind es insgesamt. Eichner, 82 Jahre alt, weiß das genau. Jede Medaille hat eine Nummer auf der Rückseite. Jede einzelne steht für einen Kampf, den sie gewonnen hat. Es ist der Kampf gegen sich selbst, aber es ist auch ein Kampf um Anerkennung.

Die längste Strecke war 3.000 Kilometer lang

Eichner, studierte Ingenieursökonomin, drei Kinder, sieben Enkelkinder, hat seit der Wende 2310 Marathon- und Ultraläufe absolviert. "Vielleicht waren es auch 2312", sagt sie . Als käme es auf die paar Kilometer mehr oder weniger noch an. Auf der ganzen Welt gibt es wohl keine Frau, die so viele Marathon-Läufe absolviert hat wie sie. Zumindest laut dem offiziellen "World Megamarathon Ranking", wo Läuferinnen und Läufer mit über 100 absolvierten Marathons aufgelistet sind.

Statistisch gesehen ist Sigrid Eichner jedes Jahr 74,58 Marathons gelaufen – oder noch längere Strecken. 42,195 Kilometer waren ihr irgendwann nicht mehr genug. Sie begann mit Ultra-Läufen. 50 Kilometer, 100 Kilometer. Die längste Strecke, die sie zurückgelegt hat, war der Europalauf von Lissabon nach Moskau – 3.000 Kilometer in 44 Tagen.

Jeden fünften Tag ein Marathon

In der Stimme von Mario Sagasser, 57, schwingt Ehrfurcht mit, wenn er über Eichner spricht. Er ist Chef des "100 Marathon Clubs". Der Name ist Programm. Der Verein hat in ganz Deutschland 415 Mitglieder, darunter 53 Frauen. Er nimmt nur Leute auf, die schon 100 Marathons auf der Uhr haben. Sagasser sagt, er selbst käme "nur" auf 850 Läufe.

Eichner ist das Aushängeschild des Vereins – auch, wenn sie heute fast doppelt so lange für die 42,195 Kilometer braucht wie vor dreißig Jahren. Da kam sie schon nach 3 Stunden und 30 Minuten ins Ziel.

Sagasser sagt, er wisse nicht, wie sie das schaffe. Jeden fünften Tag einen Marathon zu laufen. "Manchmal verletzt sie sich ja auch, dann muss sie mal eine Woche pausieren, dafür läuft sie dann aber in der nächsten Woche zwei Marathons." Sagasser macht eine kurze Pause. Dann sagt er: "Sie ist extraterristisch – nicht von dieser Welt."

Klein, zäh, durchtrainiert

Die Frau, die sogar Vereinsfreunde vor ein Rätsel stellt, lebt alleine in einer 3-Zimmer-Wohnung in einer Platte in Berlin-Friedrichshagen, Puppen und Stofftiere auf dem Sofa, Vogelgezwitscher und viel Grün vor der Tür. Der Müggelsee ist nicht weit entfernt. Dort läuft sie jeden Morgen ihre Runde. Klein, zäh und durchtrainiert, kein Gramm Fett auf den Rippen.

Auch an einem schönen Septembermorgen steht sie schon um zehn Uhr in Laufklamotten in der Tür. Gelaufen ist sie heute aber noch nicht. "Es geht mir gar nicht gut", sagt sie und putzt sich die Nase. Ausgerechnet vor dem Berlin-Marathon hat sie sich erkältet. Ihre Nase läuft, ihre Füße schmerzen. Sie sagt, sie sei vor einiger Zeit operiert worden. Diagnose: Überbein.

Vier Schrauben im Rücken

Der Extrem-Sport hat Spuren hinterlassen. Eichner sagt, sie wisse nicht mehr, wie oft sie schon operiert worden sei, an den Händen oder an den Füßen. Vor 22 Jahren dann der Schock: Ihre Lendenwirbel hatten sich verschoben. Vier Schrauben stecken seither in ihrer Wirbelsäule. Mit Daumen und Zeigefinger zeigt sie die Länge einer Zigarette. „Das sind solche Kawenzmänner.“

Sie sagt, man stehe das nur durch, wenn man das wirklich will. "Ob man den Marathon durchhält, wird im Kopf entschieden. Diesen Punkt zu überwinden, ist Kopfsache. Man muss es wollen, man muss es tun."

Das Risiko läuft mit

Aber Herz, Gelenke und Gefäße müssen auch mitspielen. Willi Heepe hat 40 Jahre lang die Teilnehmer des Berlin-Marathons verarztet. Vier oder fünf brachen auf der Strecke zusammen und starben. So genau weiß er das nicht mehr. Alles Männer. Heepe sagt, einer von ihnen sei vorher bei ihm in der Sprechstunde gewesen. Er hätte ihn gewarnt. Aber der Mann hätte sich selbst überschätzt. "Mit einer Herzmuskelentzündung zu laufen ist lebensgefährlich."

Heepe, 84, praktiziert immer noch als Arzt. Aber Marathons läuft er heute nicht mehr. "Ich trabe nur noch, das ist gesünder." Er sagt, er habe sich oft gefragt, was Menschen dazu treibe, sich auch dann auf die lange Strecke zu zwingen, wenn das Herz nicht so wolle wie sie oder wenn sie Verletzungen nicht richtig auskuriert haben.

Die Suche nach dem ewigen Leben

Er sagt, es gebe zwei Typen. Die einen liefen vor Problemen davon. Die anderen seien auf der Suche nach dem ewigen Leben. Er weiß, wovon er spricht. Wenn man bei Kilometer 30 den toten Punkt überwunden habe, an dem alle Kohlehydrate verbrannt wurden und es an die körpereigenen Fettreserven gehe, sei das ein berauschendes Gefühl. "Man denkt, man könnte ewig weiterlaufen. Man denkt, man altert nie."

Sigrid Eichner wäre nie auf die Idee gekommen, zu Willi Heepe in die Sprechstunde zu gehen und sich einen ausgeklügelten Trainings- und Ernährungsplan entwerfen zu lassen, um das zu tun, was der Arzt jedem Anfänger rät – sich schrittweise auf einen Marathon vorzubereiten. Sie sagt: "Ich war schon fast fünfzig, als ich meinen ersten Marathon gelaufen bin, einfach so, aus dem Stehen."

Die Wende als Einschnitt: "Weg, weg, weg"

Sie fing nicht bei Null an. Eichner hat eine der ersten Sportschulen in der DDR besucht, im thüringischen Nordhausen. Die Freude am Laufen hat sie wiederentdeckt, als ihre drei Kinder auf die Welt kamen. Sie sagt: "In dem Moment, wo ich gelaufen bin, war ich nur für mich. Da brauchte ich mich um nichts zu kümmern, nur darum, dass ich den Weg finde."

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Sie steckt die Fotos und Urkunden von ihren Läufen zurück in die Leitz-Ordner, die ihre Karriere als Marathonläuferin dokumentieren. Los ging es 1989, auf dem Brocken im Harz.

Sie erinnert sich nicht gern an diese Zeit. Die Wende markierte einen Einschnitt in ihrem Leben. Ihre Ehe scheiterte, sie verlor ihren gutdotierten Job als Planerin in der Bau-Akademie. Sie sagt: .„Arbeit war nicht mehr. Alles, was Konkurrenz für den Westen war, ist mit der Einheit verschwunden. Weg, weg, weg.“

Das Laufen hat sie aus dem Wende-Loch gerettet

Umschulungen, Fortbildungen, Gelegenheitsjobs. Ihr Leben geriet aus den Fugen. Eichner ging es wie vielen anderen Menschen im Osten: Sie fiel in ein Loch. In ihrer Wohnung kann man es sehen. An ihrem Kühlschrank hängt eine Karte, die ein Loch zeigt. Es klafft mitten auf einer Straße. Darüber steht: "Einfach mal nicht jammern ... auch wenn’s schwer fällt."

Das Laufen hat sie aus diesem Loch gerettet. Sie sagt: "Laufen füllt viel aus. Laufen macht zufrieden. Es lenkt von Schwierigkeiten ab. Gibt eine innere Ruhe." Sie hat die Anerkennung vergessen. Den Applaus, den sie bekommt, wenn sie am Ziel ankommt. Der ist ihr wichtig, daraus macht sie keinen Hehl.

Beim letzten Berlin-Marathon hat sie es nicht auf den roten Teppich geschafft. Nach sechs Stunden hatte der Veranstalter das Ziel gesperrt – sie war zu langsam. Eichner wird jetzt lauter. "Ich finde es nicht in Ordnung, dass man als alter Mensch hinten ansteht, obwohl man das gleiche Startgeld zahlt." So etwas sei ihr noch nie passiert, egal, ob sie in Berlin, New York oder in Dubai gelaufen ist – oder bei 58 Grad durch die Wüste im Death Valley im US-Bundesstaat Nevada.

Auf der Flucht vor einem Bären in Alaska

Sogar Lauffreunde fragen sich kopfschüttelnd: Muss das sein? Eichner sagt, sie wolle sich wohl selbst beweisen: Was andere können, kann ich schon lange." Man darf sich Sigrid Eichner als eine Frau vorstellen, die sich selbst keine Schwäche gönnt. Klar, habe sie auch mal einen Lauf abgebrochen, weil sie umgeknickt war oder einfach nicht mehr konnte.

Verziehen hat sie sich das nicht. Einmal, es war in Alaska, kreuzte ein Bär ihren Weg. Sie sagt, er sei nur drei, vier Meter entfernt gewesen. "Ich bin einfach vorbeigelaufen." Angst zu haben, dafür habe sie keine Zeit gehabt. Sie sagt, hinterher hätte sie erfahren, dass dieser Bär schon Menschen getötet hatte, die in sein Revier eingedrungen waren.

Viermal hat Sigrid Eichner die Erde jetzt schon umrundet. Das Laufen hat ihr geholfen, den Weg in ein Land zu finden, von dem sie sagt, es sei nicht mehr ihres. Weiter, immer weiter.

Auf der ehemaligen Grenze laufen

Nein, sie wolle die DDR nicht zurück, sagt sie. Aber es schmerzt sie, dass sie als Frau aus dem Osten 200 Euro weniger Rente bekommt als andere aus dem Westen in ihrer Gehaltsklasse. Sie sagt: "Ey, wir haben schwer gearbeitet."

Sie vermisst das Wir-Gefühl, den Zusammenhalt. Sie hat ein bisschen was davon in ihrem Sportverein wiedergefunden, der Langstrecken-Laufgemeinschaft LG Mauerweg Berlin e.V. Die läuft seit 2011 einmal im Jahr im August auf dem Streifen der ehemaligen Grenze zwischen der DDR und der BRD. Es ist eine 161 Kilometer lange Strecke rund um Berlin.

Eichner sagt, es sei jedesmal ein schönes Gefühl. "Sie laufen da lang, wo früher die Grenze war. Und dann fragen Sie sich: Waren die bekloppt? Selbst im Wald wurde Stacheldraht gezogen. Da ist rechts ein Baum und links ein Baum, und dazwischen war die Grenze."

Was ist, wenn sie irgendwann nicht mehr kann?

Sie lacht. Das erste Mal an diesem Morgen. Hat sie schon einen Plan B für den Fall, dass sie irgendwann nicht mehr laufen kann? Sigrid Eichner schüttelt den Kopf. Sie liest gerne. In ihrem Regal im Wohnzimmer stapeln sich Klassiker. Canetti, Fontane, Balzac. Aber die Vorstellung, es irgendwann nicht mehr bis ans Ziel zu schaffen, bereitet ihr Angst.

Eichner sieht sich in ihrer Wohnung um. Ihr Blick wandert zu ihrer Hall of Fame. Dort, so sagt sie, gäbe es noch einiges aufzuräumen und zu sortieren. Dabei sei die Wand mit den Medaillen nur die Hälfte ihres Lebenswerks. "Wenn ich für jeden Lauf eine Medaille bekommen hätte, würden da noch 1.300 weitere hängen. Dafür bräuchte ich eigentlich noch ein Zimmer. Oder ich müsste noch eine Wand einziehen."

Verwendete Quellen
  • Besuch bei Sigrid Eichner
  • ZDF-Drehscheibe: "Marathonläuferin mit 81 Jahren"
  • Telefonat mit dem Sportmediziner Willi Heepe
  • Telefonat mit Mario Sagasser vom Club "100 Marathon Club"
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