Sie besitzt alle Waffen
Jule Niemeier hatte noch nie das Hauptfeld von Wimbledon erreicht. Jetzt steht sie unter den besten Acht. Die Senkrechtstarterin im Porträt.
Normalerweise jubelt sie den Stars vom BVB zu. Tennisprofi Jule Niemeier ist als geborene Dortmunderin wenig überraschend auch Fan der Schwarz-Gelben. Doch mit ihrem Sensationslauf in Wimbledon hat die 22-Jährige den Spieß kurzerhand umgedreht.
Nach ihrem völlig überraschenden Viertelfinaleinzug beim Rasen-Klassiker bekam sie eine Nachricht von Nationalspieler und BVB-Neuzugang Nico Schlotterbeck. Weltmeister Mats Hummels erwähnte sie in einem seiner Postings. "Als großer Dortmund-Fan musste ich schon schmunzeln und habe mich natürlich gefreut. Ich hätte vor dem Turnier nicht damit gerechnet, dass ich hier sitze und so viele Leute meinen Namen kennen", erzählte Niemeier in diesen für sie so aufregenden Tagen, die sie ins Rampenlicht der Tenniswelt und ein gutes Stück darüber hinaus bugsierten.
Niemeier: Von Offenbach nach Regensburg
Dass nicht so viele Leute ihren Namen kannten, dürfte eine ziemlich realistische Einschätzung der Aufsteigerin sein, die ausgerechnet beim bekanntesten und traditionsreichsten Tennisturnier der Welt erstmals auf ganz großer Bühne von sich Reden macht.
Passend dazu: Auf Niemeiers Profil-Seite der Spielerinnen-Vereinigung WTA befindet sich unter dem Stichpunkt "Karriere-Highlights" noch ein leeres Feld. Bereits jetzt ist aber klar: Das wird sich nach Wimbledon ändern.
Mit dem Tennisspielen begann die Westfälin im Alter von drei Jahren. Ab ihrem 15. Lebensjahr trainierte sie in Offenbach an der Tennis-University von Ex-Profi Alexander Waske. Ihr Debüt auf der WTA-Tour feierte sie 2019 im Alter von 18 Jahren dank einer Wildcard beim Turnier in Nürnberg. Dann warf sie eine Schulterverletzung zurück.
Im vergangenen Jahr folgte der Wechsel nach Regensburg an die Tennis-Akademie von Michael Geserer, der einst mit Julia Görges erfolgreich zusammenarbeitete. Dort kümmerten sich Coach Christopher Kas und Physiotherapeut Florian Zitzelsberger um Niemeier. Rang 94 war Anfang Mai ihre bisher beste Platzierung, nach Wimbledon reiste sie als Nummer 97 der Welt.
Rittner traut Niemeier Top 20 zu
Bundestrainerin Barbara Rittner hält große Stücke auf Niemeier: "Sie ist eine sehr intelligente Spielerin und hat ein unglaubliches Händchen. Jule besitzt alle Waffen für eine Spitzenspielerin. Ich traue ihr die Top 20 in der Welt zu."
Die Stärke der 1,78-Meter-Frau: die Power, die sie vor allem mit der Vorhand und ihrem Aufschlag generieren kann. Der schnelle Rasen von Wimbledon kommt ihrem Spielstil entgegen wie kein anderer Belag.
Dazu wirkt sie in ihrem jungen Alter mental schon erstaunlich gefestigt. Den Trubel um ihre Person lässt sie gar nicht erst an sich heran. Von Nervosität auf dem Platz ist nach außen hin wenig zu sehen. Jüngstes Beispiel: Ihr schnörkelloser Achtelfinalsieg gegen Heather Watson – 6:2, 6:4 gegen eine Lokalmatadorin auf dem größten Platz der Anlage, auf dem sie zum ersten Mal spielen durfte. Da hätte man im Match durchaus mal nervös werden können. Nicht aber Niemeier.
Kas: "Das ist natürlich schon geil alles"
Ihr Trainer, Ex-Doppelspezialist Christopher Kas, sagt im t-online-Interview begeistert über seinen Schützling: "Es ist natürlich alles sehr aufregend, ständig gibt es ein 'first, first, first'". Zum ersten Mal Wimbledon, zum ersten Mal Centre Court, zum ersten Mal im Viertelfinale bei einem Grand Slam – das ist natürlich schon geil alles."
Doch auch ansonsten ist Niemeier sehr bei sich. Was über sie in diesen Tagen geschrieben und gesagt wird, tangiere sie nach eigener Aussage wenig. "Ich versuche, das auszublenden, weil mich das wirklich nicht interessiert", so Niemeier. "Ich habe mir noch keinen einzigen Artikel durchgelesen."
In Wimbledon wird sie umgerechnet mindestens 360.000 Euro Preisgeld kassieren. Das sind rund 30.000 Euro mehr, als sie in ihrer gesamten bisherigen Karriere erspielt hat. Ein Meilenstein. Zumindest finanzieller Art. Denn in Sachen Weltranglistenplatzierung wird sie trotz ihres Fabellaufes keinen Sprung in Richtung Top 50 machen können. In Wimbledon werden nach dem Ausschluss der russischen und belarussischen Sportler keine Punkte für das Ranking gutgeschrieben.
Am heutigen Dienstag trifft Niemeier im Viertelfinale auf Landsfrau Tatjana Maria. Noch so eine bemerkenswerte Geschichte. Auch Zweifach-Mama Maria, mittlerweile 34, kam noch nie so weit in Wimbledon. Gespielt wird um 14 Uhr auf Court 1, dem zweitgrößten an der Church Road. Möglich, dass Niemeier nach dem Match noch mehr Nachrichten aus Dortmund erhält.