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Biathletin Häcki-Groß über Essstörung: "Komplett die Kontrolle verloren"


Biathletin Häcki-Groß über Essstörung
"Niemand wusste, wie extrem es wirklich ist"

  • T-Online
InterviewVon Alexander Kohne

Aktualisiert am 11.03.2023Lesedauer: 6 Min.
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Lena Häcki-Groß: Die Biathletin ist seit 2014 im Weltcup am Start.Vergrößern des Bildes
Lena Häcki-Groß: Die Biathletin aus der Schweiz ist seit 2014 im Weltcup am Start. (Quelle: Petr David Josek)

Essstörungen sind im Profisport ein Tabuthema. Biathletin Lena Häcki-Groß ging dennoch mit ihrem Problem an die Öffentlichkeit – mit einem besonderen Hintergedanken.

Essstörungen sind im Profisport an der Tagesordnung. Laut Professor Wilhelm Bloch sind bis zu zwanzig Prozent aller Athleten betroffen. Öffentlich spricht fast niemand darüber. Nach den Enthüllungen von Miriam Neureuther und Kim Bui ist das Thema aber präsent wie nie.

Lena Häcki-Groß machte ihre Essstörung vor einem Jahr öffentlich – als erste Biathletin überhaupt. Anders als Neureuther ist die Schwiegertochter der deutschen Biathlon-Legende Ricco Groß noch aktiv und kämpft täglich mit den Symptomen.

t-online: Frau Häcki-Groß, wann haben Sie gemerkt, dass Sie eine Essstörung haben?

Lena Häcki-Groß: Relativ spät. Ich hatte jahrelang das Gefühl, bei meiner Ernährung einfach nicht konsequent genug zu sein – und mir immer wieder große Vorwürfe gemacht. Deshalb habe ich sehr wenig gegessen und dann regelrechte Fressanfälle bekommen. Das nennt sich Binge Eating und wurde als Essstörung vor etwa zwei Jahren diagnostiziert.

Wie sah die Binge-Eating-Störung bei Ihnen aus?

Ich habe versucht, schnell viel Gewicht zu verlieren und mich dazu gezwungen, tagelang fast gar nichts zu essen. Irgendwann macht der Körper das nicht mehr mit und es kommt zu regelrechten Fressattacken. Ich habe komplett die Kontrolle verloren und einfach alles gegessen, was da war. Manchmal habe ich an einem Abend den kompletten Kühlschrank leer gefressen.

Lena Häcki-Groß

Die 1995 geborene Schweizerin ist seit 2014 im Biathlon-Weltcup dabei. Häcki-Groß landete dabei mehrfach auf dem Podium und holte drei WM-Medaillen bei den Juniorinnen. Sie ist mit dem deutschen Biathleten Marco Groß verheiratet.

Normalen Menschen sieht man das meistens schnell an. Bei Profisportlern ist es anders, denn das intensive Training verhindert, dass man drastisch zunimmt. Mein Gewicht hat extrem geschwankt, teilweise um bis zu fünf Kilogramm pro Monat – und das bei 1,65 Metern Körpergröße. Oft sagt man, das ist wie eine Bulimie, aber ohne sich zu übergeben.

Wie hat sich das im Alltag geäußert?

Aufs Frühstück habe ich meistens verzichtet, bei Mittag- und Abendessen nur halbe Portionen gegessen und während des Trainings ausschließlich Wasser getrunken. So habe ich schnell abgenommen. Allerdings wurde die Trainingsqualität immer schlechter, weil der Körper bei intensiver Belastung förmlich nach Kalorien schreit.

Wie hat Ihr Körper darauf reagiert?

Mein Körper hat sehr darunter gelitten. Besonders bei morgendlichen Einheiten war mir oft schwindlig. Dazu ist der Puls in die Höhe geschossen und ich habe mich komplett kraftlos gefühlt. Es hört sich im Nachhinein wahrscheinlich grotesk an, aber mit meinem Essverhalten habe ich das erst mal gar nicht verbunden – eher mit der allgemeinen Erschöpfung nach intensivem Training. Ich war so gefangen in der Situation, dass ich das selbst nicht mehr erkannt habe.

Dennoch haben Sie im Weltcup Spitzenplatzierungen geholt. Wie war das möglich?

Indem mein Körper immer wieder die Notbremse gezogen hat, was sich in den Fressattacken geäußert hat. Diese gingen teilweise über mehrere Tage, in meinen schlimmsten Phasen sogar Wochen. So habe ich Gewicht zugelegt und davon eine gewisse Zeit gezehrt. Die Attacken und deren Ausprägung wurden immer extremer.

Rein sportlich kommt ein besonderer Effekt dazu: Wenn der Körper schnell Gewicht verliert, ist man kurzzeitig schneller unterwegs, weil man annähernd die gleiche Muskel-, aber weniger Fett- und Wassermasse mit sich rumträgt. In diesen Momenten war ich richtig gut – bis auch die Muskelmasse abgenommen hat. So kam es zu extremen Leistungsschwankungen.

Haben Ihre Trainer und Teamkolleginnen nichts gemerkt?

Mir ist lange gelungen, das einigermaßen zu verstecken – vor allem die Phasen mit Fressattacken. Dafür habe ich mich extrem geschämt. Die Gewichtsschwankungen sind meinen Trainern natürlich aufgefallen und sie haben mich mehrfach darauf angesprochen. Aber niemand wusste, wie extrem die Situation wirklich ist.

Sie berichten auch davon, dass Trainer Sie aufforderten, Gewicht zu verlieren, um schneller zu laufen. War das der Auslöser Ihrer Essstörung?

Da haben mehrere Sachen hineingespielt. Ich habe von der Figur her nie der optimalen Biathletin entsprochen. Darauf wurde ich oft hingewiesen. Deshalb habe ich versucht, meinen Körper immer mehr zu optimieren. Nachdem ich Gewicht verloren hatte, fühlte ich mich erst einmal besser. Das spornt an, noch mehr Gewicht zu verlieren. So ist ein Teufelskreis entstanden, in den ich immer tiefer hineingeraten bin.

Das Verhalten Ihrer Trainer scheint kein Einzelfall gewesen zu sein. Miriam Neureuther berichtet, dass sie selbst nach einem WM-Titel schief angesehen worden sei, wenn sie ein Stück Kuchen gegessen habe. Sollten Trainer für das Thema anders sensibilisiert werden?

Bei einigen würde das sicher helfen, aber es handelt sich nicht nur um ein Trainerproblem. Natürlich bin ich auch wegen solcher Kommentare in die beschriebene Spirale hineingeraten. Das war aber nicht der einzige Grund. Ich habe selbst gesehen, dass ich nicht unbedingt der Biathlonnorm entspreche – und hatte als Sportlerin den Ehrgeiz, das soweit möglich zu ändern. Der Umgang damit ist für Trainer eine schwierige Gratwanderung.

Wie sind Sie dem zuvor beschriebenen "Teufelskreis" entkommen?

Irgendwann kam meine jetzige Trainerin ins Team. Sie war die Erste, die gesagt hat: "Hey, glaubst Du nicht, dass Du da ein Problem hast?" Als wir darüber redeten, habe ich selbst realisiert, dass ich professionelle Hilfe brauche. Aber so richtig wahrhaben wollte ich es nicht. Wie gesagt: Man ist so gefangen in der Situation und denkt immer, dass man es selbst noch irgendwie hinbekommt. Nach der Saison 2020/21 ging es mir dann richtig schlecht. Mein Gewicht schwankte so stark wie nie zuvor und nach einer Fressattacke war ich kurz davor, mich zu übergeben. Da habe ich mir selbst gesagt "So kann es nicht weitergehen!" und psychologische Hilfe gesucht.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Ich bin mit der Therapie noch nicht ganz durch, aber es geht mir schon viel besser. Der erste und wichtigste Schritt war, mein Selbstwertgefühl wieder aufzubauen und mit mir zufrieden zu sein. Ich mache mir nicht mehr lauter Vorwürfe, wenn ich wieder eine Fressattacke habe – was glücklicherweise sehr, sehr selten geworden ist – oder eine größere Portion beim Mittagessen nehme. Körperlich fühle ich mich viel wohler und habe wieder Spaß am Training. Das schlägt sich in den Ergebnissen nieder (zehn Top-Ten-Plätze allein im Jahr 2022, Anm. d. Red.).

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Was das Essen betrifft, bin ich in der besten Phase, die ich je hatte. Es dreht sich nicht mehr alles nonstop darum. In den schlechten Phasen denkt man wirklich fast jede Minute übers Essen nach. Das kostet sehr viel Energie. Nun habe ich gelernt, wieder auf meinen Körper zu hören, und ich habe wieder ein echtes Hunger- bzw. Sättigungsgefühl. Das hatte ich lange Zeit nicht. Mein Mann Marco (der selbst Profibiathlet ist, Anm. d. Red.) hat mich sehr unterstützt. Er hat mir von Beginn an einfach zugehört und mich nicht verurteilt. Das hat extrem geholfen.

Ihre Essstörung begleitet Sie seit Jahren. Warum sind Sie damit im vergangenen Frühjahr an die Öffentlichkeit gegangen?

Ich habe mich mit dem Thema lange sehr allein gefühlt – so, als ob ich die Einzige weit und breit wäre, die dieses Problem hat. Aber es gibt viele Menschen, die davon betroffen sind – vor allem im Sport. Das wollte ich thematisieren, um Betroffenen Mut zu machen und vor allem junge Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Denn oft handelt es sich um einen schleichenden Prozess.

Wie waren die Reaktionen?

Mir haben sehr viele Menschen geschrieben – nicht nur aus dem Biathlon. Darunter waren zwei sehr junge Athletinnen, die sich mir mit ähnlichen Problemen geöffnet haben. Besonders ehemalige Sportler haben berichtet, dass sie viele Verhaltensweisen direkt wiedererkannt hätten. Profisport ist eben besonders anfällig, weil es darum geht, immer etwas zu optimieren. Essen ist da ein leichtes und naheliegendes Ziel.

Handelt es sich speziell im Biathlon um Einzelfälle oder liegt dem ein strukturelles Problem zugrunde?

Ich würde nicht sagen, dass es ein Riesenproblem ist. Aber es gibt schon einige Betroffene. Viele haben keine diagnostizierte Essstörung, sind aber auf dem Weg dahin – oder haben zumindest ein zwiegespaltenes Verhältnis zum Essen.

Sollten Sportverbände und Politik sich mehr um das Thema kümmern?

Ich würde es begrüßen, wenn mehr für das Thema sensibilisiert würde. Besonders im Hinblick darauf, an wen sich Betroffene wenden können – um vielleicht erst einmal anonym mit jemandem zu sprechen. Denn es fällt einfach schwer, diese Problematik zuzugeben. Das macht den Schritt einfacher.

Zum Abschluss: Sie sind zurück in der Weltspitze – was haben Sie sich sportlich noch vorgenommen?

In dieser Saison möchte ich im Gesamtweltcup noch ein Stück weiter nach vorne kommen. Mein großes Fernziel ist aber die WM 2025 in meiner Heimat Schweiz. Da möchte ich eine Medaille holen. Ein Jahr später sind die Olympischen Spiele. Dort einmal auf dem Podium zu stehen, wäre ein Traum.

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