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Visionen für Europa: Wie Emmanuel Macron eine europäische Öffentlichkeit herstellt


Sollte Macron zum Arzt gehen?


Aktualisiert am 06.03.2019Lesedauer: 4 Min.
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Emmanuel Macron mit seiner Frau Brigitte in einem Krankenhaus in Saint-Denis: Keine Sorge vor Visionen.Vergrößern des Bildes
Emmanuel Macron mit seiner Frau Brigitte in einem Krankenhaus in Saint-Denis: Keine Sorge vor Visionen. (Quelle: Charles Platiau/reuters)

Briefe in 22 Sprachen, Artikel in 28 Ländern: Emmanuel Macron hat Vorschläge für eine neue EU vorgelegt. Kann daraus mehr werden als Werbung für ihn selbst?

Eigentlich müssten Visionen in der Politik extrem beliebt sein. Wer Visionen formuliert, zeigt, dass er mehr ist als nur ein Sachwalter des grauen Alltags. Und wer über die Zukunft spricht, ist in der Gegenwart nicht direkt rechenschaftspflichtig. Trotzdem hat die Vision jedenfalls in Deutschland einen schweren Stand, was man an zweierlei erkennt: Am geflügelten Wort des Überpragmatikers Helmut Schmidt, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Zweitens daran, dass sie dann doch ziemlich selten ist.

Umso mehr fällt Emmanuel Macron auf, der immer wieder mit voller Entschlossenheit große Ideen formuliert. Ohne Angst vor Pathos an der Grenze zum Kitsch. Ohne Scheu, Begriffe wie "Stolz" zu verwenden und ins Risiko zu gehen.

Man kann das für Größenwahn halten, für übersteigerten Geltungsdrang, für überschießendes Sendungsbewusstsein. Vielleicht auch für Bauernfängerei. Man kann Macron empfehlen wollen, zum Arzt zu gehen. Man kann in seiner Art aber auch einen radikalen Pragmatismus sehen, weil Politik am Ende das ist, was von Visionen übrig ist, wenn die Realität mit ihnen fertig ist. Je mehr utopischer Überschuss auf dem Weg von Kopf zu Word-Dokument zu Ministervorlage weggescheuert werden kann, desto größer die Chance, dass am Ende überhaupt etwas übrig ist.

Macron fährt nicht schlecht damit

So machten es einst sozialdemokratische Utopisten, dann grüne Utopisten, so machen es jetzt rechtsextrem-reaktionäre Utopisten. Auch Macron fährt bislang nicht schlecht damit.

Schon seine Bewegung En Marche war ein ungemein kühnes Projekt. Am Ende marschierte Macron durch sie in den Élysée-Palast. Er ist Präsident Frankreichs, seine Nicht-Partei-Partei stärkste Kraft im Parlament, während die Sozialistische Partei in Auflösung begriffen ist.

Dann hielt er seine berühmte Rede in der Sorbonne, forderte grundlegende Veränderungen in der EU. Schlug unter anderem einen neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vor. Die Kanzlerin zog mit, im Januar unterzeichneten beide den Aachener Vertrag. Von einer europäischen Armee ist die Union weit weg, aber die Idee wird doch immer wieder ernsthaft diskutiert. Da ist einer wild entschlossen, seine Zeit an der Macht zu nutzen.

Neuer Brief – weil Europa in Gefahr sei

Jetzt, wenige Monate vor den Europawahlen, legt Macron also nach. "Für einen Neubeginn in Europa" steht über seinem offenen Brief an alle Europäer. "Bürgerinnen und Bürger Europas, wenn ich mir heute erlaube, mich direkt an Sie zu wenden, dann tue ich das nicht nur im Namen der Geschichte und der Werte, die uns einen, sondern weil dringend gehandelt werden muss. In wenigen Wochen wird die Europawahl über die Zukunft unseres Kontinents entscheiden. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr." Jetzt biete er an, "gemeinsam den Weg eines Neubeginns in Europa" zu betreten.

Das hat Macron in 22 EU-Sprachen übersetzen lassen und auf seine Website gestellt. In allen 28 EU-Staaten erschienen Gastbeiträge in Zeitungen. Es meldet sich ein Mann, der im Namen der Geschichte spricht, dem aber selbst das noch nicht genug ist.

Ist das arg dick aufgetragen? Sicher. Ist das Wahlkampf? Ohne Zweifel. Ist das so nah an dem, was Theoretiker gern "europäische Öffentlichkeit" nennen, wie nur irgendeine politische Kommunikation der vergangenen Jahre? Wahrscheinlich auch das.

Konkrete Forderungen

Muss Macron zum Arzt, weil er Visionen hat? Oder sind vielleicht die Fragen viel relevanter: Hat er Recht? Und hat er gute Ideen?

  • In seinem Brief an alle EU-Bürger fordert Macron eine Agentur zum Schutz der Demokratie vor Hackerangriffen und dem Informationskrieg.
  • Das Verbot für Parteien, sich durch "fremde Mächte" zu finanzieren.
  • Europaweite Regeln gegen Drohungen und Hate Speech im Internet.
  • Eine gemeinsame Grenzpolizei, eine europäische Asylbehörde.
  • Einen Verteidigungsvertrag und einen europäischen Sicherheitsrat.
  • Entschlosseneren Protektionismus zum Schutz europäischer Wirtschaften.
  • Eine soziale Grundsicherung und einen europaweiten, wenn auch angepassten Mindestlohn.
  • Eine eigene Klimabank, um den ökologischen Wandel zu finanzieren und einen klaren Plan für Nullemissionen bis 2050.
  • Eine neue Partnerschaft mit Afrika.
  • Ein Investitionsprogramm in Innovation und Technik, das mit den USA vergleichbar ist.
  • Mehr Kontrolle der Internetgiganten.
  • Schließlich ein neues Beteiligungsformat, eine "Europakonferenz", mit "Bürgerpanels" und Experten, die einen Fahrplan für Reformen festlegen soll. Auch Änderungen der EU-Verträge seien denkbar.

Das ist, egal, wie man dazu steht, alles wirklich mutig und entschlossen. Fast ist einem am Ende der Aufzählung wieder entfallen, was am Anfang stand. Dann hilft die Geste des Briefs an alle, die auch die Vergesslichen daran erinnert: Da will einer Großes.

In Frankreich ist Macron relativ unbeliebt, auch wenn seine Werte steigen, seit er sein Zuhörprogramm gestartet hat. Er hat sich auch krasse Schnitzer geleistet, Menschen von oben herab verächtlich gemacht und die sehr Reichen stärker von Abgaben entbunden als vielen vermittelbar war. Für ihn gilt deshalb auch aus Eigennutz: Ich trende, also bin ich (noch Präsident). Aber umgekehrt gilt eben auch für die europäische Öffentlichkeit: Er trendet, also bin ich. Mehr europäischer Wahlkampf wird vielleicht nicht mehr sein in diesem Jahr.

Trauen sich andere?

Das verweist allerdings auch wieder auf ein Problem: Macron tritt als Pater Europae auf, als Erster unter Gleichen, der seinen Brief mit "Emmanuel Macron" unterschreibt, ohne Berufsbezeichnung. Er macht ein Angebot an alle demokratischen Kräfte. Gleichzeitig zieht er mit den Liberalen in den Wahlkampf, wird mit ihnen eine Fraktion bilden. Er ist Bürger, Franzose, Präsident, aber auch Parteivertreter und Wahlkämpfer.

Entsprechend sortieren sich die ersten Reaktionen in Deutschland: Die FDP jubelt, SPD und Grüne sind angetan, die CDU schweigt weitgehend, die Linke reagiert ablehnend, die AfD feindselig. Kann da aus einer Vision mehr werden als ein Werbeprogramm für Macron?


Ab jetzt wird an der Vision gescheuert. Vielleicht bleibt am Ende Macron übrig, dessen Vision zerrieben wurde. Oder eine echte europäische Vision, von der nur das Etikett "Macron" abgerieben wurde.

Oder, visionäre Idee: Andere trauen sich, selbst Visionen zu formulieren.

Verwendete Quellen
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