Freigelassener Gefangener "Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Oleg Orlow war Teil des großen Gefangenenaustausches mit Russland. Jetzt warnt der Menschenrechtsaktivist vor den Folgen des Ukraine-Kriegs.
Es passierte alles recht plötzlich, erinnert sich Oleg Orlow. Der 71-Jährige saß im Gefängnis in der russischen Stadt Sysran nördlich der kasachischen Grenze eine zweieinhalb Jahre lange Haftstrafe ab, als ihm vor wenigen Wochen angeboten wurde, den russischen Präsidenten Wladimir Putin schriftlich um eine Begnadigung zu bitten.
Orlow lehnte ab. Bei Putin um Gnade zu bitten, "das ging gar nicht". Trotzdem verließ der Menschenrechtsaktivist wenig später die Haftanstalt und wurde ohne Angabe von Gründen in eine andere Haftanstalt nach Moskau gebracht. Doch Orlows Reise endete nicht dort: Denn in der russischen Hauptstadt wurde ihm gesagt, dass er auch ohne seine Bitte begnadigt und freigelassen werde. 20 Minuten später war er bereits auf dem Weg zum Flughafen, der ihn über die Türkei nach Deutschland brachte.
Seit dem vergangenen Freitag ist Orlow wieder frei. Er war Teil des großen Gefangenenaustausches mit Russland, bei dem insgesamt 16 Gefangene aus Russland gegen acht russische Staatsbürger getauscht wurden. Unter ihnen war auch der als "Tiergartenmörder" bekannt gewordene russische Agent Wadim Krassikow, der in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.
"Das passierte alles sehr unerwartet", sagt Orlow auf einer Pressekonferenz in Berlin am heutigen Mittwoch. Dabei spricht er durchgehend russisch und mit fester Stimme, eine Übersetzerin liefert die deutschen Entsprechungen nach.
Der 71-Jährige ist ein seit Jahrzehnten bekanntes Gesicht in der russischen Opposition – und hatte trotz seiner kritischen Worte nie die Absicht, seine Heimat zu verlassen. Sein Wille, so zeigt es sich auf dieser Veranstaltung, weiter gegen die russische Führung zu kämpfen, wurde auch in der Haft nicht gebrochen: Er will weiter für Menschenrechte in Russland kämpfen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Orlow auch seine Heimat vermisst.
Aufregung um Artikel
Ende der Achtziger gründete der gelernte Biologe mit anderen Mitstreitern die Nichtregierungsorganisation Memorial, die sich ursprünglich der Aufarbeitung des Stalinismus verschrieben hatte. Später wurde die Vereinigung zu einer der wichtigsten Stimmen für die Einhaltung von Menschenrechte in Russland – und geriet dadurch ins Visier des repressiven Regimes: 2021 wurde die Organisation in Russland verboten, im Ausland erhielt Memorial dagegen für seine Aktivitäten 2022 den Friedensnobelpreis.
Orlow selbst entschied sich trotz Repressionen, die sich mit Beginn des Ukraine-Kriegs weiter verschärften, für einen Verbleib in Russland. "Ich empfand, dass meine Stimme stärker ist, wenn ich in Russland bleibe." Wie stark sie war, sollte sich im November 2022 zeigen: Orlow hatte einen Artikel veröffentlicht, in dem er die russische Regierung für den Krieg in der Ukraine heftig kritisierte. "Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen", lautete der Titel.
"Bedrohung für ganz Europa"
Der Aktivist glaubt, dass seine Worte eine große Wirkung hatten, weil er sie eben aus Russland heraus veröffentlicht hatte, wo Kritik am Krieg in der Ukraine unter Strafe steht. Viele Passagen, die damals erschienen sind, seien heute noch aktuell, erklärt der Aktivist in Berlin: Orlow schrieb etwa von einem "blutigen Krieg" und dass Russlands Zukunft sich gerade auf den Schlachtfeldern der Ukraine entscheiden würde. Und der Text prognostiziert, was ein Sieg Putins bedeuten würde: "Sollte nun das faschistische Russland siegen, wird es nicht nur eine Bedrohung für die Sicherheit seiner Nachbarn, sondern für ganz Europa."
Infolge der Veröffentlichung wurde Orlow dann im Februar 2024 wegen Diffamierung der russischen Armee zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt. Zunächst saß er in Sysran in einer fünf mal fünf Meter großen Zelle mit elf anderen Häftlingen, Schlafplätze gab es dort allerdings nur für zehn Personen. Später wechselte er in eine vier mal zwei Meter große Zelle, die er sich nur noch mit einem weiteren Gefangenen teilen musste.
Folter habe er weder an sich noch an anderen Häftlingen erlebt. Allerdings habe seine Organisation stichhaltige Hinweise dafür, dass vor allem ukrainische Gefangene in Russland unter sehr schweren Haftbedingungen und Folter leiden. Davon bekomme man in den Haftanstalten allerdings kaum etwas mit, da Gefangene aus dem Land isoliert gefangen gehalten werden.
"Einzige Folter"
Orlow betont, dass im Vergleich zu ihm viele Häftlinge in Russland deutlich schlechter behandelt worden seien. Ein Beispiel sei der Kremlkritiker Wladimir Kara-Mursa, der ebenfalls durch den Austausch freigekommen war: Orlow nennt seine Haftbedingungen eine "einzige Folter". Kara-Mursa habe etwa seine Strafe größtenteils in Isolation ohne große Bewegung im Sitzen verbracht. Im April 2023 war der 42-Jährige wegen seiner Kritik am Ukraine-Krieg zu 25 Jahren Straflager verurteilt worden.
Jetzt, in Freiheit und auf deutschem Boden, denkt Orlow nicht daran, seine Aktivitäten für Memorial einzustellen: Er werde weiterarbeiten, es sei trotz der russischen Anstrengungen nicht möglich, Memorial zu zerstören. Unter anderem plane er jetzt, sich für weitere Gefangenenaustausche starkzumachen. Entsprechende Ideen habe er bereits mit anderen ehemaligen Gefangenen auf dem Flug von Ankara nach Deutschland ausgetauscht. Allerdings wolle er nicht ins Detail gehen, um weitere Deals nicht zu gefährden: "Ideen haben wir, das ist alles, was ich sagen kann."
Traum von der Rückkehr
Mit seinem neuen Leben in Deutschland fremdelt der Aktivist allerdings. Er habe nie geplant, auszuwandern oder in einem anderen Land zu leben, verrät er den Journalisten. Die Rolle des Immigranten falle ihm "sehr schwer". Allerdings wolle er sich damit arrangieren. Denn eine Rückreise sei aktuell nicht möglich: Wegen seiner erneuten Kritik würde er gleich weitere Prozesse auslösen. Der ehemalige Präsident Dmitri Medwedew hat bereits gedroht, er und die anderen Gefangenen sollen sich auch im Ausland nicht zu sicher fühlen. Darauf angesprochen, zeigt sich Orlow allerdings unbeeindruckt: Medwedew habe schon so viele Dummheiten gesagt, dass man ihn eigentlich nicht mehr ernst nehmen sollte.
Trotz allem, was passiert ist, bleibt die russische Heimat aber für Orlow ein Sehnsuchtsort: Als er in Haft von der Freiheit geträumt habe, habe er immer von einer Freiheit in Russland geträumt. Und wenn er könnte, würde er gleich morgen wieder dorthin zurückgehen. Für den Moment bleibe aber nur das Leben im Exil.
- Eigene Recherche und Beobachtungen