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Ermordete Holocaust-Überlebende: Nach 75 Jahren holte sie der Judenhass ein


Ermordete Holocaust-Überlebende
Nach 75 Jahren holte sie der Judenhass ein

Von t-online, js

Aktualisiert am 27.03.2018Lesedauer: 5 Min.
Herzen und ein Foto von Mireille Knoll an der Tür ihrer Wohnung: Wurde sie aus Judenhass ermordet?Vergrößern des BildesHerzen und ein Foto von Mireille Knoll an der Tür ihrer Wohnung: Wurde sie aus Judenhass ermordet? (Quelle: dpa)
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In Paris geboren, aus Paris vertrieben, in Paris ermordet – weil sie Jüdin war, vermutet die Staatsanwaltschaft: Wer war Mireille Knoll, die 85-Jährige, die tot in ihrer Wohnung gefunden wurde?

Am 23. März fand die Pariser Feuerwehr die 85-jährige Mireille Knoll tot in ihrer Wohnung. Mit elf Messerstichen im Körper und verbrannt. Sie hatte als Jüdin die Schoah überlebt und den Zweiten Weltkrieg. Jetzt wurde sie ermordet. Die zuständige Staatsanwaltschaft vermutet Antisemitismus als Motiv.

Fragen, die sich stellen: Wer tötet eine alte Dame, die den Holocaust überlebte? Und warum? Darauf müssen die Ermittlungsbehörden Antworten finden. Zwei Männer werden derzeit verdächtigt, Knoll getötet zu haben. Ein Nachbar, den sie kannte, seit er sieben Jahre ist. Und ein Krimineller, der als Judenhasser bekannt sein soll. Beide sind bereits als gewaltbereit aufgefallen.

Eine andere Frage lautet: Warum reden wir über die Täter, nicht die Opfer? Und also: Wer ist diese Frau, die vor 75 Jahren in ihrer Heimatstadt Paris knapp dem mörderischen Hass ihrer Nachbarn entkam, und die jetzt, im Alter, als gebrechliche Frau, in ihrer Heimatstadt Paris mutmaßlich von einem ihrer Nachbarn getötet wurde? Darauf werden Familienmitglieder und Freunde der Toten Antworten geben – einige gibt es bereits.

Schließlich drängt sich die Frage auf: Wie kann das sein, heute, in Paris? Im 21. Jahrhundert? In Frankreich, wo die größte jüdische Gemeinde Europas lebt? Darauf muss die Gesellschaft Antworten finden.

Geboren in Paris

Knolls Leben lässt sich aus Informationen, die zurzeit öffentlich zugänglich sind, nur bruchstückhaft rekonstruieren. Einer ihrer Söhne reagierte bisher nicht auf eine schriftliche Anfrage. Im Netz finden sich keine Hinweise auf ihr Leben, nur auf ihren Tod. Offenbar war sie keine öffentliche Figur, keine, über die Zeitungen berichtet hätten. Im Netz finden sich keine Hinweise auf 73 Jahre Leben, auf Hobbys, auf Freunde und Freuden. Nur auf ihren Tod.

Bekannt ist: Sie wurde 1932 in Paris geboren, in der Zeit der Dritten Republik. In Italien herrschte da bereits seit zehn Jahren Benito Mussolini, der Erfinder des Faschismus. In Frankreich war es faschistischen Gruppen wie der Croix de Feu nicht gelungen, wirklich Einfluss zu gewinnen.

Über Knolls Familie ist derzeit nichts bekannt, doch ihre Mutter soll einen brasilianischen Pass besessen haben. Der rettete Mireille Knoll französischen Medien zufolge womöglich das Leben.

Deutscher Einmarsch und Flucht

Denn im Juni 1940, da war Knoll sieben oder acht Jahre alt, fiel die deutsche Wehrmacht in Paris ein. Von da an hielt das nationalsozialistische Deutschland Nordfrankreich und die Atlantikküste im Westen besetzt. Im Süden, in der "Freien Zone", errichtete der Marschall Philippe Pétain ein Kollaborationsregime. Ein wirklich freies Frankreich gab es nicht mehr, Sicherheit für Juden nur im Exil. Die Deportationen begannen.

Am 16. und 17. Juli 1942 trieben Gestapo und SS, aber auch französische Polizisten 13.152 Pariser Juden zusammen, darunter mehr als 4.000 Kinder, Kinder wie Mireille Knoll. Die meisten pferchten sie im Vélodrome d'Hiver ein, einem Stadion für Radrennen. Insgesamt verschleppten Besatzer und Kollaborateure während des Zweiten Weltkriegs 73.000 Juden aus Frankreich, etwa 42.000 von ihnen nach Auschwitz. Alleine aus dem Vel' d'Hiv' wurden ungefähr 10.000 Juden in das Vernichtungslager gebracht. Kaum jemand überlebte.

Portugal, Exil zum Trotz

Hätte Mireille Knoll Paris nicht rechtzeitig verlassen, auch sie wäre wahrscheinlich deportiert worden. Doch sie floh wenige Tage vor den Razzien mit ihrer Mutter in den Süden, die Freie Zone, die nicht frei war. Der brasilianische Pass soll geholfen haben.

Aus dem Vichy-Frankreich ging es weiter nach Portugal. Dort regierte zwar ein rechter Diktator, Antonio de Oliveira Salazar, der Juden nicht im Land haben wollte, sich aber auch nie offen mit den faschistischen Achsenmächten verbündete. So wurde Portugal am Rand Europas für viele Verfolgte ein Exil zum Trotz.

Ihr Mann hatte Auschwitz überlebt

Nach dem Krieg kehrte Knoll nach Paris zurück, wann genau, ist nicht bekannt – in so etwas wie ein normales Leben. Ihr Mann war einer der wenigen, die Auschwitz überlebten. Sie bekamen Kinder, mindestens zwei: Zwei Söhne haben seit dem Mord französischen Medien Interviews gegeben. Der Mann starb irgendwann zu Beginn des Jahrtausends. Seitdem lebte Knoll allein.

Die Erfahrung von Krieg und Flucht habe sie immer beschäftigt, erzählte einer der Söhne. Aber sie habe stets versucht, das Leben zu genießen. "Sie hat es geliebt, zu leben", sagte er. Ein Nachbar berichtet, sie sei freundlich und unauffällig gewesen. "Sie war ein extrem unaufdringlicher Mensch." Ein Foto, das eine nach Israel ausgewanderte Enkelin auf Facebook veröffentlichte, zeigt sie mit ihrer Großmutter. In den letzten Jahren ihres Lebens war Knoll wenig mobil. Ein Sohn erzählte, sie sei an Parkinson erkrankt gewesen und gepflegt worden.

Ein ganzes Leben in einem Viertel

Zuletzt lebte Knoll in einer Sozialwohnung im 11. Arrondissement, einem belebten und beliebten Pariser Viertel. Dort soll sie ihr ganzes Leben verbracht haben, so erzählte es jedenfalls einer ihrer Söhne. Dort wurde sie jetzt getötet.

Die genauen Umstände von Knolls Tod sind noch nicht bekannt. Dass der Täter wirklich aus Judenhass mordete, ist derzeit eine Vermutung. Es wird weiter ermittelt. Klar ist, dass Antisemitismus und antisemitische Gewalt in Frankreich nach wie vor verbreitet sind. Antisemitismus war nie weg aus Europa. Er ist ein Teil Europas, im 21. Jahrhundert ebenso wie im 20. Jahrhundert.

In einem Facebook-Post schrieb eine zweite Enkelin, die auch in Israel lebt: "Vor 20 Jahren habe ich Paris im Wissen verlassen, dass ich dort keine Zukunft haben würde. Weder ich noch das jüdische Volk."

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Gewalt nimmt wohl zu

Einiges deutet darauf hin, dass die Gewalt gegen Juden seit Jahren eher zunimmt, auch wenn es wirklich verlässliche Statistiken nicht gibt, weil Hasskriminalität schwer zu zu messen ist und selten angezeigt wird. Doch Verbände und Beobachter warnen seit Jahren, die Situation werde schlimmer. Dazu trägt das Erstarken der extremen Rechten bei, auch wenn Marine Le Pen ihrer Partei offenen Antisemitismus versagt hat. Dazu trägt vor allem auch der Islamismus bei. In den vergangenen Jahren haben Islamisten immer wieder Juden ermordet.

Wie gefährlich es für Juden auch heute in Frankreich ist, zeigte sich zuletzt gleich zweimal ganz in der Nähe von Mireille Knolls kleiner Wohnung.

Ebenfalls im 11. Arrondissement liegt das Bataclan, jener Konzertsaal, in dem im November 2015 islamistische Terroristen 90 Menschen erschossen. Er gehörte einst Juden und war immer wieder Ziel antisemitischer Angriffe. Auch Sarah Attal-Halimi lebte im 11. Arrondissement, eine 65-jährige Jüdin. Sie wurde von einem islamistischen Nachbarn gefoltert, vom Balkon gestoßen und getötet. Vor fast genau einem Jahr.

Verwendete Quellen
  • dpa, AFP
  • Bericht in "L'Express" (Französisch)
  • Bericht in "Le Monde" (Französisch)
  • Bericht in der "Jüdischen Allgemeinen"
  • Bericht auf "Ici.fr" (Französisch)
  • Bericht über Knolls Leben auf "Ici.fr" (Französisch)
  • Bericht über Antisemitismus in Frankreich im "Deutschlandfunk"
  • Bericht über antisemitische Angriffe auf das Bataclan im "Stern"
  • Bericht über Portugals als Exil-Ort im Zweiten Weltkrieg im "Deutschlandfunk"
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