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Russland: Gewalt gegen Frauen – Die Russinne kämpfen gegen ihre Männer


Erniedrigt, missbraucht, getötet
Russinnen kämpfen gegen brutale Ehemänner und den Staat

dpa, t-online, Ulf Mauder, Rebekka Wiese

14.12.2019Lesedauer: 4 Min.
Ein Mann schnitt seiner Frau die Hände ab: Ein Fall aus 2018 zeigt die Brutalität von häuslicher Gewalt in Russland.Vergrößern des BildesEin Mann schnitt seiner Frau die Hände ab: Ein Fall aus 2018 zeigt die Brutalität von häuslicher Gewalt in Russland. (Quelle: Reuters-bilder)
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Die größte Gefahr ist für viele Russinnen der eigene Ehemann: Tausende Frauen sterben jedes Jahr durch häusliche Gewalt. Jetzt haben sie genug – und wehren sich. Doch ihre Feinde sind mächtig.

An dem Tag, an dem Margarita Gracheva ihre Hände verliert, liegt Schnee. Es ist Dezember 2017, Gracheva und ihr Ehemann fahren in den Wald. Zwischen den Bäumen nimmt Grachevas Mann eine Axt und hackt der jungen Frau die Hände ab.

Es ist der grausame Höhepunkt einer monatelangen Serie von Gewalt, die Gracheva erleiden muss. Und es ist der Moment, in dem sich etwas ändern soll – für Gracheva, aber auch für das Land, in dem sie lebt: für Russland, wo jährlich rund 14.000 Frauen durch ihre gewalttätigen Partner sterben.

Die Geschichte von Margarita Gracheva sehen Sie oben bei uns im Video

Es gibt kaum ein Thema, das die Gesellschaft derzeit so heiß diskutiert wie häusliche Gewalt. Die trifft auch Kinder: 2.000 Todesopfer gebe es jährlich, hebt die Punkband Pussy Riot in einem Videoclip hervor. Die Täter? Männer, die im Suff und aus Frust über ihr schweres Leben zuschlagen, zutreten und töten. Meist kommen sie ohne Mordanklage davon, wie russische Medien berichten. Männer behandelten ihre Frauen in Russland oft wie Eigentum, beklagt die Bewegung Nasiliu.net ("Nein zur Gewalt"). In den letzten 30 Jahren habe es mehr als 40 Gesetzesvorhaben dazu gegeben: alle gescheitert.

Oxana Puschkina kämpft dafür, dass es diesmal anders kommen könnte. Sie will Russlands erstes Gesetz gegen häusliche Gewalt schaffen. Dafür bekommt die Starjournalistin Morddrohungen, stapelweise. "Wir kämpfen hier gegen machthungrige Menschen mit viel Geld, die das Vorhaben stoppen wollen", sagt die 56-jährige Parlamentsabgeordnete.

Viele Frauen melden sich bei der Polizei – vergeblich

"Er schlägt dich, also liebt er dich" – "Bjot, snatschit ljubit": So lautet ein alter zynischer Spruch, mit dem viele Russinnen aufwachsen. Damit müsse Schluss sein, fordern nicht nur die Aktivistinnen von Pussy Riot. Frontfrau Nadja Tolokonnikowa sagt, dass jede Frau, die getötet werde, sich vorher mindestens einmal an die Polizei gewandt habe. Auf Hilfe können sie aber nicht hoffen. Die Beamten haben keine gesetzliche Handhabe bisher.

40 Prozent aller Verbrechen werden dem russischen Innenministerium zufolge zu Hause verübt, 93 Prozent davon gegen Frauen. International für Entsetzen sorgte 2017 ein neues russisches Gesetz, das Schläge in der Partnerschaft entkriminalisiert. Die ersten Prügelattacken, die schon tödlich enden können, werden demnach nur wie eine Ordnungswidrigkeit geahndet – mit Geldstrafen etwa. Erst Wiederholungstäter müssen sich nach dem Strafrecht verantworten.

Gracheva begann, ihre Geschichte zu erzählen

Auch die Frau, die ihre Hände verlor, kämpft dafür, dass sich das ändert. Eine ihrer abgetrennten Hände konnte Margarita Gracheva retten: Der Schnee konservierte die linke Hand – lang genug, damit Ärzte sie später wieder annähen konnten. Rechts trägt Gracheva nun eine Prothese. Sie brachte die 27-Jährige auf die Idee, ihrer Geschichte einen Namen zu geben: Unter dem Hashtag "TransformerMom" erzählte sie auf Instagram, was ihr geschehen war. Irgendwann wurden Medien darauf aufmerksam.

Dass die Presse sich so einig hinter Gracheva stellte, gilt als kleine Sensation in Russland. Denn die russische Regierung hat ihre Medien in fester Hand. Trotzdem stieß Grachevas Geschichte auf riesige Resonanz. Ein Verleger bot ihr an, ein Buch zu schreiben. Inzwischen ist Gracheva eines der prominentesten Gesichter Russlands, die sich gegen häusliche Gewalt stark machen.

Das neue Gesetz soll Frauen vor Mord und Gewalt schützen

Auch die Abgeordnete Puschkina sagt, dass inzwischen selbst anfängliche Befürworter erkannt hätten, wie gefährlich das Gesetz sei. Mit anderen Abgeordneten kämpft sie nun für das Gesetz, das Mord und Totschlag, Körperverletzung, sexuelle Gewalt, Erpressung und Stalking verhindern soll. Die Idee: Erstmals könnten Frauen oder Zeugen bei häuslicher Gewalt die Polizei rufen, um Unheil abzuwenden.

Puschkina will ein Gesetz wie in anderen Ländern. Nötig seien Frauenhäuser und Kontaktverbote für Männer. Doch gerade das macht sie in den Augen ihrer Kritiker zur "ausländischen Agentin", die westliches Verderben bringe.

Der russisch-orthodoxe Gläubige Andrej Kormuchin wettert im Staatsfernsehen, das Gesetz werde Familienleben in Russland zur Hölle machen. Der neunfache Familienvater warnt vor einem Untergang des Riesenreichs, wenn etwa Frauen und Kinder nicht mehr gezüchtigt werden können, damit sie spuren.

Gegen Puschkina gibt es eine Hetzkampagne

Seine orthodoxe Organisation Sorok Sorokow organisiert landesweit Proteste gegen "westliche Satanisten". Der Geistliche Dmitri Smirnow, im Moskauer Patriarchat zuständig für Familienbelange, wirft den Initiatoren vor, sie wollten einen Hebel schaffen, um Eltern ihre Kinder wegzunehmen und Schwulen und Lesben zu überlassen. Solche Adoptionen sind zwar verboten in Russland, trotzdem findet sich Puschkina auf einem Propagandaplakat als Ikone einer Regenbogenfamilie wieder.

"Die Propaganda wirkt leider. Es ist eine Kampagne, die mit viel Geld finanziert wird", sagt Puschkina vor dem Stapel mit Hetzschriften und Hassplakaten. Dass sie selbst als Vertreterin der Regierungspartei Geeintes Russland machtlos ist gegen die religiösen Fanatiker, macht sie wütend. "Diese Leute schrecken unter dem Deckmantel kirchlicher Absichten nicht einmal vor staatlichen Strukturen zurück", sagt sie.

Notwehr gegen den eigenen Mann gibt es nicht

Puschkina hat jahrelang im Fernsehen Sendungen für Frauen moderiert und hat immer wieder massenhaft Briefe mit persönlichen Schicksalen erhalten. "Deshalb habe ich mich für die Politik entschieden", sagt sie.

Die Zeitung "Nowaja Gaseta" berichtete, dass Frauen, die Widerstand leisteten, sich nicht auf Notwehr berufen könnten. Die Urteile ergingen immer wieder wegen Mordes. In über 90 Prozent der Fälle hätten Frauen ihre Partner mit dem Küchenmesser getötet. In Moskau warten gerade drei junge Schwestern auf ihren Prozess, weil sie ihren Vater nach jahrelangen Misshandlungen erstochen hatten.

Es gibt einen leichten Hoffnungsschimmer

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sieht einen gesellschaftlichen Wandel in Russland. Sie forderte die Initiatoren des historischen Gesetzes auf, sich nicht einschüchtern zu lassen. Puschkina ist entschlossen, weiter zu kämpfen für einen besseren Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt.

Erleichtert reagierte sie, als Regierungschef Dmitri Medwedew nun Handlungsbedarf einräumte. Medwedew sagte, der Mythos, Schläge seien ein Zeichen von Liebe, sei überholt und passe nicht mehr in das 21. Jahrhundert.

Gracheva weiß, dass sie Glück im Unglück hatte

Und auch die Geschichte von Margarita Gracheva endet mit einem Hauch von Gerechtigkeit: Ein Gericht verurteilte ihren Ehemann zu einer 14-jährigen Haftstrafe. Ohne die Aufmerksamkeit der Medien wäre das nie geschehen, glaubt Gracheva.

Eigentlich hat sie sich nie nach Öffentlichkeit gesehnt. Doch inzwischen weiß sie, dass sie genau so andere Frauen unterstützen könnte: "Wenn ich mein Gesicht zeigen muss, um mehr Aufmerksamkeit auf das Leid dieser Frauen zu lenken, dann soll es so sein."

Verwendete Quellen
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